Der Begriff der politischen Bildung hat in den vergangenen Jahrzehnten eine umfassende Ausdifferenzierung erfahren. In den zurückliegenden zehn Jahren wird er aber zudem immer mehr zum Gegenstand politischer Kontroversen. Und ich finde: Zu Unrecht! Denn fehlende schulische politische Bildung ist angeblich Ursache für Populismus, Extremismus und Terrorismus. Fehlende schulische politische Bildung ist angeblich verantwortlich für mangelnde Wahlbeteiligung und fehlende schulische politische Bildung ist angeblich die Ursache für Demokratiedefizite. Ich glaube dies alles nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Ein auf Schülerorientierung und Aktualität ausgerichteter Politikunterricht ist sogar die Ursache dafür, dass die Menschen im Sinne des lebenslang politischen Lernens in der Lage sind, ihre Bürgerrolle reflektiert und kompetent einzunehmen und selbstbestimmt auszufüllen.
Allerdings ist die schulische politische Bildung – das heißt der Sozialkundeunterricht – in der Tat in Thüringen an drei Punkten stark herausgefordert.
Der erste Punkt ist: Politikunterricht mangelt es in Thüringen in der Praxis häufig an Kontroversität und an Aktualität. Als neues Fach nach der Wiedervereinigung wurden viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Fach nachgeschult, vielfach führt dies auch zu einem sehr engagierten Unterricht in den Schulen. Ein Problem war aber vielerorts zu beobachten: Politische Bildung war häufig auf Institutionenkunde ausgerichtet und weniger auf partizipative und problemorientierte Lernverfahren orientiert. Der Umgang mit politischen Kontroversen im Klassenzimmer angesichts der einseitigen Politisierung von Schule in der DDR stellte in den vergangenen Jahrzehnten die größte Herausforderung für unsere Thüringer Politiklehrer dar.
Die zweite Herausforderung für Sozialkunde in Thüringen sehe ich darin, dass der Anteil des fachfremd erteilten Unterrichts in keinem Fach so hoch ist wie im Fach Sozialkunde. Bedingt durch die Lehrerüberhänge und den kleinen Umfang des Fachs im Schulalltag wurden in den vergangenen Jahren kaum ausgebildete Fachlehrer eingestellt. Über 50 Prozent des Sozialkundeunterrichts werden von Kollegen unterrichtet, die dafür nicht ausgebildet sind. Auch an der Stelle soll sich das Bildungsministerium überlegen, immer die Negativformel zu formulieren: Wir brauchen keine Geschichts- und keine Sozialkundelehrer.
Und die dritte Herausforderung: Politikunterricht soll in 70 Unterrichtsstunden das Unmögliche errei
chen. Sozialkundeunterricht wird am Gymnasium in der 9. Klasse und 10. Klasse mit einer Wochenstunde erteilt. Rechnet man Ferien und Wandertage ab, bleiben also ungefähr 70 bis 80 Stunden à 45 Minuten für politische Bildung in der Schule übrig. An der Regelschule beginnt es ein Jahr eher, allerdings hier in der 8. Klasse sehr stark an soziologischen Themen orientiert. In dieser Zeit, in diesen 70 bis 80 Stunden, sollen Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten in Politik und Demokratiebegriffe vermittelt werden, Kommunalpolitik, Landespolitik und partizipative Formen von Schule erlebt werden, es sollen Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten des Grundgesetzes in das politischen System, in die Parteien, in die Gesetzgebung, in die Wahlen, in die Geschichte sowie die Prinzipien der EU und in alle Institutionen der Europäischen Union, in die Gesetzgebung der EU erworben werden. Die internationale Politik soll in diesen 70 Stunden umfassend kennengelernt werden, UNO, Nato, Bundeswehr und NGOs, alles dazu. Die soziale Ungleichheit und natürlich auch die Herausforderungen durch den demografischen Wandel sind vor einigen Jahren in den Lehrplan hineingeschrieben worden. Hinzu kommen – natürlich auch sehr wichtig – Formen von Extremismus und der wehrhaften Demokratie. Das sind alles Themen des Lehrplans in Thüringen, alles Themen in Sozialkunde, die wichtig und notwendig sind, aber in 70 Stunden eben kaum zu leisten sind.
Das Ganze gilt es mit einer starken Handlungsorientierung zu verbinden, das heißt, den Schülern durch eigene Erfahrung Politik erlebbar zu machen: Problemstudien, Konfliktanalysen, Fallstudium, Planspiele, Fallanalysen, Projekte, Zukunftswerkstatt, Szenariotechnik – alles politikdidaktische Methoden, die im Lehrplan verankert sind. Hinzu kommen das Auswerten von Statistiken, Texten, Karikaturen, Materialien, Referate, aber auch Befragungen, Beobachtungen, Debatten, Diskussionen, Erkundungen, Besuche, Herstellen von eigenen Materialien in Medien, Rollenspiele, Streitgespräche, Umgang mit Fotos- und Bildquellen, Karikaturen, Unterrichtsgespräche, Dilemma-Methode etc., etc. – und das alles, ich sagte es schon, in 70 Stunden. Als Sozialkundelehrer und Dozent in der Lehrerausbildung für politische Bildung weiß ich um die Vielfalt, aber auch um die Wirksamkeit der politikdidaktischen Ansätze, Unterrichtsprinzipien, Methoden, Verfahren und Medien. Allerdings sind diese erfolgreichen problemorientierten und handlungsorientierten Lernmethoden bei 45 Minuten in der Woche kaum realisierbar.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine Fraktion hat schon mehrfach gefordert, wer politische Bildung an den Schulen stärken will, der muss im Kernfach der politischen Bildung ansetzen, dem Sozialkundeunterricht. Es bedarf optimaler Bedingungen für das Fach Sozialkunde. Kein anderes
Fach legt so die Grundlagen für das lebenslange politische Lernen für Politik und Gesellschaft wie dieses Fach. In Thüringen gibt es bereits zahlreiche Möglichkeiten, sich im schulischen und außerschulischen Bereich mit Demokratiebildung zu beschäftigen. Auch die Thüringer Lehrpläne bieten hierfür zahlreiche Ansatzpunkte. Sozialkunde als Unterrichtsfach und insbesondere die diesbezüglich wissenschaftlich empirisch fundierte Fachdidaktik suchen international ihresgleichen. Mit den Professuren für politische Bildung hier an der Universität in Jena und den Vereinigungen der Politikdidaktiker – GPJE – und der politischen Bildner – der DVPB – verfügt Deutschland, aber auch Thüringen über ein einmaliges gewachsenes Potenzial. Dieses Potenzial sollten wir eigentlich auch in einer gemeinsamen Anhörung zu diesem Antrag erörtern, diskutieren, aber leider höre ich, dass dies von den Koalitionsfraktionen nicht gewünscht ist. Die CDU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass der Politikunterricht in Thüringen in allen Schularten möglichst früh ansetzt, mindestens ab der 8. Klasse, besser noch ab der 7. Klasse. Außerdem können wir uns eine Aufstockung auf ein Zwei-Wochenstunden-Fach gut vorstellen. Gerade wegen der von Ihnen, liebe Kollegen von Rot-Rot-Grün, durchgesetzten Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ist es dringend geboten, eher mit der schulischen politischen Bildung zu beginnen. Schade, dass Ihr Antrag an der Stelle auch sehr unkonkret bleibt.
Meine Damen und Herren, wer aber ernsthaft glaubt, politisch-demokratische Bildung kann man nebenbei machen, der irrt. Demokratische Bildung setzt die Reflexion des Wahrgenommenen, des Erlebten und des Handelns voraus. Ohne die Reflexion auf Grundlage politikwissenschaftlicher und soziologischer Erkenntnisse wird jede Art der Partizipation zu reinem Aktionismus. Mein Plädoyer gilt also einer wissenschaftlich reflektierten, auf politikdidaktischen Erkenntnissen fußenden politischen Bildung. Daran fehlt es Ihrem Antrag leider stark. Es ist unsinnig anzunehmen, dass der Mathelehrer, der Biolehrer oder Englischlehrer dies alles nebenbei leisten kann. Wer dies nicht erkennt, wird denselben praktischen Schiffbruch erleiden, wie wir ihn mit Blick auf den verordneten bilingualen Unterricht an unseren Schulen in der Praxis beobachten können. Politische Bildung und Demokratiebildung macht man nicht nebenbei, macht man nicht mit links.
Wenn es Ihnen um den Umgang und den Anstand und um den Respekt der Menschen im gegenseitigen Miteinander geht, wie Ihr Antrag auch ausführt und wir gerade in der Begründung gehört haben, dann ist das natürlich richtig. Aber dann geht es Ihnen nicht um Demokratiebildung oder politische Bildung, sondern um Wertebildung und Benimmunter
Meine Damen und Herren, mit Blick auf das Gesagte wird klar, dass der vorliegende Antrag für meine Fraktion von Rot-Rot-Grün mit sehr heißer Nadel gestrickt worden ist. Er hätte Potenziale, die wir hätten gemeinsam diskutieren können, aber das findet nicht statt.
Ja, eben, und auch da war er schon wenig hilfreich. Ich finde es wenig hilfreich, wenn der KMK-Präsident und aktuelle Bildungsminister Holter dieses Thema zum Schwerpunkt macht und Sie ihn dann hier vielfach zum Handeln auffordern und versuchen, ein Korsett umzulegen.
Ja, bis jetzt habe ich ihn zu dem Thema auch nicht wahrgenommen. Vielleicht wollen Sie ihn tatsächlich ein bisschen antreiben, kann ja sein.
Ich verstehe zweitens diesen Antrag zu diesem Zeitpunkt auch deshalb nicht, weil wir gemeinsam den Bereich der politischen Bildung als einen sehr zentralen Bereich für die Arbeit der Enquetekommission definiert haben. Ich teile in diesem Zusammenhang die von unserem Sachverständigen in der Enquetekommission parteiübergreifend geäußerte Kritik, dass hier wieder einmal Themen zur Beratung im Landtag eingebracht werden, ohne dass die Arbeit der Kommission an diesem Punkt schon abgeschlossen sei. Wenn Sie mögliche Ergebnisse der Enquetekommission vorwegnehmen oder Tatsachen schaffen wollen, die die Kommission gegebenenfalls empfehlen soll, dann ist das das falsche Mittel.
Meine Damen und Herren, das eigentlich konsensorientierte Vorgehen in der Enquetekommission wird mit diesem Antrag einmal mehr unterlaufen. Wir als CDU fragen uns dann tatsächlich stark, warum Sie einerseits versuchen, gemeinsame Anträge in der Enquetekommission hinzubekommen, wo wir uns einig sind, und dann einen sehr elementaren Teil hier ausklammern und zur Beschlusslage bringen, ohne ihn noch mal in der Kommission oder in dem zuständigen Fachausschuss zu beraten. Das ist ein unverständliches Vorgehen.
trags kann ich in weiten Teilen nachvollziehen. Die historische Verantwortung, die Benennung der SED-Diktatur, das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, zu Verfassung, Grundgesetz und wehrhafter Demokratie – alles in Ordnung, gut, dass Sie das durch alle Gremien in Ihrer Koalition gebracht haben. Allein auf die Demokratiepädagogik und die Demokratieerziehung zu setzen, greift allerdings – ich habe es sehr lange ausgeführt – viel zu kurz. Da müssen Sie den Antrag mal lesen
und vor allem den Unterschied zwischen Demokratiebildung und politischer Bildung anschauen. Angesichts der Bekenntnisse zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, zu Verfassung, Grundgesetz und wehrhafter Demokratie wäre die wissenschaftlich fundierte politische Bildung eben eine notwendige und richtige Ergänzung gewesen, nicht allein das Setzen auf Demokratieerziehung.
Wer Punkt II Ihres Antrags studiert, bleibt allerdings ratlos und sprachlos zurück. Oberflächlichkeit, Lippenbekenntnisse, Verdächtigungen, Unterstellungen, fehlende Praxiskenntnis, Schwächung der Lehrerpersönlichkeit sind kennzeichnend für die Masse Ihrer sogenannten Vorschläge.
Ihre Vorschläge offenbaren, dass es Ihnen an überzeugenden Ansätzen und Methoden mangelt. Ihre Vorschläge sind eine Zusammenfassung von bereits in der Realität bestehenden Strukturen und Unterstützungsprogrammen.
Leider kann ich mit Blick auf die Uhr nur noch auf einige Punkte eingehen. Beispielsweise fordern Sie eine demokratische Schulentwicklung. Aber es war genau diese Landesregierung, die das demokratische und basisorientierte Schulentwicklungsprogramm, nämlich die eigenverantwortliche Schulentwicklung, vor einigen Monaten aus Personalgründen geschliffen hat.
Den Punkten 2 und 3 Ihrer Vorschläge mangelt es an dem Wie, an Umsetzungsvarianten, wie Sie es machen wollen. Stattdessen verweisen Sie auf die Landesregierung, die sich mal wieder was einfallen lassen soll – und wir wissen, das dauert ziemlich lange, wenn die sich was einfallen lassen soll – und die liefern soll.
Und dann Punkt 7, ich zitiere: „die demokratischen Werte bei Pädagogen und Pädagoginnen [...] fördern“. Ich empfinde dies als eine erhebliche und unmögliche Unterstellung, die Sie hier machen, dass es unseren Pädagogen in Thüringen an demokratischen Werten mangelt.
Und damit kennzeichnet sich dieser Antrag selbst. Die Punkte 10 bis 17 scheinen in der Tat ein Ausfluss aus dem Drehbuch für die Enquetekommission zu sein. Die Unterstellungen gegenüber den Akteuren des Schulbereichs finde ich anmaßend und einseitig, sind aber auch das, was wir in der Enquetekommission beispielsweise bei der Anhörung der Lehrerverbände erlebt haben. Sie unterstellen einmal mehr ohne Belege aus der Thüringer Schulpraxis rassistische und diskriminierende Phänomene im Unterricht.
Meine Damen und Herren, die Institution Schule, die Thüringer Lehrerinnen und Lehrer, die Thüringer Schülerinnen und Schüler unter einen solchen Generalverdacht zu stellen, können wir nicht mittragen. Sie übertragen Vorurteile auf unser Thüringer Schulsystem und stellen ganze gesellschaftliche Institutionen unter einen Generalverdacht.
Meine Damen und Herren, Schule ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Und wenn Anstand und Respekt in der Gegenwart mehr vonnöten sind, dann sollten wir diese im Umgang gemeinsam pflegen. Wir sollten es aber vermeiden, gesellschaftliche Entwicklungen allein auf die Schule zu projizieren. Die Debatte um Anstand und Respekt im alltäglichen Umgang muss in der gesamten Gesellschaft und nicht nur hinter verschlossenen Klassenzimmertüren geführt werden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, aus den genannten Gründen können wir dem Antrag in dieser Form leider nicht zustimmen. Wir bedauern diesen Alleingang der Koalitionsfraktionen, gerade mit Blick auf die gemeinsame Enquetekommission. Wir sind bereit, diesen Antrag im Bildungsausschuss nochmals gemeinsam zu behandeln und sollte dies nicht gewünscht sein, können wir dieser defizitären Behandlung von politischer Bildung nicht zustimmen. Vielen Dank.
Ja, vielen Dank, Herr Präsident. Mit Bezug auf den Punkt 7 in dem Antrag, den ich jetzt mal vorlese, um das klarzustellen und dann die Frage anzuschließen: „durch die fächerübergreifende Vermittlung von Wissen über Demokratie als Gesellschafts-, Herrschafts- und Lebensform sowie einen lebendigen, durch demokratische Formen bestimmten Schulalltag, die demokratischen Werte bei Pädagoginnen und Pädagogen, Schülerinnen und Schülern zu fördern sowie demokratisches Engagement zu unterstützen“ – wo da die Unterstellung ist, wir würden Lehrkräften vorwerfen, dass damit ein rassistisches Wertesystem flächendeckend über alle Lehrkräfte hinweg intendiert wäre,
Ich habe gesagt, dass dieser Punkt so auszulegen ist und bei der Thüringer Lehrerschaft so zu verstehen ist oder verstanden wird.
So ist auch unsere Rückmeldung, dass ihnen diese demokratischen Werte fehlen. Sie schreiben ja, demokratische Werte bei Pädagoginnen und Pädagogen müssen ausgebildet und unterstützt werden. Und das wird so verstanden, als wenn Sie dort ein Defizit an demokratischen Werten unterstellen. Das ist in keinster Weise so. Denn jeder Kollege unterrichtet so, wie es die Thüringer Verfassung und das Grundgesetz verlangen. Vielen Dank.