Protokoll der Sitzung vom 23.03.2023

Antrag Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drs. 8/2338

b) Beratung

365-Tage-Ticket für alle und 9-Euro-Ticket für Schüler im Land einführen

Antrag Fraktion DIE LINKE - Drs. 8/2363

Die Einbringung des Antrages der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN übernimmt Frau Lüddemann. - Frau Lüddemann, bitte schön.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Mit dem Deutschlandticket hat die Ampelregierung im Schulterschluss mit den Ländern bewiesen, dass Deutschland zu schnellen Innovationen fähig ist,

(Ulrich Siegmund, AfD: Ja!)

entgegen - das muss man ehrlicherweise sagen - unserem eigenen oft gepflegten Unglauben. Das Deutschlandticket leistet eine Vereinheitlichung und damit auch eine Vereinfachung für das alltägliche Leben, die für unser Land nahezu historisch ist. Mit einem Ticket zu einem Preis, egal wo es gekauft wurde, durch ganz Deutschland zu fahren, das ist eine Innovation. Das ist auch eine gemeinschaftliche Leistung, die, glaube ich, nicht hoch genug gewürdigt werden kann.

(Zustimmung von Olaf Meister, GRÜNE, und von Holger Hövelmann, SPD)

Sie ist vergleichbar mit der Einführung des Urmeters für die Messung von Längenmaßen,

(Sandra Hietel-Heuer, CDU: Was?)

mit der Einführung der Greenwich Mean Time für die Zeiterfassung,

(Lachen bei der CDU)

mit Einführung des Schengen-Raums für die europaweite Mobilität und mit der Einführung des Euro für Transaktionen in der EU.

(Zuruf: Ein bisschen Größenwahn ist schon dabei! - Lachen bei der CDU)

All diese Entwicklungen stehen für operativ komplizierte und voraussetzungsreiche Regelungen und Abstimmungen. In ihrem Effekt überwinden sie lokale Eigenheiten und inkompatible regionale Praktiken.

(Zuruf von Guido Kosmehl, FDP)

Der Maßstab der Elle war als Längenmaß damals, in früheren Zeiten, uneinheitlich und damit abseits eines engen geografischen Raumes nicht kompatibel. 12 Uhr war in Berlin und Köln, in Trier und Weimar bis zum Jahr 1884 - so lange ist das noch gar nicht her - nicht identisch. Denn vor der Einführung des Nullmeridians der Zeitmessung in Greenwich, einem Vorort von London, als Ausgangspunkt der weltumspannenden Zeitzonen und damit auch der mitteleuropäischen Zeit wurden die Uhren regional nach Sonnenstand gestellt. Dadurch ergab sich etwa zwischen Köln und Berlin eine Abweichung von fast 20 Minuten. Denn pro 30 km ergibt sich eine Differenz von etwa einer Minute des Sonnenzenits. Für den Zugverkehr - deswegen erwähne ich das so hinlänglich - brachte das erhebliche Konfusionen mit sich. Denn Züge fuhren jeweils nach der Zeit ihres Startbahnhofes. Wenn in Magdeburg nun Züge aus Köln und Berlin einfuhren mit der Ankunftszeit 12 Uhr, dann kamen diese Züge nicht gleichzeitig an, sondern der Kölner Zug war 20 Minuten vor dem Ber- liner Zug hier vor Ort.

(Marco Tullner, CDU: Wollen wir mal zum Thema reden?)

Es wird vermutet, dass dieser Umstand die Redewendung „Ich verstehe nur Bahnhof“ - das ist vielleicht das Thema, Herr Kollege Tullner - mit begründet.

(Olaf Meister, GRÜNE, lacht)

So wie es also mehrerer Uhren bedurfte, um Ankunfts- und Abfahrtszeiten bundesweit abzu-

gleichen, so braucht es bis heute mehrere Tickets, um den ÖPNV bundesweit nutzen zu können.

Gegen alle Innovationen gab es vor Ort immer spontan Unwillen. Es wurde zuerst mehr von Schwierigkeiten als von Chancen gesprochen. Genau das erleben wir jetzt beim Deutschlandticket. Ich glaube, wir müssen die Chancen herausstellen, die dieses Deutschlandticket bietet, und schauen, wie wir es insgesamt noch ver- bessern können.

(Kathrin Tarricone, FDP: Das machen wir!)

Allein im vergleichsweise kleinen Sachsen-Anhalt war über nahezu Jahrzehnte das Ziel einer Vereinheitlichung der Verkehrsverbünde ein nicht zu zerschlagender Gordischer Knoten. Allein die Integration des ÖSPV, des Öffent- lichen Straßenpersonennahverkehrs, in das erweiterte Verbundnetz des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes war bis heute nicht leistbar. Entsprechende Gutachten werden weiterhin unter Verschluss gehalten, so jedenfalls die Antwort der Landesregierung zu unserer Großen Anfrage aus dem letzten Jahr.

Ich kenne das Problem auch selbst aus meiner Heimatstadt Dessau. Diese hat sich in der Vergangenheit resolut dagegen gewehrt, einem Verkehrsverbund komplett beizutreten. In einer solchen Situation von einem bundesweiten ÖPNV-Ticket zu sprechen, schien lange Zeit absolut utopisch. Fast waren uns Flugtaxis näher. Das ist jetzt Schnee von gestern. Und das ist gut so. Wie gesagt: Ich kann die gemeinschaftliche Leistung an der Stelle nur hervorheben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dass es zwischen einzelnen Ländern - Stadtstaaten, Flächenländer - sowie zwischen den Ländern und dem Bund in dem, was sie wollen, natürlich Reibereien gab und zum Teil noch gibt,

liegt in der Natur der Sache dieser großen Aufgabe, die ich soeben versucht habe zu beschreiben.

Natürlich wäre es für alle absolut komfortabel und für die Nutzenden mega-attraktiv gewesen, wenn es bei dem 9-€-Euro-Ticket geblieben wäre. Aber - dazu stehe ich; ich habe das immer gesagt - wir brauchen auch genug Gelder für den Ausbau des ÖPNV. Deswegen nur der eine Satz zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE: Man kann sich immer noch unterbieten, aber ich glaube, dass das 49-€-Ticket jetzt die Chance bietet, beides vorzuhalten: ein insbesondere für die Pendlerinnen und die Pendler gutes Ticket, aber auch Geld für den Angebotsausbau.

Der Bundesrat hat zum Deutschlandticket klare Worte gefunden. Die Länder haben es einhellig begrüßt, aber auch klare Erwartungen an den Bund adressiert. Das finde ich richtig und wichtig. Es braucht eine verlässliche Kofinanzierung durch den Bund. Auch ich erwarte, dass in dem Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes eine Regelung zur dauerhaften hälftigen Mitfinanzierung durch den Bund aufgenommen wird. Das hat der Bundesrat am 3. März so beschlossen.

Es braucht zudem verlässliche und steigende Regionalisierungsmittel für einen konsequenten Ausbau des ÖPNV. Es braucht gut bezahlte Arbeitsplätze und Ausbildungsangebote bei den Verkehrsunternehmen. Auch ist sicherzustellen - das ging in Sachsen-Anhalt in den letzten Tagen durch die Presse -, dass die Sorgen der Busunternehmen nicht tatsächlich zum Tragen kommen. Die Aufteilung der Einnahmen aus dem Deutschlandticket muss also tatsächlich so gestaltet werden, dass alle beteiligten Verkehrsunternehmen ihr Geld auch bekommen. Bei dem 9-€-Ticket war es kein Problem, die Zuschüsse EU-rechtskonform auszuzahlen. Das muss jetzt auch das Ziel bei dem Deutschland-

ticket sein. Der VDV zeigt sich diesbezüglich sehr optimistisch. Viele Fachleute arbeiten an diesem Problem. Wie ich höre, ist auch die Verkehrsministerinnenkonferenz

(Ulrich Siegmund, AfD: Oh! Verkehrsministe- rinnen? - Zuruf: Verkehrsministerkonferenz!)

mit diesem Thema befasst.

Reden wir also den Erfolg des Deutschland- tickets nicht klein; es ist ein großer Wurf. Ich denke, das ist der längste Hebel, den wir Moment zur Verfügung haben, um die Mobilitätswende voranzubringen und den Klimazielen im Verkehrsbereich, na ja, zumindest etwas näher zu kommen. Insofern ist das Ticket auch geeignet, die ansonsten eher verheerende Bilanz von Minister Wissing im Bereich Klimaschutz aufzupolieren.

(Beifall bei den GRÜNEN - Guido Kosmehl, FDP: Oh!)

Das ist ein erheblicher Erfolg der Bundesregierung und auch der grünen Bundestagsfraktion, die das 9-€-Ticket im letzten Jahr initiiert hat.

(Guido Kosmehl, FDP: Nein! Nein! Also, solche Fake News! Solche Fake News!)

Jetzt komme ich aber zu dem Teil, der nicht so positiv ist: Einen Betrag von 49 € - das muss man ehrlicherweise auch sagen - können sich nicht alle Menschen in diesem Land so ohne Weiteres leisten.

(Zuruf von Oliver Kirchner, AfD)

Nicht einmal der erhöhte Bürgergeldbetrag bildet 49 € ab. Für Geringverdienende, für Beziehende von Sozialleistungen, für Kinder und Jugendliche und damit auch für Mehrkindfamilien stellt dieses im Moment 49 € kostende

Deutschlandticket eine hohe Hürde dar. In einem Land wie Sachsen-Anhalt mit hoher Kinder- und Jugendarmut und einem im Bundesdurchschnitt niedrigen Lohnniveau halte ich es deswegen für unsere Pflicht, auch für eine soziale Komponente zu sorgen.

Immerhin leben 17,1 % der Minderjährigen in Sachsen-Anhalt in Familien im SGB-II-Bezug. Das besagt die aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Januar 2023. Wenn wir uns das verdeutlichen und herunterbrechen, dann stellen wir fest: Das sind in jeder Klasse etwa fünf Kinder. Diese Familien haben also nur Geld für das Allernötigste. Mutmaßlich wird dazu nicht jeweils ein Deutschlandticket für jedes Fami- lienmitglied gehören.

Bei dem durchschnittlichen Monatsbruttoeinkommen im Jahr 2021 liegt Sachsen-Anhalt auf dem 14. Platz. In anderen Ländern, bspw. Hamburg, Bayern oder Hessen, stellt diese Ausgabe finanzieller Art nicht eine solche hohe Hürde dar wie für Menschen in Sachsen-Anhalt. Dort liegt das durchschnittliche Monatsbruttoeinkommen nämlich etwa 1 000 € höher. Ich glaube, hierzu ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag für die Landespolitik.

Das Deutschlandticket sozial auszugestalten wird ebenfalls von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden gefordert - ich glaube, sehr zu Recht. Einzelne Länder sind diesen Weg bereits gegangen. Berlin, Hessen, das Saarland und Hamburg haben flankierende Angebote zum Deutschlandticket.

Ich habe es bereits erwähnt: Das Deutschland- ticket ist ein großer Erfolg. Es ist besonders erfolgreich für Pendlerinnen und Pendler. Ich kenne Menschen, die die Strecke zwischen Dessau und Magdeburg, oft auch mit mir gemeinsam, befahren. Für diese ist es eine Einsparung im dreistelligen Bereich. Ich finde, das ist eine

gute Sache. Sie werden das Auto dann auch stehen lassen und tatsächlich den Zug benutzen.

Ich finde aber, der Name „Deutschlandticket“ steht nicht nur für die geografische Ausprägung. Vielmehr sollte es auch dafür stehen, dass wir mit diesem Ticket alle Menschen in Deutschland tatsächlich auf die Schiene bringen können. Die gesamte Bevölkerung sollte Nutznießer sein.

(Unruhe)