Protokoll der Sitzung vom 09.05.2003

Für die Landesregierung hat sich Minister Pietzsch zu Wort gemeldet, ich habe aber eine Frage. Es gibt noch zwei Redeanmeldungen aus den Reihen der Abgeordneten. Möchten Sie zum Schluss, ja? Dann Frau Abgeordnete Nitzpon, PDS-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen, bevor ich zur Familienpolitik komme. Ich möchte eine Bemerkung zur Jugendberufshilfe machen. Herr Panse, die Richtlinien zur ESF-Förderung, dazu muss ich sagen, werden derzeit in Bezug auf die Jugendberufshilfe auf den Kopf gestellt, denn diese sind nicht dazu da, die Jugendberufshilfe zu fördern. Sie wissen, dass damit Feststellen geschaffen werden müssen.

(Zwischenruf Abg. Panse, CDU: Aber die Förderung von Projekten ist möglich.)

Das Zweite: Sie haben auf unseren Antrag zur Jugendkultur, zum letzten Tagesordnungspunkt davor Bezug genommen. Ich muss Ihnen sagen, gerade weil wir den Elften Kinder- und Jugendbericht und weil wir diese Schlussfolgerungen gelesen haben, mussten wir unseren Antrag einreichen,

(Beifall bei der PDS, SPD)

weil die Schlussfolgerungen eben nicht ausreichend sind. Sie wissen ganz genau, dass im Vorwort zu diesem Teil "Jugendkultur" in diesem Bericht oder in den Schlussfolgerungen der Landesregierung steht, dass natürlich die Landesregierung weiß, dass in diesem Bereich mehr gekürzt wird als in allen anderen Bereichen der Jugendhilfe. Dann wird einfach aufgezählt, welche Förderrichtlinien es für Jugendkultur gibt. Aber das, was wir in dem Antrag gefordert haben, wird in keiner Weise überhaupt angesprochen. Deswegen war es notwendig, es musste eigentlich sein, diesen Antrag hier einzureichen. Sie hätten eigentlich zustimmen müssen, wenn Sie die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Elften Kinder- und Jugendbericht in Bezug auf die Jugendkultur ziehen wollten.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Nun lassen Sie mich einige Bemerkungen zur Familienpolitik machen. Sie rückt immer häufiger ins Blickfeld der Politik und bemerkenswert ist dabei, dass dies gerade in Zeiten ist, wo eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik, eine verfehlte Steuerpolitik und auch eine verfehlte Wirtschaftspolitik zunehmen. Ich verweise in dem Zusammenhang auf den Thüringen-Monitor, der das eindrucksvoll belegt hat. Während der Elfte Kinder- und Jugendbericht die Probleme auflistet, mit denen heute Familien konfrontiert sind und dazu auch eine Reihe von Lösungsansätzen bietet, lehnt die Landesregierung in Thüringen den Vorrang infra

struktureller Angebote vor der Erweiterung der individuellen, finanziellen Transferleistungen und damit auch den geforderten Perspektivenwechsel ab.

(Zwischenruf Abg. Panse, CDU: Das ist auch richtig so.)

Nein, das sehe ich eben nicht so. Dabei, Herr Panse, und deswegen sehe ich das nicht so, vollzieht sich in der Gesellschaft der Bundesrepublik eben gerade ein tief greifender soziokultureller Wandel, der für das Aufwachsen, die Entwicklung und Bildung von Kindern und Jugendlichen von größter Bedeutung ist. Diesen Wandel übersehen Sie, Sie lassen ihn außen vor.

(Beifall bei der SPD)

Es verändern sich die Formen des Zusammenlebens, so dass eine zunehmende Zahl von Kindern nicht mehr in Konstellationen aufwächst, die wir als Familie gewohnt sind zu bezeichnen. Auch das kommt im Elften Kinderund Jugendbericht klar zum Ausdruck. Sie haben selbst dieses Zitat aus diesem Bericht dazu gebracht.

(Zwischenruf Abg. Panse, CDU: Aber das macht das Zitat nicht richtig.)

Nein, diese Entwicklung, Herr Panse, blendet die Landesregierung in ihrem Ansatz zur Familienpolitik aus. Wenn Sie sagen, das wäre falsch oder das, was die Landesregierung macht ist richtig, dann blenden Sie aus Ihrem Kopf die Ergebnisse des Thüringen-Monitors aus, die da eindrucksvoll gezeigt haben, dass auch in Thüringen dieser Wandel derzeit vollzogen wird. Das sehen Sie überhaupt nicht. Das kann ich nicht verstehen,

(Beifall bei der PDS; Abg. Pelke, SPD)

denn der Monitor ist ja eigentlich von der Landesregierung in Auftrag gegeben worden, aber jetzt zieht sie ganz andere Schlussfolgerungen, als im Monitor eigentlich steht und Sie damals auch dazu gesprochen haben.

Nach wie vor ist eben das Leitbild der Landesregierung allein von Ehe und Familie als werthaltige Orientierungsvorstellung geprägt.

(Zwischenruf aus der CDU-Fraktion: Das ist laut Grundgesetz so.)

Das trägt aber der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr Rechnung. Ich möchte dazu die evangelische Kirche in Deutschland ganz einfach zitieren aus ihrer familienpolitischen Stellungnahme des Rates der EKD. "Zur Rechtsform der Ehe wird betont, dass es in allen Kulturen Formen der öffentlichen Anerkennung gibt, dass aber die jeweilige Rechtsform sich den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen will." Kirche will den Familien angesichts der Vielfalt von Lebensentwürfen und Lebens

stilen Werte vermitteln, eine Orientierung ermöglichen und ihnen in kritischen Lebenssituationen helfen, ihre Konflikte zu lösen." Also diesen gesellschaftlichen Wandel sieht die evangelische Kirche, die Landesregierung allerdings nicht.

Angesichts der Tatsache, dass sich die alltäglichen sprachlichen und kulturellen Praktiken verändern, an denen Kinder und Jugendliche Anteil haben, dass die Heranwachsenden mit einer rasanten Entwicklung der Technik und Medienwelt konfrontiert sind, das hat hier jeder auch gesagt, dass sie aber auch die Auswirkungen der Mobilität erleben, üben diese und weitere Faktoren Einfluss auf ihre Entwicklung aus, auf ihre Sozialisation, auf die Bildung und Erziehung.

Schon deshalb kann die Aussage der Sachverständigenkommission zum Bericht nur unterstützt werden, wenn eben ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gefordert wird.

Es heißt dort: "Staat und Gesellschaft müssen die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen so gestalten, dass die jungen Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können." Es geht also nicht nur um eine Verantwortung generell und vielleicht keine individuelle Verantwortung, sondern es geht um ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung, und dem entzieht sich diese Landesregierung.

(Zwischenruf Abg. Panse, CDU: Eltern müssen das machen.)

(Beifall bei der PDS)

Familien brauchen also eine gute Infrastruktur. Neben der Förderung von Partnerschaft und Eheberatung, der Erziehungs- und Familienberatung gehören auch die Entwicklung von Alltags- bzw. Haushaltsführungskomponenten dazu. Letzteres ist deshalb wichtig, weil eben Haushalte, das wissen wir selbst aus der Tätigkeit im Landtag, wichtige Schalt- und Verteilungsstellen in der Gesellschaft bilden. Das Haushaltsbudget zu managen und den Stellenwert der verschiedenen Bedarfsbereiche auch in der kleinsten Familie abzuklären, sind wichtige Aufgaben, die sich wiederum auf Märkte und natürlich auf die Gesellschaft selbst auswirken.

Die Konsumentscheidungen der Haushalte finden heute in einem Umfeld des ständig wachsenden Produkt- und Dienstleistungsangebots statt und die Überschuldung von Haushalten nimmt zu. Marketingstrategien werden immer intensiver auf Kinder ausgerichtet und führen in einer Reihe von Familien zu erheblichem Konsumdruck auf die Eltern. Die elterlichen Aufgaben zur Konsum- und Medienerziehung sind damit auch gewachsen. Kinder müssen zwischen Umgangswirklichkeit und virtuellen Wirklichkeiten unterscheiden lernen. Immer weniger Frauen und Männer können nach eigener Aussage nicht mehr kochen.

(Heiterkeit bei der CDU)

Ich denke, das ist eigentlich nicht zum Lachen, weil das zur Familie dazugehört.

Handwerkliche Fähigkeiten im Bereich eigener Versorgung werden nicht mehr in dem Maße zu Hause weitergegeben, wie es früher der Fall war. Heute holt man sich vielleicht einen Handwerker.

(Zwischenruf Abg. Vopel, CDU: Schön wär's aber!)

Das gemeinsame Einnehmen von Mahlzeiten, und deswegen gehört auch die Fähigkeit zum Kochen dazu, das eine große Bedeutung für die Kommunikation und eine große Bedeutung auch für das Zusammenleben in einer Familie hat, wird immer seltener.

Tatsache ist auch, dass immer weniger junge Menschen nach Schule und Ausbildung, wenn sie denn überhaupt einen Ausbildungsplatz erhalten, Aussicht auf einen sicheren und langfristigen Arbeitsplatz haben. Den Erziehenden scheint es aber unter diesen gesamten Bedingungen zunehmend schwieriger zu sein, Werte zu vermitteln. Daher müssen sie die Gelegenheit erhalten, sich entsprechende Kompetenzen anzueignen oder dass entsprechende Kompetenzen, die sie haben, gestärkt werden.

Herr Minister Pietzsch, Sie haben in der 4. Sitzung der Enquetekommission "Erziehung und Bildung in Thüringen" ausführlich die Position der Landesregierung zur Familie dargelegt. Ich sage hier, das haben wir nie anders gesehen, auch wenn wir zum Familienbegriff ein anderes Verständnis haben als Sie, auch wenn wir zum Familiengeld konträre Auffassungen haben, auch wenn wir die Änderungen in den letzten Jahren zum Landeserziehungsgeld nicht mittragen, so wissen wir, dass das Land trotz knapper Kassen bemüht ist, durchaus etwas für Familienförderung zu tun.

Aber besondere Unterstützung brauchen neben den Familienzentren eben auch die Erziehungs-, Ehe-, Familienund Lebensberatungsstellen, weil deren Beratungstätigkeit quantitativ und qualitativ gestiegen ist. Der Beratungsgegenstand wird komplexer, deshalb ist eine Kürzung der Mittel wie im laufenden Haushalt eben ein Schritt in die falsche Richtung.

Dazu muss ich auch noch sagen, dass eine Aufzählung in verschiedenen Bereichen in Ihren Schlussfolgerungen, aber auch im Sozialbericht, der hier vor einigen Wochen vorgelegt wurde, von ausgereichten Mitteln in den letzten Jahren eben nicht ausreichend für eine qualitative oder quantitative Aussage ist. Man muss zu diesen Mitteln dazu die Inhalte der Beratungsgegenstände, die Qualität der Beratungsgegenstände und die Quantität hinzuziehen und erst dann wäre die Statistik vollkommen. Aber dort fehlen mir eben zu den ausgereichten Mitteln, die wir ja in den

Haushalten der letzten Jahre selbst nachlesen können, diese Aussagen.

Einige Ursachen, die zur Erhöhung der Beratungstätigkeit führen, habe ich Ihnen ja schon genannt. Auf die Probleme von Arbeitslosigkeit im Familienalltag, die diese mit sich bringt, bin ich heute aber noch nicht eingegangen, in den letzten Monaten sehr wohl. Ich denke aber, dass gerade Probleme von Arbeitslosigkeit ursächlich sind und deshalb eigentlich zuerst mit zu nennen sind.

Sie selbst nannten unter anderem in der Enquetekommission den Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir haben auch schon viel darüber diskutiert. Auch heute ist schon von meinen Vorrednern dazu gesprochen worden. Sie haben gesagt, dass dies alles etwas zu tun hat mit der Akzeptanz von Familie und Grundeinstellungen der Gesellschaft. Dem können wir nur beipflichten. Nur, ich sehe nicht, dass die gesamte Landesregierung dafür etwas tut.

Ich denke, Minister Schuster gehört hier mit ins Boot, doch Familienpolitik wird in diesem Land wohl ausschließlich immer dem Sozialressort zugeschoben. Familie wird in Wirklichkeit aber von Erwerbstätigkeit geprägt. Wir brauchen deshalb Arbeit und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt und Ressortdenken hemmt dabei

(Beifall bei der PDS)

und diesen Schuh muss ich dem Herrn Ministerpräsidenten hinschieben,

(Zwischenruf Abg. Ramelow, PDS: Der ist Essen gegangen.)

weil er dafür zuständig ist, dass es in der Landesregierung eben kein Ressortdenken gibt, das ist aber hier in Thüringen noch nicht aufgehoben.

Darüber hinaus, meine Damen und Herren, braucht Familie materielle Sicherstellung und soziale Absicherung, mehr Steuergerechtigkeit für Familien mit Kindern ist herzustellen sowie eine eigenständige Absicherung für jeden Mann und für jede Frau. Wir brauchen ein existenzsicherndes Kindergeld und für junge Menschen müssen - das wird oft vergessen - die Startchancen bei der Familiengründung verbessert werden.

Zu all dem haben wir in dieser Wahlperiode schon Anträge im Landtag eingereicht. Die Landesregierung hätte zum Handeln verpflichtet werden können, allerdings hat der Landtag unsere Anträge abgelehnt. Deshalb hoffe ich aber, dass im Ausschuss für Soziales, Familie und Gesundheit darüber weiter diskutiert wird und ich hoffe, dass die aufgeschriebenen Schlussfolgerungen der Landesregierung zum Elften Kinder- und Jugendbericht noch einmal durch die Landesregierung selbst ergänzt wird. Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Für die SPD-Fraktion hat sich Frau Abgeordnete Bechthum zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Panse, Sie haben mich einfach herausgefordert, doch noch mal etwas zu sagen.