Protokoll der Sitzung vom 27.10.2017

Werte Abgeordnete, ich bitte darum, die Plätze einzunehmen, damit wir beginnen können.

Sehr geehrte Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 37. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der siebenten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Sehr geehrte Damen und Herren! Wir setzen nunmehr die 17. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung mit den Themen der Aktuellen Debatte. Unter diesem Beratungsgegenstand liegen drei Themen vor. Die Redezeit beträgt je Fraktion zehn Minuten. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten.

Ich rufe auf:

Tagesordnungspunkt 6 a

Aktuelle Debatte

Zustand und Perspektiven der EU

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 7/2004

Hierzu wurde folgende Reihenfolge festgelegt: DIE LINKE, SPD, AfD, GRÜNE und CDU. Zunächst hat die Antragstellerin DIE LINKE das Wort. Ich bitte Herrn Gallert nach vorn. Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Danke. - Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle Debatte ist heute unter anderem dadurch motiviert, dass die Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich das Land unter den 28 innerhalb der Europäischen Union ist, das ein absolutes Alleinstellungsmerkmal hat.

Während in allen anderen europäischen Ländern, die Mitglied der Europäischen Union sind, das Verhältnis des Nationalstaates zur Europäischen Union und die Entwicklung der Union selbst massiv Gegenstand auch nationaler Debatten sind, haben wir hier die Situation, dass das in der Bundesrepublik Deutschland offensichtlich niemanden so richtig interessiert.

Beredetes Beispiel war jetzt erst die Bundestagswahl. Obwohl fast alle Themen, die da debattiert worden sind, unmittelbar davon beeinflusst sind, wie die Europäische Union funktioniert oder ob sie

nicht funktioniert, hat die Ebene Brüssel so gut wie überhaupt keine Rolle gespielt.

Offensichtlich sind wir immer noch der Meinung, dass uns das überhaupt nichts angeht, dass wir als Deutsche ohnehin die Größten dabei sind und ohnehin das machen, was wir wollen, und dass man eine nationale Debatte über die Europäische Union überhaupt nicht braucht. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein gewaltiger Irrtum. Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase und wir brauchen eine gesellschaftlich offene Debatte über die Zukunft der Europäischen Union.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Flankiert wird diese Situation noch dadurch, dass inzwischen ganz andere die entsprechende Initiative über die Entwicklung der Europäischen Union an sich gerissen haben. Aus Berlin kommt bestenfalls nichts. Juncker als Kommissionspräsident, aber auch der französische Präsident Macron haben sehr richtungsweisende Reden dazu gehalten und haben Vorschläge unterbreitet, wie aus ihrer Perspektive die Europäische Union aus der Krise kommen soll.

Allerdings - das sehen wir auch so - ist die Debatte, ob wir mehr oder weniger Europäische Union wollen und ob die Institution XY so oder so ausgestaltet werden soll, eine Debatte, die zurzeit auf einer nicht substanziellen und tönernen Grundlage stattfindet; denn wir müssen heute und in dieser Zeit überhaupt erst einmal darüber diskutieren: Welches sind eigentlich die Grundwerte der Europäischen Union,

(André Poggenburg, AfD: Richtig!)

welches sind denn die Ziele der Europäischen Union, wessen Interessen sollen durchgesetzt werden und wofür brauchen wir europäische Integration? - Diese Debatte wird zurzeit europaweit leider nicht geführt. Aber sie ist extrem wichtig. Wir haben eine Sinnkrise der Europäischen Union und deswegen müssen wir über den Sinn der Europäischen Union diskutieren, bevor wir über Geld reden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben eine Situation, in der mehr oder weniger immer noch ein Status quo akzeptiert wird. Die Europäische Union ist im Wesentlichen der Wächter des Binnenmarktes und muss nach außen hohe Mauern ziehen. Aber - das ist genau die Situation, die wir bereits bei der Brexit-Debatte hatten - das überzeugt die Leute nicht mehr. Für viele ist die Europäische Union eine Bedrohung zum Beispiel von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerinteressen. Für viele ist leider die Europäische Union auch eine Bedrohung für die öffentliche Daseinsvorsorge.

Wir brauchen eine Umkehr in dieser Debatte, um die Europäische Union in die Zukunft zu führen, um sie zu retten. Wenn wir diese Umkehr nicht schaffen, wird die Europäische Union zerfallen und sich gegenseitig bekämpfende Nationalstaaten das Bild des 20. Jahrhunderts in das 21. Jahrhundert transportieren. Und das ist eine Katastrophe, die es zu verhindern gilt, liebe Genossen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wenn selbst der EU-Kommissionspräsident

Juncker, der in seiner vorigen Funktion Ministerpräsident in Luxemburg war und dort halblegale und illegale Steuertricks organisiert und durchgeführt hat und damit auch der sozialen Struktur in Europa einen massiven Schaden zugefügt hat, inzwischen der Meinung ist, wir brauchten dringend eine soziale Säule in der Europäischen Union und es sei absurd, dass es in der Europäischen Union zwar eine Bankenaufsicht gebe, aber keine Institution, die Arbeitnehmerrechte überwache, dann wissen wir: Dort ist offensichtlich die Alarmanlage ausgelöst worden.

Hier in Deutschland merkt man gar nichts davon. Es gibt keine Reaktion der Bundesregierung und keine Reaktion der Landesregierung. Solche Initiativen müssen wir unterstützen, wenn wir die Europäische Union retten wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber es geht nicht nur um die soziale Säule. Es geht auch um ganz andere Themen. Es geht um das Problem, dass wir innerhalb der Europäischen Union inzwischen eine Situation haben, dass ganz grundlegende Werte, wie die Menschenwürde, die Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung und antirassistische Positionen, substanziell infrage gestellt werden.

Gerade im Kontext von Zuzügen und Migration haben wir in vielen Ländern der Europäischen Union inzwischen eine substanzielle Infragestellung ganz grundlegender Elemente dessen, was man mal als europäische Menschenrechtsbewegung bezeichnet hat. Wir haben Feindbilder und das Feindbild ist jetzt in erster Linie der Muslim; das Feindbild ist der Flüchtling aus dem arabischen Raum.

Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, diese Feindbilder kann man beliebig austauschen. Bei der Ukip in Großbritannien war es der polnische Gastarbeiter. Und wenn man kein Feindbild von außen hat, dann nimmt man eben eines von innen, wie zum Beispiel die Roma in der Slowakei oder in Tschechien. Diese Feindbilder sind austauschbar.

Wer an einer Stelle ein solches Feindbild zulässt, wie es zurzeit leider innerhalb der Europäischen Union der Fall ist, nämlich bei den Fragen von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum, der ent

leert den Sinn dieser Europäischen Union. Der entleert die Zukunft dieser Europäischen Union und der steuert direkt auf den Nationalismus als Geisel des 20. Jahrhunderts auch in diesem Jahrhundert zu.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt jemanden, der diese Bewegung innerhalb der Europäischen Union anführt. Das ist der Ministerpräsident Ungarns Viktor Orbán.

(Beifall bei und Zurufe von der AfD)

Erst vor drei oder vier Tagen - -

Dass das die große Ikone der AfD ist, ist überhaupt nicht verwunderlich.

(André Poggenburg, AfD: Eine der vielen! - Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Das ist genau das, was wir in dieser Debatte erwartet haben, und das ist das, Herr Haseloff, das Sie bei Ihren außenpolitischen Aktivitäten sehr genau beobachten sollten.

(Zustimmung bei der LINKEN - Lachen bei der AfD)

Erst vor Tagen sprach Orbán davon, Ost- und Mitteleuropa müssten zur migrantenfreien Zone einklärt werden.

(Zustimmung bei der AfD)

Wer ist dafür verantwortlich, dass es überhaupt Flüchtlinge gibt, die nach Europa wollen? - Das ist eine mysteriöse Finanzmacht, die die jüngste Völkerwanderung organisiert hat mit dem Plan, Europa zu einem Mischkontinent zu machen. - Das ist Viktor Orbán.

Wer ist übrigens diese mysteriöse Finanzmacht? - Die ungarische Regierung hat eine 18 Millionen € schwere Kampagne losgetreten gegen den ungarischen Juden George Soros, der inzwischen in den USA zu einem Finanzmagnaten geworden ist und der ausdrücklich zum Beispiel Roma-Institutionen unterstützt und der ausdrücklich den internationalen Studentenaustausch unterstützt. Der ist der Feind des Kollegen Orbán. Der ist Jude. Dann kann man alle Kriterien, die wir aus dem letzten Jahrhundert kennen, anwenden. Es gibt Plakate mit einem breit grinsenden hakennäsigen George Soros. Die werden überall auf Regierungskosten angehangen. Das ist der Feind, gegen den wir vorgehen müssen. Das ist die antisemitische Weltverschwörungstheorie. Und ein Ministerpräsident der Europäischen Union steht vorn an und propagiert die. Das ist zu verurteilen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Allerdings nicht für unseren Ministerpräsidenten. Der sieht das ganz offensichtlich anders. Wäh

rend Frau Merkel oder Herr Caspary aus der CDU-EP-Delegation Orbán noch kritisieren, sind der Kollege Haseloff und der Kollege Seehofer offensichtlich dort ohne jede Distanz.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Natürlich, man braucht Leute, die die Obergrenze erfüllen. Das ist die Debatte, die dahinter steht. Wir haben jetzt einen erst drei Tage alten Bericht der Institution „Ärzte ohne Grenzen“ erhalten, in dem steht, wie massiv Menschenrechtsverletzungen dort, vor allen Dingen an der serbisch-ungarischen Grenze, begangen werden. Dort werden Hunde auf Kinder gehetzt, um sie im wahrsten Sinne des Wortes wegzubeißen. Es werden Elektro-Teaser eingesetzt.

Zu allen diesen Dingen, Herr Haseloff, sind Sie von der „Budapester Zeitung“ befragt worden, als Sie dort Ihren Besuch gemacht haben. Da sagen Sie, man kann sich nun darüber streiten, was im technischen Vollzug alles zu berücksichtigen ist. Aber letztlich hat Ungarn der Europäischen Union mit der Schließung der Grenzen einen Dienst erwiesen. Des Beifalls der AfD können Sie sich sicher sein, liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber, Herr Haseloff, in der Grundwertedebatte um die Perspektive der Europäischen Union sind Sie ein Totalausfall. Das müssen wir Ihnen hier mit aller Deutlichkeit sagen.