Protokoll der Sitzung vom 01.04.2004

Eines sollten wir uns ganz generell abgewöhnen, nämlich diese zum Teil recht bösartige Klischeepflege. Wenn ich mal an die Erwerbsneigung von Frauen gerade in Ihren Reihen der SPD in den alten Bundesländern erinnern darf, sollten Sie, die im Glashaus sitzen, bitte nicht mit Steinen werfen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen, meine Herren, dieser Antrag, der vor uns liegt, trotz der falschen Zahlenbasis impliziert der natürlich, es gebe in erster Linie in Thüringen ein Problem der Frauen auf dem Arbeitsmarkt.

(Zwischenruf Abg. Becker, SPD: Quatsch!)

Nun, wenn dem so wäre, dann sähe die Arbeitslosenstatistik bei den Männern natürlich völlig anders aus, als sie ist und als sie uns vorhin von Herrn Staatssekretär dargestellt worden ist. Die Quellen sind falsch, das hat er bereits gesagt, und wenn es sich um eine Frage des Herangehens an das Problem handeln würde, wenn also in Thüringen bei der Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen gravierende Barrieren existieren würden, na gut, dann schauen wir doch mal nach Mecklenburg-Vorpommern als ein Beispiel,

(Zwischenruf Abg. K. Wolf, PDS: Na ja, genau das hilft uns jetzt hier weiter.)

was ja für Sie ein ganz probates Beispiel ist, haben Sie dort die Möglichkeit, alles das zumindest mit umzusetzen, was Sie hier Ihrer Sichtweise nach nicht umsetzen können, unserer Sichtweise nach, Gott sei Dank, nicht umsetzen dürfen.

Meine Damen, meine Herren, gerade der Blick nach Mecklenburg-Vorpommern beweist, dass es noch offenbar tiefer liegende Ursachen gibt, als die in Ihrem Antrag dargestellte Sichtweise, also für einen von Ihnen als solches Problem erkanntes Beispiel, als Defizit.

Ganz kurz und prägnant: Halten wir uns die Verhältnisse von dort vor Augen. Das Land erlebt einen Tourismusboom. Meiner Kenntnis nach ist der Zuwachs beim Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern spitze. Es werden dort auch, genau wie bei uns, in der Infrastruktur Millionen verbaut, und zwar durch den Bund. Noch aus der Regierungszeit der CDU in Mecklenburg-Vorpommern

sind mir die Anstrengungen um den Erhalt der heute wieder als so wichtig erkannten weichen Standortfaktoren deutlich in Erinnerung. Schließlich ist die Bevölkerungsdichte dort niedriger als in großen Teilen Thüringens - um das mal zu vergleichen. Es sind also durchweg Faktoren, die dieses Bundesland in die Lage versetzen müssten, bei der Frauenarbeitslosigkeit ganz andere, deutlich bessere Verhältnisse vorzuweisen. Wenn man daran denkt, meine Damen, meine Herren, dass gerade der Tourismus eine Branche ist, wo es einen sehr hohen Anteil an Arbeitsplätzen für Frauen gibt, und wir alle kennen ja die Stellung von Mecklenburg-Vorpommern im Ranking der neuen Bundesländer, wenn es also dieses von Ihnen immerhin mitregierte Bundesland nicht vermochte, in Ihrem Sinne Zeichen zu setzen, Frau Kollegin Wolf, dann liegt das möglicherweise doch nicht nur am Unvermögen der rotroten Landesregierung, sondern könnte doch wohl auch tiefere Ursachen haben.

Da die Zeit schnelllebig ist und der Zeitgeist heute die alten Schulden häufig auf neuen Schreibtischen ablädt, gebe ich Ihnen doch jetzt - da Sie ja noch so jung sind - einen aus meiner Sicht notwendigen Exkurs in unsere jüngere Vergangenheit. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Wirtschaft dreigeteilt wurde, führte dies auch infolge der Nachkriegspolitik des Kalten Kriegs zu einer sehr differenzierten wirtschaftlichen Entwicklung. Bildete der östliche Teil den Grundstock der Wirtschaft des nach Westen verschobenen Polens, so wurde dem mittlere Teil nach Demontage und Reparation eine neuen Ausrichtung im Rahmen der Gemeinschaft des RGW als Produzent von Industriegütern, End- und Fertigprodukten und Konsumgütern zugedacht. Die Abschottung von internationalen Märkten bedingte den Aufbau einer Grundstoff- und Schwerindustrie, bedingte hohe Fertigungstiefe bei großen Teilen der Produktion. Schließlich der Weiterbetrieb zahlreicher Altindustriebetriebe, teilweise 60 Jahre und älter, alle diese Faktoren bedingten ein Heer von Arbeitskräften, so dass schon aus diesem Grund die DDR zwingend zur Erfüllung der ihr aufgebürdeten Auflagen die Mobilisierung des gesamten Arbeitskräftepotenzials erreichen und damit auch die Frauen zu einem hohen Anteil in den Arbeitsprozess einbinden musste.

(Beifall bei der SPD)

Daraus, nur daraus, Frau Wolf, und nicht aus der reinen Lehre der Gleichstellung von Frau und Mann resultiert die große Zahl von Betreuungseinrichtungen für Kinder. Sie werden ja von der PDS so gern den Aktiva des überlebten Regimes zugezählt. Die Maßnahmen der Rationalisierung Ende der 70er- bis in die 80er-Jahre

(Zwischenruf Abg. Becker, SPD: Sind wir schon so weit?)

waren vor allem der Erschöpfung des Reservoirs Arbeitskraft geschuldet, das heißt also salopp gesagt, die Frauen in die Produktion. Die Wende, schlagartig aber die Einfüh

rung der D-Mark, brachte die abrupte Neuorientierung, die alle genannten Faktoren total über den Haufen warf, nämlich den Wegbruch des RGW-Markts, den Zusammenbruch des Binnenmarkts für DDR-Produkte aufgrund der Orientierung der Konsumenten auf Westprodukte - meine Damen, meine Herren, die Ostalgie war damals noch nicht erfunden - und die Einbringung des DDR-Wirtschaftsraumes quasi über Nacht in die internationale Arbeitsteilung machten die hohe Arbeitstiefe vieler DDR-Produkte überflüssig und nahm ihnen die Marktfähigkeit, weil sie zu teuer waren. Zugehört haben Sie hoffentlich noch, denn diese harten ökonomischen Fakten sind es doch gewesen, meine Damen, meine Herren, die zu so einem dramatischen Arbeitsplatzabbau Anfang der 90er-Jahre führten.

(Zwischenruf Abg. Krauße, CDU: Sehr richtig.)

So beispielsweise 100.000 Arbeitsplätze in der mitteldeutschen Braunkohleindustrie, um wieder mit diesem Beispiel zu kommen, 40.000 Arbeitsplätze beim Thüringer Teil der Wismut; bei den zwei Beispielen lasse ich es bewenden.

(Zwischenruf Abg. Dr. Klaubert, PDS: Kommen Sie mal zum Antrag.)

Sofort, Frau Dr. Klaubert, wir haben ja vorhin so viel zum Teil sehr ausschweifende Themen behandeln dürfen, dass ich Ihnen diesen kleinen Exkurs durchaus zumuten darf.

(Beifall bei der CDU)

Mit Blick auf diese Entwicklung muss es Ihnen einleuchten - auch Ihnen, Frau Dr. Klaubert -, geradezu sonnenklar sein, dass es angesichts der Deindustrialisierung - und jetzt komme ich auf das Thema des Antrags, Frau Doktor - in den neuen Bundesländern absolute Notwendigkeit war und ist, hier auf Wachstum zu setzen.

(Zwischenruf Abg. Dr. Botz, SPD: Jetzt! Ein toller Antrag...)

Wir haben von Anfang an diesen Weg beschritten und es sind gerade diese Maßnahmen, wie die Modernisierung der Infrastruktur, so Telefon, Erdgas, stabile Stromversorgung, ausreichend Wohn- und Gewerberaum, rasche Ausweisung von Gewerbegebieten - alles Dinge aus der 1. Legislatur, die meisten sind schon wieder vergessen -, wie spezifische Förderungen ansiedlungswilliger Betriebe - gilt bis heute -, alles Dinge, die in vielem schon eine Selbstverständlichkeit geworden sind. Wir haben es geschafft und mittlerweile steht Thüringen an der Spitze bei der Schaffung von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe. Wie Sie vielleicht wissen, liegt die Schwelle des Wirtschaftswachstums, ab dem eine dauerhafte Beschäftigungswirkung erreicht wird, bei mindestens 2 Prozent. Doch mir ist angesichts der desaströsen Politik in Berlin bange, dass wir bald in den Genuss dieses selbsttragenden Aufschwungs

kommen werden. Denn angesichts der von mir gebrachten Beispiele, angesichts der Situation auch in den Ländern, in denen Sie, sei es durch Tolerierung oder durch Beteiligung, in Mitverantwortung stehen oder standen, muss doch auch Ihnen klar sein, dass es sich hier um einen Generationen betreffenden Umbauprozess handelt, dessen Ursachen wir geerbt haben, dessen Anstoß allerdings auch viele der hier mit in Verantwortung Stehenden mit gegeben haben. So verweise ich auf die weichen Standortfaktoren, welche im Bericht der Landesregierung vorhin hinreichend gewürdigt wurden. Ich gebe Ihnen absolut nicht Recht, meine Damen und Herren von der PDS, wenn Sie von umfassender Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt sprechen. Fakten sprechen da eine andere Sprache und es sind gerade viele Frauen auch aus Thüringen, die inzwischen im gesamten Deutschland, auch weltweit, ihre Qualifikation unter Beweis stellen.

(Beifall bei der PDS)

Wir haben vor Ort, das ist richtig, ein Malus an ausreichenden Arbeitsplätzen. Daraus resultiert die Abwanderung vor allem junger Menschen. Die Abwanderung von jungen Frauen ist besonders bitter, da sich dies doppelt nachteilig auf Thüringen auswirkt, denn dann fehlen auch deren Kinder und die Überalterung der Bevölkerung, statistisch gesehen, steigt weiter. Doch sollen wir dem derzeitigen Zuwachs in absoluten Zahlen bei der Bevölkerung, bei den über 60-Jährigen nun Negatives andichten? Wenn wir ein Mehr an Arbeitsplätzen hier in Thüringen wollen - und nur damit werden wir auch die Unterschleife bei Frauenarbeitsplätzen beseitigen können -, dann sind es doch gerade die Dienstleistungs- und Sozialberufe, welche hier Lösungen bringen können. Natürlich ist der Wegfall vieler Arbeitsplätze in Industrie und Gewerbe schmerzlich. Doch es hat keinen Zweck, die Abwanderung junger Leute zu bedauern oder gar zu bekämpfen. Wir haben Grenzen eingerissen, damit müssen wir auch die Folgerungen dieser Entscheidung akzeptieren. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich als persönliche Begründung, ich sehe durchaus kein Problem damit, dass nicht nur meine Kinder in Altbundesländern ihre Arbeit gefunden haben. Ich sorge mich viel mehr darum, dass zu gegebener Zeit entweder die Kinder oder deren Enkel wieder nach Thüringen zurückkommen. Das halte ich für eine sinnvollere Sache, als mich hinzusetzen und zu barmen, dass dem so ist. Wenn junge Menschen und auch ältere Menschen woanders bessere Bedingungen, höheren Verdienst vorfinden und in Anspruch nehmen, so ist das doch völlig in Ordnung.

(Zwischenruf Abg. K. Wolf, PDS: Keine Frage.)

Nur wenn zu schlechteren Bedingungen Auswärtsarbeit anzunehmen ist, weil daheim gar nichts mehr zu haben war, dann gilt es gegenzusteuern, meine Damen und Herren. Da bin ich mit den Regelungen nach Hartz durchaus nicht einverstanden. Womit wir wieder bei der Notwendigkeit, nämlich des Wachstums, wären, meine Damen und

Herren; ohne Wachstum in Thüringen, ohne Wachstum in der Thüringer Produktion geht nichts. Weiterhin kommt es nun verstärkt darauf an, mit den Abgewanderten Verbindung zu halten, sie von Entwicklungen bei uns in Kenntnis zu setzen, denn das ist eine Voraussetzung zur Rückkehr. Schließlich spricht ja nichts gegen eine Vergabe einer Intendanz, einer Professur, einer Berufung in einem Ministerium gegen Bewerber aus aller Welt, auch solche, die bis vor kurzem Thüringerinnen waren.

Noch einen Hinweis an das produktive Gewerbe: So manchem Betrieb hier werden mittlerweile die Facharbeiter knapp. Spätestens mit den Auswirkungen des Geburtenknicks in den neuen Bundesländern, also auch in Thüringen, wird es zwingend notwendig, vorhandene Reservoire am Arbeitsmarkt auszunutzen, womit wir wieder bei der Notwendigkeit des Wachstums wären.

So, meine Damen, meine Herren von der SPD, weil Sie ja vorhin darauf hinwiesen, dass wir unsere Hausaufgaben machen sollten, ich sage Ihnen eines: Wie es um dieses Wachstum bei uns bestellt ist, da ist mir bange, wenn in den Reden des Kanzlers, weder bei seinen richtungsweisenden Erklärungen auf Parteitagen noch in den in jüngster Zeit abgegebenen Erklärungen, die neuen Bundesländer überhaupt keine Rolle spielen, ja in den Reden gar nicht mehr vorkommen.

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Sie behaupten doch wissentlich etwas Falsches.)

Wenn durch handwerkliche Fehler, Herr Kollege, durch Pfusch, ein Großteil der Gelder - wenn ich noch einmal an das Problem mit der Maut erinnern darf, die der Verbesserung der Infrastruktur in den neuen Bundesländern hätten dienen sollen - verplempert werden, dann richten Sie doch Ihre Fragen nach der Arbeitsmarktsituation vor allem an die Adresse Berlin und an die Adresse, das muss ich unbedingt noch mit hinzufügen, einer Organisation, die Sie hier zwar als Quelle ihrer Studie nennen, des DGB nämlich, deren Selbstverständnis aber häufig das einer fünften Kolonne der Bundesregierung ist. Insoweit halte ich gerade den Bezug auf den DGB hier für abwegig, weil dessen Auftreten mir da zu verlogen ist.

So, nun kann ich aus dem Zahlenmaterial der Berichterstattung der Landesregierung keine verfehlte Gleichstellungspolitik ableiten.

(Zwischenruf Abg. Dr. Müller, SPD: Das ist mir aber noch nicht aufgefallen.)

Wir haben in Thüringen beim Arbeitsmarkt kein Gleichstellungs- oder geschlechtsspezifisches Problem, sondern wir haben eine Strukturkrise in Deutschland, die sich eben in Thüringen genau wie anderswo in den neuen Bundesländern deutlich mit dem von mir vorhin vorgestellten Szenario überlagert. Wenn Sie einmal selbst nachrechnen, welcher jährliche Zuwachs beim Bruttosozialprodukt in Thü

ringen erfolgen muss, um den Arbeitsmarkt auf hessisches oder bayerisches Niveau zu heben - natürlich unter Beibehaltung, Frau Wolf, der hohen Erwerbsquote bei Frauen, denn Sie meinten in Ihrem Antrag statt der Erwerbsquote die Beschäftigtenrate, meine Damen und Herren von der PDS -, wird die hohe Erwerbsquote bei verheirateten Thüringer Frauen, speziell der mittleren und älteren Jahrgänge, die in den letzten Jahren sogar angestiegen ist und bei 78 Prozent gegenüber 62 Prozent in den alten Bundesländern liegt, besonders deutlich.

Waren es im Oktober 1990 bei uns in den neuen Bundesländern noch 11,3 Mio. Einwohner im erwerbsfähigen Alter, davon 8,9 Mio. erwerbstätig, so lag diese Zahl ein Jahr zuvor noch bei 9,8 Mio., inzwischen nur noch bei 6,4 Mio. Einwohnern aus den neuen Bundesländern, die einer Erwerbsarbeit nachgehen. Da die Zahl der Erwerbspersonen, das heißt die Summe aus Erwerbstätigen und Erwerbslosen, indes nur um rund 1 Mio. zurückging in den letzten 12 Jahren, erkennen Sie ganz glatt gerechnet ein Arbeitsplatzdefizit von noch rund 500.000 Arbeitsplätzen. Wenn Sie dann noch die 600.000 Pendler, die wir derzeit haben, dazuzählen, kommen wir auf 1,1 Mio. Arbeitsplätze, die wir gerne über die Regelungen in Nürnberg und andere Maßnahmen aus Berlin wieder hier einrichten würden. Deswegen lassen Sie mich zum letzten Satz kommen.

(Beifall im Hause)

Es sind noch zwei Minuten Zeit.

(Heiterkeit im Hause)

(Zwischenruf Abg. Schemmel, SPD: Frisch ans Werk.)

(Zwischenruf Abg. Kummer, PDS: Sie haben alle Zeit der Welt.)

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die ausgesprochen günstigen Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt für Frauen in Thüringen, also Kindertagesstättengesetz, um das uns viele Länder beneiden, und die Förderung für Berufsrückkehrerinnen aus den Altbundesländern, um noch ein zweites Beispiel hinzuzufügen, das also diese Maßnahmen durchaus - und da gebe ich Ihrer Hoffnung, Frau Wolf, Recht - dazu greifen werden, dass wir uns über dieses Thema in der nächsten Legislatur nicht mehr in diesem Maße unterhalten müssen, wenn, meine Damen und Herren, auch die Bundesregierung ihre Hausaufgaben macht und uns in Zukunft mit solchem Pfusch wie bei der Maut verschont. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU)

Gibt es denn noch weitere Wortmeldungen? Es gibt weitere Wortmeldungen.

(Unruhe im Hause)

Bitte, Frau Abgeordnete Thierbach.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Beste wäre, alle Männer verließen den Saal.

(Heiterkeit und Beifall im Hause)