Protokoll der Sitzung vom 19.12.2018

(Beifall bei der AfD)

Ich sehe keine Fragen und danke Herrn Lehmann für den Redebeitrag.

Wir kommen nunmehr zum Abstimmungsverfahren. Ich konnte den Vorschlag wahrnehmen, den Antrag zur federführenden Beratung in den Ausschuss für Ausschuss für Arbeit, Soziales und Integration und zur Mitberatung in den Ausschuss für Bildung und Kultur zu überweisen. Ist das richtig? - Dann stimmen wir darüber ab. Wer für die Überweisung des Antrages in die genannten Ausschüsse ist, den bitte ich um das Kartenzeichen. Das sind die Koalition, die AfD und ein fraktionsloser Abgeordneter. Wer stimmt dagegen? - Das ist DIE LINKE.

(Zurufe von der AfD: Die Linksextremisten! Die Linksextremen!)

Stimmenthaltungen? - Sehe ich nicht. Damit ist der Antrag in die Ausschüsse überwiesen worden. Der Tagesordnungspunkt 8 ist erledigt.

Wir kommen nun zum

Tagesordnungspunkt 9

Beratung

Soziale und solidarische Neuausrichtung der EU ist die Antwort auf wachsenden Nationalismus in Europa

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 7/3709

Alternativantrag Fraktionen CDU, SPD und

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 7/3740

Einbringer ist der Abg. Herr Gallert. Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie bereits im vorletzten Tagesordnungspunkt angedeutet, haben wir uns mit der Situation aneinanderzusetzen gehabt, dass wir den Austritt

eines wichtigen Mitglieds der Europäischen Union in irgendeiner Art und Weise perspektivisch managen müssen. Wir haben konsensual festgestellt: Auf jeden Fall werden alle daran Beteiligten Verlierer sein.

Jetzt, in der aktuellen Situation, in der wir uns befinden, müssen wir leider konstatieren, dass der Prozess, den wir mit der Situation Großbritanniens und der Europäischen Union zu verzeichnen haben, nicht abgeschlossen ist. Er kann sich leider bei weiteren - und zwar sehr, sehr wichtigen - Ländern der Europäischen Union wiederholen.

Die zentrale Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Welche Rahmenbedingungen, welche Voraussetzungen sind dafür verantwortlich, dass die Akzeptanz bezüglich der Europäischen Union bei den Menschen in ihren Mitgliedstaaten in den letzten zehn, 15 Jahren tendenziell eher gesunken ist? Warum müssen wir uns heute überhaupt mit der Gefahr der Erosion, ja des Auseinanderbrechens der Europäischen Union auseinandersetzen? Was sind die Ursachen dafür?

Dazu kann es für die jeweiligen Fraktionen durchaus unterschiedliche Herangehensweisen und unterschiedliche Analysen geben. Ich will aber auch ganz klar sagen: Für jeden von uns wäre es hilfreich, einmal in die Studie der Friedrich-EbertStiftung zu schauen, die in den letzten Tagen verbreitet worden ist. Es handelt sich um eine Umfrage unter 2 000 Deutschen unter anderem zu folgenden Themen: Wie sehen Sie die Europäische Union? Wie ist Ihre Erwartungshaltung gegenüber der Europäischen Union? Worin sehen Sie die größten Kritikpunkte bei der Europäischen Union?

Eine Frage lautet: Sind Sie der Meinung, dass die Europäische Union für Sie selbst und für Deutschland mehr Vorteile als Nachteile hat? - Diese Frage ist in den letzten Jahren mehrfach gestellt worden. Es hat sich - zumindest seit dem Brexit - immer eine relativ große Mehrheit von Menschen gefunden, die sie positiv beantwortet, die also gesagt haben: Wir sind ganz klar der Meinung, die Europäische Union hat für uns deutlich mehr Vorteile als Nachteile.

Es gibt allerdings bei der Umfrage der FriedrichEbert-Stiftung und bei allen anderen Umfragen immer einen Anteil von 30 bis 40 % der Menschen, die sagen: Vor- und Nachteile halten sich die Waage. Weitere 10 % sagen: Das kann ich nicht beurteilen. Es gibt also eine große Unsicherheit.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat diese Frage jetzt gestellt und die Ergebnisse sind alarmierend. Es gibt nämlich in der Bundesrepublik Deutschland nur noch eine knappe Mehrheit von Menschen, die diese Frage ausdrücklich positiv beantworten.

So sagen etwa 28 % der Menschen, die befragt worden sind, es habe klare Vorteile, in der Europäischen Union zu sein. Etwa 40 % der Menschen sagen, Vor- und Nachteile hielten sich die Waage. 25 % der Menschen sagen, es hat aus ihrer Perspektive mehr Nachteile, Mitglied der Europäischen Union zu sein.

Jetzt wird es interessant: Wer antwortet wie? Dazu gibt diese Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung eine kluge Analyse, sie fragt nämlich nach vier Einkommensgruppen innerhalb der Bevölkerung.

Diejenigen, die sich jemals mit dieser Situation beschäftigt haben, ahnen vielleicht schon: Es ist tatsächlich so: Je höher die Einkommen sind, umso stärker wird eine positive Einschätzung der Europäischen Union; je geringer die Einkommen sind, umso stärker wird die Europäische Union eher unter dem Aspekt des Nachteils abgebucht. Das heißt, vor allem Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen leben, Menschen, die in ihrem Lebensunterhalt auf soziale Sicherungssysteme angewiesen sind, empfinden die Europäische Union eher als Bedrohung. Menschen, die eher im oberen Einkommensbereich sind, die sozusagen Wettbewerbsvorteile auch für sich persönlich sehen, stimmen der Europäischen Union eher zu.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Befund aus der Bundesrepublik Deutschland, die in allen Umfragen die höchsten Zustimmungsraten zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat.

Jetzt will ich an zwei Beispiele herangehen, die das nicht in einem so relativ komfortablen Umfeld sehen. Das eine ist das Beispiel Italien. Dort gibt es inzwischen eine Regierungsmehrheit, die sich klar negativ und ablehnend gegenüber der Europäischen Union positioniert.

(Zustimmung)

Sie wird im Endeffekt aus der sogenannten FünfSterne-Bewegung, einer politisch eher indifferenten - manche sagen „populistischen“, aber auch dieser Begriff ist nicht sonderlich tragfähig - Bewegung, und der deutlich nationalistisch-ras

sistischen Positionierung der Lega - ehemals Lega Nord, jetzt nur noch Lega - gebildet. Das sind die beiden Regierungsparteien. Jetzt sehen wir uns einmal an, wie sich der Konflikt zwischen dieser Regierung in Italien und Brüssel positioniert.

Die Lega sorgt dafür, dass die Besserverdienenden, die Vermögenden und die Kapitalgesellschaften mit dem nächsten Haushaltsgesetz massiv entlastet werden. Das heißt, die Lega sorgt dafür, dass es massive Steuereinbrüche bei den Einnahmen innerhalb Italiens gibt. Das ist übrigens etwas, wozu sich schon die Vorgängerregierungen in Italien ausführlich positioniert haben.

Die Fünf-Sterne-Bewegung sorgt wiederum dafür, dass es einige wenige soziale Verbesserungen gibt und dass einige Reformen zuungunsten des sozialen Zusammenhalts, die die Renzi-Regierung vorher gemacht hat, ein Stück weit wieder zurückgenommen werden. Was ist das Ergebnis? - Das Ergebnis ist ein massives Haushaltsdefizit bei den italienischen Etatberatungen.

Jetzt kommt die Reaktion aus Brüssel. Was sollen sie machen? Brüssel sagt: Reduziert euer Haushaltsdefizit! Dazu gibt es verschiedene Debatten. Es gibt noch keinen Ausgang, aber es gibt zwei ganz klare Vorschläge aus Brüssel. Erstens: Rücknahme der sozialen Korrekturen. Zweitens: Italien, privatisiere deine Unternehmen, privatisiere deine Immobilien, privatisiere deine Infrastruktur! - All das ist schon einmal geschehen, und zwar im Nachbarland Griechenland, und es hat dort verheerende Auswirkungen gehabt.

Wundern wir uns ernsthaft darüber, dass angesichts solcher Bedingungen, angesichts solcher Vorschläge aus Brüssel die Akzeptanz der Europäischen Union innerhalb der italienischen Bevölkerung radikal sinkt? Wundern wir uns ernsthaft darüber, dass Nationalisten daraus ihren politischen Profit auf der Basis der Kritik an der Brüsseler Politik ziehen wollen? - Darüber brauchen wir uns nicht zu wundern. Dies ist die falsche Politik. Sie muss geändert werden und dazu braucht es Alternativen.

(Beifall bei der LINKEN)

Während die italienische Situation bei uns hier kaum eine Rolle gespielt hat, haben wir im Nachbarland Frankreich eine Situation, die inzwischen auch die Öffentlichkeit hier sehr viel mehr aufwühlt, die sogenannte Bewegung der Gelbwesten. Nun ist viel über die Bewegung der Gelbwesten geschrieben worden. Ich sage noch einmal ganz klar: Das meiste, was in Deutschland darüber erzählt wird, zeugt von massiver Unkenntnis.

Erstens. Es ist völlig irrig zu versuchen, die Bewegung der Gelbwesten in ein klassisches Parteiensystem einzusortieren. Sie ist eine Bewegung, die sich über soziale Netzwerke zuallererst als Protest gegen die sogenannte Ökosteuer bei der Benzinbesteuerung gebildet hat. Sie ist aber inzwischen eine radikale Gegenbewegung, die nur einen gemeinsamen Nenner hat, und zwar sich ganz klar und eindeutig gegen die politische Agenda von Macron, gegen die politische Agenda des Staatspräsidenten, zu richten, und zwar primär aus Existenzangst, primär aus der Erfahrung des sozialen Verlustes heraus und primär aus einer Motivation, die für uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, zutiefst verständlich sein muss. Das muss gesagt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich versuchen jetzt alle möglichen Kräfte, diese Gelbwestenbewegung für sich zu instrumentalisieren.

(Zurufe von der AfD)

Natürlich gibt es den Versuch von Le Pen, massiv rechtsextremen Einfluss auf diese Bewegung zu bekommen. Natürlich gibt es diejenigen, die Klimaleugner sind und sagen: Ökologische Politik brauchen wir in dieser Situation überhaupt nicht. - Das sind diejenigen, die versuchen, darauf Einfluss zu gewinnen.

Deswegen ist es nicht so sehr interessant zu gucken, was man da eigentlich für Beispiele findet. Nein, interessant ist es, einmal die politische Situation zu analysieren, die dazu geführt hat, dass der Pro-Europäer Macron inzwischen die schlechtesten Popularitätswerte aller französischen Präsidenten der letzten 20 Jahre hat. Warum gibt es inzwischen eine massive Solidarisierung innerhalb der französischen Bevölkerung gegen die Politik dieses Präsidenten? - Man kann ganz klar sagen: Dieser Präsident Macron war vorher Investmentbanker, und er versucht jetzt in der Position eines Präsidenten, genau die gleiche Politik, die er sich vorher als Investmentbanker gewünscht hat, durchzusetzen. Das ist das Problem.

(Beifall bei der LINKEN)

Was hat er als Erstes gemacht? - Er hat die sogenannte Reichensteuer abgeschafft, er hat massiv Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte eingeschränkt und er hat massiv die Kapitalbesteuerung von Unternehmen reduziert - immer mit der Ansage: Dann fängt der Laden an zu brummen, dann geht es los.

Und was hat er als Nächstes gemacht? - Er hat Verbrauchssteuern erhöht, die natürlich vor allen Dingen diejenigen Menschen treffen, die ohnehin am unteren Ende der Einkommensskala gewesen sind. Die Politik, gegen die in Frankreich protestiert wird, ist eine Politik der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben, und sie ist eine Politik, die inzwischen die Europäische Union in ihrer Existenz gefährdet. Und deswegen muss sie uns interessieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun ist all das keine neue Entwicklung, aber es ist, ganz klar, eine Entwicklung, die den Zusammenhalt der Europäischen Union massiv gefährdet. Sowohl in Italien als auch in Frankreich gäbe es wahrscheinlich, wenn es dort jetzt ähnliche Entscheide wie beim Brexit geben würde, eine Mehrheit gegen die Europäische Union. Und warum? - Weil die Europäische Union - und so ist es übrigens nicht nur von Salvini in Italien begründet worden, sondern auch von Macron in Frankreich - offensichtlich der Akteur ist, der im

Sinne von radikaler Marktfreiheit über all das hinweggeht, was die Menschen als soziale Sicherung empfinden.

Macron begründet seine Steuerreform, begründet seine Schwächung von Arbeitnehmerrechten mit wirtschaftlicher Konkurrenz innerhalb dieser

Europäischen Union. Die Steuervorteile, die er Unternehmen geben möchte, begründet er damit, dass Frankreich damit innerhalb der Europäischen Union für Konzerne attraktiver wird. Und er verweist auf Deutschland, das all diese Maßnahmen mit der Agenda 2010 umgesetzt hat. Das ist das Problem, das wir heute in der Europäischen Union haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt längst Debatten über den Ausweg. Als der Brexit sich abzeichnete, als schon einmal, und zwar im Jahr 2015, die Zustimmung zur Europäischen Union massiv zurückging, gab es zum ersten Mal - sage und schreibe von dem konservativen Chef der Kommission, Juncker - die Idee, von einer rein marktwirtschaftlich orientierten Freihandelszone EU wegzukommen und sie um eine soziale Säule zu ergänzen. Das war nämlich die Idee, die Europäische Union als sozialen Schutzraum für die Menschen zu organisieren.