Protokoll der Sitzung vom 05.06.2003

(Beifall bei der CDU, SPD)

Da die Scheinwerfer so ausgerichtet sind, dass wir gesehen werden, aber wir die Tribüne nicht sehen können, weiß ich nicht, ob Herr Kollege Koch schon eingetroffen ist. Jedenfalls möchte ich ihm stellvertretend für alle Ministerpräsidenten, die uns geholfen haben, gerade, weil er heute anwesend ist, besonders herzlich danken.

(Beifall bei der CDU)

Aus Nachbarn, unerreichbar im nichtsozialistischen Ausland, sind in den letzten 13 Jahren Freunde und Partner geworden - die Bayern, zumal die Franken, die Hessen, die Niedersachsen. Unsere Initiative Mitteldeutschland ist erfreulicherweise allenthalben auf gute Resonanz gestoßen. Zusammenlegen der Länder - nein. Thüringen bleibt Thüringen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Aber, enge Zusammenarbeit nicht nur um Geld zu sparen, sondern auch um effektiver und attraktiver zu werden - ja, enge Zusammenarbeit zwischen den drei mitteldeutschen Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

(Beifall bei der CDU; Abg. Bechthum, Abg. Höhn, SPD)

Meine Damen und Herren, was dem Land wirklich fehlt, sind Arbeitsplätze. 209.000 Arbeitslose im Mai dieses Jahres - 16,7 Prozent, das ist unerträglich und das darf nicht so bleiben. Vor allem darf es nicht noch schlimmer werden. Es fehlt auch in Thüringen nicht an Arbeit, aber weil die Lohnzusatzkosten zu hoch sind, ist sie zu teuer. Den Arbeitnehmern bleibt zu wenig und die Kosten für die Unternehmen sind zu hoch. Wir Deutsche sind nicht konkurrenzfähig in Europa und wir nehmen hin, dass immer mehr Schwarzarbeit geleistet wird - der beste Beleg dafür, es fehlt nicht an Arbeit. Dagegen muss jetzt endlich etwas geschehen, und zwar sofort. Wenn jetzt nichts ge

schieht, geschieht etwas, und zwar etwas Negatives, und darum muss etwas geschehen.

(Beifall bei der CDU)

Die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Krise, die Krise der sozialen Sicherungssysteme, darf sich nicht zu einer umfassenden innenpolitischen Krise ausweiten. Deswegen muss die Stagnation überwunden werden und deswegen darf die Stagnation nicht zur Rezession oder gar zur Deflation führen. Ich selber orientiere mich am Leitbild der sozialen Marktwirtschaft: weniger Staat, mehr Eigenverantwortung.

(Beifall bei der CDU)

Die Agenda 2010 kann ein Anfang werden, zumindest der Anfang vom Anfang. Durchgreifende Maßnahmen sind notwendig und Thüringen sollte bereit sein, an ihnen nach Kräften mitzuarbeiten. In den jungen Ländern allerdings muss mehr geschehen als in den alten. Ich hoffe, dass mein Sonderprogramm Ost nicht in Vergessenheit gerät, und zwar so lange nicht, bis es umgesetzt ist.

(Beifall bei der CDU)

Die Rahmenbedingungen für Investitionen dürfen sich nicht verschlechtern. Was Herr Kommissar Barnier sich zum Ziel gesetzt hat, eine Strukturförderung nach 2006, die sehr nahe am jetzigen Fördervolumen liegt, muss bei den alten Ländern und beim Bund durchgesetzt werden und vor allem die europäischen Förderbedingungen dürfen sich nicht verschlechtern. Was wir aus eigener Kraft tun können, muss natürlich geschehen. Dazu gehört so viel Flexibilität wie möglich, im Tarifrecht und bei den Förderprogrammen. Dass unsere Erwerbstätigenquote über der Erwerbstätigenquote von Hamburg und Schleswig-Holstein liegt, ist ein gutes Zeichen. Dass unser Lohnniveau noch niedriger ist als anderswo ist ein zeitlich befristeter Wettbewerbsvorteil, den wir, so lange er noch besteht, ausnützen sollten. Aber auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur ist notwendig. Halten Sie bitte am Ausbau der ICE-Strecke und am Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung fest,

(Beifall bei der CDU)

die Mitte-Deutschland-Verbindung nicht zuletzt im Hinblick auf die BUGA 2007 in Gera.

(Beifall Abg. Kölbel, CDU)

Seit Monaten wird uns die Finanzierungsvereinbarung für den ICE versprochen, es gibt sie immer noch nicht. Wir müssen die Einlösung deswegen immer wieder fordern, die verbindlich gegebenen Versprechen anmahnen, jede Woche aufs Neue.

(Beifall bei der CDU)

Wir müssen die Schwierigkeiten beim Thema Wasser/Abwasser in den Griff bekommen. Viele Zweckverbände arbeiten ordentlich, aber es gibt auch schwarze Schafe, die unvertretbar hohe Beiträge gefordert haben. Die Thüringer Wasser- und Abwasser GmbH ist gegründet, um dieses Ärgernis zu beseitigen. Sie soll sich der Problemfälle annehmen und wo nötig muss hart durchgegriffen werden.

(Beifall bei der CDU; Abg. Bechthum, Abg. Gentzel, SPD)

Meine Damen und Herren, wir müssen Investitionen in Bildung und Forschung Priorität einräumen. Ausgaben für Bildung und Ausbildung sind Zukunftsinvestitionen. Was die Schule betrifft: Wir haben bei PISA gut abgeschnitten, aber ein guter Platz bei PISA reicht nicht, meine Damen und Herren. Unsere Hochschulen belegen bei allen Rankings Spitzenpositionen, wir haben die meisten Patentanmeldungen unter den jungen Ländern, aber das muss für die Zukunft so bleiben. Wir haben ein flächendeckendes Netz von Forschungs- und Kompetenzzentren, die Wissenschaft und Anwendung miteinander verzahnen und jungen Unternehmern den Start erleichtern. Hinzu kommen das Mediengründerzentrum in Erfurt, das Zentrum für intelligentes Bauen in Weimar, ein Anwendungszentrum für Kunststofftechnik in Ostthüringen, ein Zentrum für Mikro- und Nanotechnologie in Ilmenau und ein Kompetenzzentrum für Strom- und Flächenmanagement an der Fachhochschule Nordhausen. Für Erfurt und Weimar sind die konzeptionellen Vorabeiten so gut wie abgeschlossen.

Meine Damen und Herren, die Bevölkerung wird in Thüringen, wie im ganzen Bundesgebiet, in den nächsten Jahren stark abnehmen. Leider ist es aber in der Tat schwierig, in Deutschland eine wirkliche Debatte über die demographische Entwicklung und die Folgen dieser Entwicklung zu führen. Die Abwanderung ist dabei nur ein Teil unserer Sorgen und erfreulicherweise stehen inzwischen wachsende Zuwanderungsquoten aus den anderen deutschen Ländern zur Debatte. Entscheidend ist, meine Damen und Herren, dass jedes Jahr mehr Menschen sterben als geboren werden. Drei Viertel des Bevölkerungsrückgangs in Thüringen ist darauf zurückzuführen. Bis 2020 müssen wir die Entwicklung akzeptieren. Wir müssen akzeptieren, dass wir in diesem Jahr 2003 36.000 Schulabgänger haben, aber 2010 nur noch 15.000. An dieser Zahl ist nichts mehr zu ändern. Die Vorausberechnungen für 2050 dagegen bin ich nicht bereit zu akzeptieren. Ich glaube nicht, dass Thüringen 2050 nur noch 1,7 Mio. statt heute 2,4 Mio. Einwohner haben wird. Solche Vorhersagen haben in der Vergangenheit nie gestimmt und sie werden auch diesmal nicht stimmen.

(Beifall bei der CDU)

Erfreulicherweise, meine Damen und Herren, erlaubt sich die Wirklichkeit, sich anders zu verhalten, als es statis

tisch über eine zu lange Zeit vorausberechnet wird, schon deswegen, weil man die Wirklichkeit beeinflussen kann, beispielsweise durch eine gute Familienpolitik. Eine gute Familienpolitik wird für 2050 andere Zahlen ausweisen, als die, die in der Fortschreibung heute angegeben werden.

Meine Damen und Herren, Thüringen braucht den Vergleich mit den alten Ländern nicht zu scheuen.

(Beifall bei der CDU)

Eine große Mehrheit unserer Mitbürger stimmt dieser Aussage zu. Dass sich ein starkes Landesbewusstsein entwickelt hat, ist alltägliche Erfahrung, aber sie lässt sich auch durch Umfrageergebnisse belegen. 46 Prozent der Bevölkerung sehen sich zuerst als Thüringer, 28 Prozent zuerst als Deutsche und nur 15 Prozent als Ostdeutsche. Meine Damen und Herren, ein sehr gutes Ergebnis 13 Jahre nach der Wiedervereinigung.

(Beifall bei der CDU)

Thüringen ist wieder selbstbewusst und weltoffen geworden. Die erste Regierungserklärung habe ich überschrieben "Thüringen - Deutschlands Mitte", meine 18. und letzte Regierungserklärung vor diesem Haus ergänze ich durch den Wunsch für die Zukunft "Thüringen - Deutschlands starke Mitte, eine zukunftsträchtige Region im geeinten Europa".

Seit Jahrhunderten hat Thüringen von seiner zentralen Lage profitiert. Menschen aus aller Welt haben sich hier niedergelassen und haben das Land geprägt und seit Jahrhunderten sind Menschen aus Thüringen in andere Länder gegangen und haben dort sichtbare Spuren hinterlassen. Thüringens Zukunft liegt in der Mitte eines Europas, das nicht mehr durch Erbfeindschaften geprägt ist. Die Erweiterung der Europäischen Union bringt sehr viel mehr Vor- als Nachteile. Von Polen, von dem ich hoffe, dass in wenigen Stunden eine Zustimmung zum Beitritt gegeben wird von den polnischen Wählern, vom Baltikum und von anderen mittel- und osteuropäischen Ländern gehen positive Signale für unsere Wirtschaft aus. Es wirkt sich als Vorteil aus, dass wir den wirtschaftlichen Strukturwandel dieser Länder nachvollziehen können und dass wir Hilfestellung leisten können, dass wir - mit einem Wort - eine natürliche Brückenfunktion haben.

Roman Herzog hat einmal gesagt: "Weimar sei Deutschland in nuce". Ich erlaube mir zu sagen, Thüringen ist Deutschland in nuce. Thüringen, das Land, in dem sich Kulturen begegnen und von dem immer wieder neue Impulse ausgehen, das Land der Kultur, nicht nur in seinen Zentren übrigens, sondern auch in den Regionen des Landes. Aber Thüringen steht auch für die Janusköpfigkeit unserer Geschichte, für die Brüche unserer Geschichte, darum ist Dialogbereitschaft gefragt. Niemand wird ja wohl den unmittelbaren Zusammenhang zwischen kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung leugnen. Das

freiheitliche Selbstbewusstsein, das die Thüringerinnen und Thüringer aus der bitteren Lehre der Geschichte gewonnen haben, ist auch eine Voraussetzung für den weiteren wirtschaftlichen Aufbau. Ein Selbstbewusstsein, das den Menschen Zuversicht gibt, auch die noch vor uns liegenden Schwierigkeiten zu bewältigen. Die Liberalitas Thuringiae ist ein kostbares Gut, das es zu stärken und zu mehren gilt.

Meine Damen und Herren, ich gebe mich keiner Täuschung hin und wir sollten uns alle keiner Täuschung hingeben, die kommenden Jahre werden nicht einfacher sein. Sie werden allen Beteiligten viel abverlangen und sie werden nicht leichter werden als die Jahre, die hinter uns liegen. Aber ich bin aufgrund der Jahre, die hinter uns liegen, fest davon überzeugt, so wie wir die letzten Jahre gemeistert haben, werden die Thüringerinnen und Thüringer und werden Sie, meine Damen und Herren, auch die Zukunft meistern. "Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist," sagt Ferdinand Lassalle. Wo er Recht hat, hat er Recht.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Meine Damen und Herren, meinen Freunden möchte ich zurufen: Stellt euch den Realitäten, sagt den Bürgern die Wahrheit, nüchtern und ungeschminkt. Vor den Wahlen und nicht danach.

(Beifall bei der CDU)

Parteien müssen den Mut haben, den Wählern etwas zuzumuten. Parteien müssen die Zukunft zu ihrer Sache machen und nicht nur die Gegenwart. Aber Zukunft ist nicht Besitzstandswahrung und Zukunft ist nicht Wohlstand auf Pump. Manchmal habe ich den Eindruck, wir hätten Gegenwartsparteien und wir bräuchten Zukunftsparteien. In einer gegenwartsorientierten Gesellschaft ist es freilich nicht einfach, die Zukunft zum Thema zu machen. Trotzdem rufe ich meinen Freunden zu: Versucht es, wagt es, redet nicht nur über die Gegenwart, sondern redet über die Zukunft. Frau Birthler, Marianne Birthler, hat auf dem ökumenischen Kirchentag gesagt: "Der Traum von der heilen Welt ist gefährlich. Zum Leben in Freiheit und Würde gehört, auf Wirklichkeit zu setzen statt auf Ideologie, und auf Emanzipation statt auf Erlösung." Wer Politiker für Heilsbringer hält, ist Schuld daran, dass Politiker nicht erreichen, was ihre Aufgabe ist. Aufgabe der Politik ist die Kunst des Möglichen und nicht das Versprechen des Unmöglichen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Meine Damen und Herren, alles hat seine Zeit, so steht es schon im Alten Testament. Für jedes Geschehen gibt es eine bestimmte Zeit, Zeit zum Niederreißen und zum Aufbauen, Zeit zum Streiten und zum Frieden, Zeit zum Pflanzen und zum Ernten. Für mich ist der Zeitpunkt

gekommen, mich als Ministerpräsident zu verabschieden. Ich bin dankbar für mehr als elf Jahre. Als ich kam, konnte ich nur ahnen, worauf ich mich eingelassen habe. Heute weiß ich es und heute bin ich voller Zuversicht für die Zukunft. Meine Damen und Herren, ich bin stolz auf Thüringen.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident Dr. Vogel, für diese Regierungserklärung und das eben überreichte Rücktrittsschreiben. Ich will dessen Inhalt dem hohen Haus nicht vorenthalten:

"Sehr geehrte Frau Präsidentin, hiermit erkläre ich unter Bezugnahme auf Artikel 75 Abs. 1 Thüringer Verfassung und § 4 Thüringer Ministergesetz meinen Rücktritt vom Amt des Thüringer Ministerpräsidenten mit Wirkung vom 5. Juni 2003. Ihnen und Ihren Vorgängern im Amt danke ich für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit über viele Jahre hinweg. Mit freundlichen Grüßen Ihr Bernhard Vogel."

Auch wenn wir vorher, Herr Dr. Vogel, diesen Ablauf genau besprochen hatten, ist es doch ein bewegender Moment jetzt dieses Schreiben in der Hand zu halten. Ich will der Aussprache der Fraktionsvorsitzenden nicht vorweggreifen, deswegen an dieser Stelle nur ein ganz kurzer Dank und Respekt auch von meiner Seite für Ihren Dienst für unser Land über diese elf Jahre. Als Präsidentin des Thüringer Landtags darf ich dabei ganz besonders Ihren ganz persönlichen, wirklich beispielgebenden und immer wieder beeindruckenden Einsatz gerade zur politischen Kultur, zur demokratischen Kultur in der noch jungen Demokratie unseres Landes hervorheben. Das ist für die Zukunftsträchtigkeit und auch Stabilität unserer politischen Ordnung gerade in schwierigen Zeiten nicht hoch genug zu würdigen. Sie haben eben erneut in einer für Sie und, ich denke, für uns alle sehr nahe gehenden Situation ein Beispiel dafür gegeben.

Ich möchte Ihnen als Präsidentin und auch im Namen des hohen Hauses ganz herzlich und ganz ausdrücklich schon an dieser Stelle Dank sagen.

(Beifall bei der CDU, SPD; Abg. Zimmer, PDS)

Gern hole ich jetzt als Präsidentin noch nach, was Herr Ministerpräsident Dr. Vogel bereits getan hat, nämlich den hessischen Kollegen vom Thüringer Ministerpräsidenten, Herrn Ministerpräsidenten Koch, auf der Besuchertribüne zu begrüßen. Herzlich willkommen.

(Beifall bei der CDU, SPD)