Protokoll der Sitzung vom 21.04.2005

(Beifall bei der PDS)

Ein zweites Problemfeld - Wahrung der Verhältnismäßigkeit: Ich habe das Gefühl, in Einsatzsituationen wird oft nicht erst das Arsenal niederschwelliger Taktiken und Mittel ausgeschöpft, bevor die Ultima Ratio zum Zug kommt. Man hat den Eindruck, es wird zu schnell vom rechtlich wie tatsächlich härtesten Mittel Gebrauch gemacht. Ich habe diesen Eindruck, Herr Minister.

Erinnern wir uns an den LKW-Vorfall. Bis heute konnte niemand schlüssig klären, warum es der Polizei nicht gelungen war, den gestohlenen LKW am Bahnübergang Immelborn zu stoppen. Warum wurden keine so genannten Stopsticks verwendet, jene Hilfsmittel, die zum Entweichen der Luft aus den Reifen führen?

(Zwischenruf Abg. Köckert, CDU: Das hat er doch gesagt.)

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Dafür wurde doch der Leitende Oberstaatsan- walt a.D. Sauter eingesetzt.)

Zum Ausbringen von Stopsticks? Nein, Herr Minister, ich komme noch dazu. Wir haben das im Innenausschuss nicht geklärt. Wir haben zwar geklärt, dass angeblich nur jedes zweite Fahrzeug mit diesen Stopsticks ausgerüstet ist, aber wir haben zum Aufenthalt am Bahnübergang Immelborn einiges nicht geklärt. Ich komme nachher dazu.

Eine andere Frage ist uns auch nicht beantwortet worden: Warum wurde eigentlich nicht vorsorglich die örtliche Feuerwehr verständigt? Wäre das nicht sinnvoll gewesen?

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Sollten wir die Feuerwehrkameraden hinstellen, damit sie umgenietet werden oder was?)

Moment. Herr Fiedler, ich habe nur gefragt, warum ist sie nicht verständigt worden.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: 20 Mi- nuten, kennen Sie die Ausrückzeiten, Sie haben doch überhaupt keine Ahnung!)

Auch, meine Damen und Herren, der unselige Einsatz auf dem Erfurter Anger gegen Antinaziproteste genügt nach unserer Ansicht nicht den Anforderungen, die an einen verhältnisgemäßen, besonnenen und ordentlichen Polizeieinsatz anzulegen sind. Warum erfolgte kein gezielter Zugriff auf Störer? Die waren nicht in der Zahl vorhanden, wie sie immer angegeben werden; die zählten wohl kaum zwei oder drei Hände voll. Warum wurde nicht erwogen, die Nazikundgebung zu beenden, da diese nicht effektiv geschützt werden konnte, wenn die Polizei schon verpflichtet ist, Nazidemonstrationen zu schützen? Und warum wird eine Veranstaltung nicht beendet, wenn die Nazis sich Rechtsverstöße schuldig gemacht haben? Nein, Dutzende friedlich Protestierender und Unbeteiligter werden durch die angeblich so glimpfliche polizeiliche Maßnahme „Wasserwerfer“ getroffen. Es gab auch Hiebe und verbale Entgleisungen seitens der Polizei. Einige Teilnehmer klagten über Augenbrennen und Übelkeit, was die Frage nach Zusätzen im Tank der Wasserwerfer natürlich stellt. Und wenn gestern Abend im Hauptausschuss des Erfurter Stadtrats der Einsatz von Pfefferspray oder Ähnlichem negiert wurde, dann verstehe ich die Einsatzleitung endgültig nicht mehr.

Das alles war nicht nur absolut unverhältnismäßig, es war auch ein fatales politisches Signal, das da von Erfurt ausging.

(Beifall bei der PDS)

Jubelnde Neonazis, die einer Polizei Beifall klatschen, Wasserwerfereinsatz zur Musik vom Naziwagen „Das weiche Wasser bricht den Stein“ - dabei würden wir uns doch alle wünschen, dass nach dem Desaster von Pößneck bewusster und aktiver mit dem Problem des Rechtsextremismus umgegangen wird. Herr Minister, einen Vorwurf mache ich Ihnen als Chef der Polizei, des Innenministeriums: Sie haben in Ihrem Bericht gesagt, man hat zweimal dazu aufgefordert, das störende Pfeifen zu unterlassen, weil es die Neonazikundgebung stört.

(Zwischenruf Dr. Gasser, Innenminister: Ach Quatsch!)

Das haben Sie gesagt.

(Zwischenruf Abg. Ramelow, PDS: Na- türlich, das war Ihre Aussage.)

Zwei Durchsagen genau zu diesem Zwecke, zur Unterbindung der Störung.

(Zwischenruf Dr. Gasser, Innenminister: Das ist doch Unsinn. Wegen der Störung und wegen der Aktion, die davon aus- ging, und wegen der Flaschen, doch nicht weil …)

Das klang vorhin ganz anders und da erinnere ich mich nämlich sehr gut an Anfragen hier im Landtag, wo wir nach der Störung von Montagsdemonstrationen in Eisenach gefragt haben, und da hat die Antwort ganz anders geklungen. Ich werde mir das anschauen, Herr Minister.

Nun mag man meinen, das reicht als Belege nicht. Erinnern wir uns doch an Hamburg. Dort bezogen vermeintliche Störer, in Wirklichkeit Zivilbeamte der schleswig-holsteinischen Polizei, massiv Prügel von Thüringer Kollegen und im Verfahren wurde unstrittig festgestellt, das ganz ohne Grund, Anlass und Warnung. War das rechtmäßig, war das verhältnismäßig? Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass einzelnes Fehlverhalten oder ungenügende Ausbildung der Polizeibeamten das Problem ist. Ich vermute einen Defekt in der Thüringer Polizeidoktrin. Die Ausbildung der Polizeibeamten hat vielleicht eine fehlerhafte Ausrichtung, aber mit dem Bildungszentrum in Meiningen haben wir eine Institution, der ich durchaus zutraue, aus den Ergebnissen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Schon in den letzten Jahren, ausgelöst durch den tödlichen Waffeneinsatz der Polizei in Heldrungen, gibt es Bemühungen, beim Schusswaffengebrauch bestimmte Schwellen und Vorsichtsmaßnahmen zu trainieren. Der Grundsatz „nicht schießen - schießen“, die Vermeidung von Salvenabgaben, Nachschüssen und Mitzieheffekten werden trainiert. Trotzdem gab es das traurige Ereignis in Nordhausen, wo ein junger Mann, der in der Innenstadt betrunken gelärmt und mit schweren Gegenständen geworfen hatte, durch einen Schuss aus einer Dienstwaffe der Polizei getötet wurde.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Das wa- ren Pflastersteine. Das Gericht hat ihn freigesprochen.)

Meines Wissens waren es Bruchteile von Gehwegplatten.

(Unruhe bei der CDU)

Hören Sie mir jetzt erstmal zu. Aber war die Abgabe dieses Schusses tatsächlich nötig?

Die Vorgänge in Rudolstadt werden noch untersucht. Aber war die Abgabe von 16 Schüssen in der Innenstadt auf ein Fahrzeug, in dem sich Personen befanden, tatsächlich gerechtfertigt? Da ist nicht die Frage, ob ein Schuss auf den Täter oder ein oder zwei Schüsse in die Reifen gerechtfertigt gewesen wären. Die Frage will und kann ich gar nicht beurteilen, aber ich nehme zur Kenntnis, dass selbst Staatssekretär Baldus diese Frage auch stellt. Dann müssen wir als Opposition sie doch auch stellen dürfen. Wir dürfen doch die Interessen unbeteiligter Dritter in Rudolstadt im Auge haben, wenn wir Fragen: Sind so viele Schüsse vonnöten?

Nach der letzten Innenausschuss-Sitzung und einigen seltsamen Antworten der Landesregierung schwant auch mir etwas. Zusammen mit dem gescheiterten Versuch, den Lkw am Bahnübergang von Immelborn durch Schüsse auf die Reifen zu stoppen, erhebt sich auch mir eine Frage. Die Antworten im Innenausschuss, die Polizisten hätten vielleicht nicht getroffen - derjenige, der die Antwort gegeben hat, mag sich erinnern - oder die Reifen seien zu prall gefüllt gewesen, überzeugen nicht. Haben Sie sich schon einmal gefragt, Herr Minister, ob die von der Thüringer Polizei verwendete Munition, diese so genannten Deformationsgeschosse, bei geringer Wiederaustrittswahrscheinlichkeit mit der Gefahr unmittelbar tödlicher Verletzung und des Verblutens, ob diese Munition...

(Zwischenruf Abg. Groß, CDU: Das war Sachstand an dem Tag, Herr Hahne- mann. Es ist gesagt worden, das wird untersucht.)

Frau Groß, das Problem an der ganzen Geschichte ist, die Frage nach dieser Munition beschäftigt uns schon seit vielen, vielen Jahren. Das war auch Sachstand an diesem Tag im Innenausschuss. Das war ein Thema, das uns schon beim Tod des Mannes in Nordhausen beschäftigte. Was, Herr Minister, wenn auch die Polizeibeamten in Rudolstadt nicht nur sechzehnfach geschossen hätten, sondern auch mit völlig untauglicher Munition? Ist mit der Verformung unter Splitterungsneigung diese Munition für das Schießen auf Sachen eventuell völlig ungeeignet? Dann stellt sich erneut generell die Frage nach der Angemessenheit und der Vertretbarkeit dieser Munition. Es ginge vom Gebrauch dieser Munition gegebenenfalls nicht nur Gefahr für vermutliche Täter aus, sondern auch für die Polizisten selbst und für Unbeteiligte.

Meine Damen und Herren, es muss erlaubt sein, auch über das Leitbild der Polizei zu sprechen. Welches Verhalten ist vorbildlich, welches ist nicht nachahmenswert? Auch wenn viele Sympathien im Krimi dem resoluten Beamten zufliegen, der sich um Vorschriften und Vorgesetzte wenig kümmert und einfach erst mal loslegt - dieses Durch-die-Wand mag zwar telegen sein, ist aber kein taugliches Modell für reale Polizeiarbeit. Stattdessen sollte sich die Polizeidoktrin an Deeskalation, der Situation angepasstem Reagieren, Umsicht und umfassender Lage- und Gefährdungseinschätzung, Mittelabwägung und an kontrolliertem Schusswaffengebrauch orientieren.

Und ein weiteres Moment sollte der Polizei in Ausbildung und Praxis allgegenwärtig sein. Ihr Handeln hat weit reichende Wirkungen. Es löst bei der Bevölkerung Reaktionen aus - doch nicht nur bei uns, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern, die solch polizeiliches Handeln erleben. Polizeibeamte agieren in einem gesellschaftlichen Umfeld und müssen immer auch den Kontext mit bedenken, in dem sie sich bewegen.

Wenn Polizisten zum Zwecke einer Durchsage, Herr Minister, den Lautsprecherwagen von Neonazis erklimmen, um dort, flankiert von braunen Recken und ihren Parolentafeln, Gegendemonstranten zur Besonnenheit zu mahnen, dann muss sich die Polizei über das Bild klar sein, das sie in diesem Moment von sich selbst zeichnet.

(Zwischenruf Abg. Wolf, PDS: Richtig!)

Auch hier gilt: Der einfache und schnelle, in Erfurt sogar auch noch völlig untaugliche Weg, weil die Lautsprecheranlage viel zu schwach war, ist oft nicht der beste. Und wenn man zum Zweck einer deeskalierenden, meine Damen und Herren, die Sie den Wasserwerfereinsatz so verteidigen - Herr Minister, ich lege wirklich Wert darauf, dass Sie mir zuhören,

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU)

auch wenn Sie das nicht glauben mögen -, wenn man zum Zweck einer deeskalierenden Lautsprecherdurchsage die Anlage eines Wasserwerfers benutzt und diesen dafür vor die Gegendemonstration fährt, dann ist das nicht mehr nur paradox. Dann beweist das, worum es der Polizeiführung in Erfurt wirklich ging: um Kraftmeierei, um Drohung und um Eskalation. Hat denn die Polizei keine anderen Lautsprecheranlagen als die in Wasserwerfern? Soll ich Ihnen sagen, was ich am Samstag für eine Idee hatte? Die anwesenden Abgeordneten legen zusammen und kaufen aus Altbeständen der Thüringer Polizei einen Lada mit den Flüstertüten auf dem Dach, damit sie nicht für deeskalierende Maßnahmen gleich Wasserwerfer auffahren müssen.

(Beifall bei der PDS)

Wer von solchen Methoden in solcher Situation Gebrauch macht, der mag sich einbilden, schnell zum Ziel zu kommen, aber er hat wohl einerseits das falsche Ziel, andererseits nimmt er Schäden links und rechts des Wegs in Kauf, die Demokratie in einem traurigen Licht erscheinen lassen.

Meine Damen und Herren, leider ist im Innenministerium die Bereitschaft nicht gestiegen, solche und andere Defizite oder auch Fragen der Belastung der Polizeibeamten, ihrer schlechteren Bezahlung,

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU)

der Strukturpläne und der Motivationsprobleme durch soziale Einschnitte bei der Polizei ehrlich zu thematisieren. Zwar ist die Hemdsärmlichkeit eines Andreas Trautvetter einem anderen Ton gewichen, aber es bleibt die Gefahr, dass sich die Thüringer Polizei weiterhin doch wieder von Panne zu Panne bewegt, auch wenn unbestritten

(Zwischenruf Abg. Groß, CDU: Das wird ja noch Heraufbeschworen!)

- wenn Sie wüssten, Frau Groß, wie wenig Parlamentsreden bewirken - dazwischen nicht wenig, sehr viel erfolgreiche Arbeit liegt, die auch zur Kenntnis genommen werden muss und die auch von uns zur Kenntnis genommen wird. Ob und wie sich Polizeiarbeit und Ausbildung in Thüringen nach den Ereignissen der letzten Wochen verändern, dies zu überprüfen, das wird Aufgabe auch unserer Fraktion und auch der Öffentlichkeit bleiben. Wir stehen hier für einen offenen Dialog, der Polizistinnen und Polizisten nicht diffamiert, der die Polizei kritisch kontrolliert, aber nicht beschädigt,

(Unruhe bei der CDU)

sondern sie auf ihrem Weg zur bürgerschaftlichen Anerkennung unterstützen kann und will. Denn, meine Damen und Herren,

(Zwischenruf Abg. Groß, CDU: Das ist ja ein Witz!)

auch wenn Sie es nicht glauben mögen, auch wir sind der Meinung, wir brauchen die Polizei, wenn wir den Aufgaben gerecht werden wollen, von denen Bodo Ramelow vorhin gesprochen hat - gemeinsam.

(Beifall bei der PDS)

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, sage ich es aus gegebenem Anlass noch einmal, weil ich akustisch nicht ganz vernommen habe, ob seitens des Abgeordneten Fiedler hier Kritik an der Amtsführung vorgenommen worden ist. Ich verweise ausdrücklich auf § 78 Abs. 2 GO: „Beratungsgegenstand und -ergebnis nicht öffentlicher Sitzungen dürfen der Presse und anderen Außenstehenden mitgeteilt werden, nicht jedoch die Äußerungen einzelner Sitzungsteilnehmer...“ - und das war nicht der Fall.

(Beifall bei der PDS)

Ich sage das vorsorglich für alle weiteren Einwürfe.