Margriet Zieder-Ripplinger

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 100. Jahrestag der Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts, der sich am 01. August 2014 jährt, bringt den Ersten Weltkrieg ins Bewusstsein von uns Deutschen zurück. Der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan hat diesen ersten industriell geführten Massenvernichtungskrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit war ein Krieg vernichtender und brutaler. Niemals zuvor kämpften Armeen in solch gigantischen Größenordnungen. 60 Millionen Menschen wurden in diesem Krieg unter Waffen gebracht.
Am Ende befanden sich drei Viertel der Weltbevölkerung im Kriegszustand. Zwischen 1914 und 1918 starben täglich 6.000 Soldaten. Am Ende des Krieges waren mehr als 17 Millionen Menschen gestorben. Es war ein Krieg, der eine ganze Generation junger Männer quasi von der Schulbank in den Tod
schickte. Erich Maria Remarque hat dies in seinem berühmten Roman von 1929 „Im Westen nichts Neues“ eindrucksvoll geschildert. „Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren achtzehn Jahre und begannen, die Welt und das Dasein zu lieben; wir mussten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an Krieg.“
Millionen kehrten als Verletzte, Verstümmelte oder seelisch oder körperlich Versehrte nach Hause zurück. Europa stand vor dem Abgrund - im wahrsten Sinne des Wortes. Ausgeblutete Nationen und neue Machtverhältnisse waren das Ergebnis dieses Krieges. Mit der Festlegung der Alliierten auf Deutschland als alleinigem Schuldigen und den damit verbundenen Reparationszahlungen wurde darüber hinaus die emotionale Grundlage für den Aufstieg des Nationalsozialismus unter Adolf Hitler in Deutschland geschaffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie haben die Menschen im Gebiet des heutigen Saarland den Ersten Weltkrieg erlebt? Das Saarland in seiner heutigen Ausformung gab es zur Zeit des Ersten Weltkrieges noch nicht. Das Saarrevier hingegen war während des gesamten Krieges Durchmarschregion und Etappe. Die Front verlief zwischen Verdun, Metz und Nancy. In Saarbrücken versammelten sich die Soldaten, um sich an der Front von Verdun zu verteilen, die bis zu den nördlichen Vogesen reichte. Zudem entstanden überall Lazarette, auch in diesem Haus, in dem wir heute tagen.
Im damaligen Saargebiet waren viele Männer eingezogen; mehr als im übrigen Deutschland. Es wurde versucht, sie durch jugendliche Arbeiter und auch russische Zwangsarbeiter zu ersetzen. Auch Frauen wurden in nicht gekanntem Ausmaß zur Schwerarbeit herangezogen. Seit dem Sommer 1915 war das gesamte Industrierevier Ziel von Luftangriffen. Die Zahl der Opfer und die Schäden blieben zwar gering, wenn man das im Zusammenhang eines Krieges überhaupt so sagen kann. Der Krieg zeigte aber ein völlig neues Gesicht. So verschlechterte sich die Versorgungslage ständig. Schon im August 1914 wurden erste Höchstpreise festgesetzt. Im Frühjahr 1915 wurde zuerst das Brot rationiert; danach weitere Nahrungsmittel. Der Winter 1916/1917 hat sich im kollektiven Gedächtnis der Saarländerinnen und Saarländer als Hungerwinter eingegraben. Nach dem Waffenstillstand am 11. November 1918 folgten französische Truppen den zurückströmenden deutschen Soldaten und besetzten die Saargegend. 1920 stellte der Versailler Vertrag das Saargebiet unter das Mandat des Völkerbundes.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der weitere Verlauf der saarländischen Geschichte ist Ihnen hinlänglich bekannt. Darauf brauche ich nicht weiter einzugehen. Allerdings gilt es, an dieser Stelle festzuhalten: Die Grundlagen für die Entstehung der Europäischen Union und damit verbunden die des Saarlandes wurden im Ersten Weltkrieg gelegt, denn die Begründer der Europäischen Union wurden als junge Männer durch den Ersten Weltkrieg stark traumatisiert. Das gilt insbesondere für Robert Schuman, den Initiator des gleichnamigen Plans, der zur Gründung der Montanunion geführt hat.
Nach dem Grauen des Ersten Weltkrieges festigte die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges schließlich die Überzeugung von Robert Schuman, dass die Stahl- und Kohleproduktion in Europa überregional koordiniert und die Rüstungsindustrien der einzelnen Länder in internationale Verträge eingebunden werden müssen, um künftige Kriege in Europa zu vermeiden. Deshalb schlug er am 09. Mai 1950 die Bildung einer europäischen Montanunion vor, die Vorläuferin der heutigen EU.
Die Geschichte hat ihm Recht gegeben. Im vergangenen Jahr wurde der Europäischen Union der Friedensnobelpreis zugesprochen. Damit wurde sie für 60 Jahre Frieden ausgezeichnet. In der Zwischenzeit wird die Europäische Union weltweit als bedeutende Akteurin der Friedenswahrung anerkannt. Die Europäische Akademie Otzenhausen hat zunehmend Nachfragen aus der ganzen Welt von Menschen, die lernen wollen, wie es funktionieren kann, in Frieden ein demokratisches Gesellschafts- und Regierungssystem zu kreieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Saarland erinnert seit vielen Jahren, sogar seit mehreren Jahrzehnten, im Rahmen einer Europawoche, die immer rund um den 09. Mai stattfindet, an die Errungenschaften der Europäischen Union sowie an die Bedeutung der Europäischen Union als Friedenssiegel. Wir brauchen daher im Gedenkjahr an den hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs keine neue Veranstaltungswoche zu erfinden. Wir sind gar nicht so weit auseinander. Denn über die Europawoche hinaus werden wir in diesem Jahr eine ganze Reihe von Bildungs- und kulturpolitischen Veranstaltungen stattfinden lassen, bei denen der besondere Schwerpunkt auf den Widerstand gegen den Krieg, auf Toleranz und Menschlichkeit gelegt werden wird. In diesem Zusammenhang wird der Fokus auf Persönlichkeiten, Begebenheiten und Kooperationsprojekte gerichtet, die gegen den Krieg gewirkt haben. Dieser Aspekt wird auch grenzüberschreitend unter dem Titel „Courage“ lanciert und auf vielfältigen Ebenen vermittelt.
Die junge Generation wird dabei - Sie haben es richtig gesagt, Herr Kollege Bierbaum - im Mittelpunkt stehen. Sie soll vor dem Hintergrund der aktuellen
Entwicklung für die Bedeutung des Friedens in Europa neu sensibilisiert werden. Dabei werden regionale Aspekte berücksichtigt, die den Irrsinn des Krieges im Allgemeinen verdeutlichen, zum Beispiel die Grenze als ständig wechselndes Element, das in der Großregion die Zufälligkeit der staatlichen Zuordnung und der damit verbundenen Familiengeschichten, kulturellen Traditionen und so weiter demonstriert.
Die unterschiedlichen Perspektiven der gemeinsamen Geschichte werden zielgruppenspezifisch und pädagogisch aufbereitet. Es wird eine Reihe „Historisches Quartett“ geben, innerhalb derer Historikerinnen und Historiker aus Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland in der Veranstaltungsreihe „Courage“ geschichtliche Ereignisse aus den unterschiedlichen Sichtweisen diskutieren und interpretieren werden. Die Reihe wird in Kooperation mit der Zentrale für politische Bildung stattfinden. Es wird ein Treffen der Gedenkstätten der Großregion geben mit dem Ziel, sich über geplante Aktionen im Kooperationsraum in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung auszutauschen.
In Kooperation mit dem Saar-Lor-Lux-Elsass-Literaturarchiv und der DRAC Lorraine ist eine Ausstellung mit Lesung geplant, um die pazifistische Sichtweise auf die Jahre 1914 bis 1918 zu stärken. Im Mittelpunkt steht der lothringische Schriftsteller Yvan Goll, der in Deutsch und Französisch schrieb und einer Gruppe von Pazifisten in Zürich angehörte.
Darüber hinaus ist eine Veranstaltungsreihe „125 Jahre Frans Masereel“ geplant. Der belgische Künstler Frans Masereel gehörte ebenfalls zur Gruppe der Pazifisten in Zürich. Er wurde 1947 zum Professor an die Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken berufen. Die Kunstschule war in der Zeit des Nazi-Regimes geschlossen worden. Ihre Neueröffnung gehörte für das französische Haut Commissariat en Sarre zu den Maßnahmen der kulturellen Entwicklung und Stärkung der Demokratie. Masereel, bekannt als Künstler gegen den Krieg, behandelt in seinem Werk das Grauen und den Irrsinn des Krieges und tritt für die Vernunft und die Menschlichkeit ein. Eine Neuauflage seiner Bildromane und eine Wanderausstellung sowie eine von belgischer Seite ausgerichtete Ausstellung in Brüssel im Herbst 2014 sind in Vorbereitung. Das XMLab der HBK plant in Kooperation mit der Masereel-Stiftung und den künstlerischen Hochschulen der Großregion 2014 eine Gastprofessur Frans Masereel und wird sein künstlerisches Werk gegen den Krieg in den Mittelpunkt der Veranstaltung Graphic Novel stellen.
Des Weiteren werden sich saarländische Schulen an dem Projekt „Traces, mémoires, frontières“ der Académie de Nancy-Metz beteiligen. In Abstimmung mit der Landesfachkonferenz Deutsch wird der Lek
türeplan der gymnasialen Oberstufe mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg abgestimmt. Derzeit ist Heinrich Manns „Der Untertan“ verpflichtende Lektüre - mein Sohn ist gerade dabei, sich darauf vorzubereiten. Im nächsten Durchgang wird voraussichtlich ein Werk, das ich eben schon angesprochen habe und das den Ersten Weltkrieg thematisiert, nämlich Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, aufgenommen werden.
Weiterhin ist angedacht, in Form einer kleinen saarländischen Reihe mit saarländischen Autoren, zum Beispiel Ludwig Harig und Johannes Kühn, auch weiterhin Abiturlektüren thematisch mit dem Programm „Courage“ zu verknüpfen. Und da gebe ich dem Bildungsminister noch eine Anregung mit: Bitte nicht die Berufsschulen vergessen, auch dort sollten wir das Thema unbedingt auf die Tagesordnung nehmen.
Es wird eine zweitägige Fortbildungsveranstaltung für interessierte Lehrkräfte und Studierende in Form einer Exkursion an die Marne beziehungsweise nach Reims und Umgebung geben. Diese Veranstaltung wird durch den Geschichtslehrerverband und das Landesinstitut für Medien durchgeführt. Die Exkursion und eine Broschüre sollen Anregung für Lehrkräfte sein, Kulturwandertage und Exkursionen mit Schülerinnen und Schülern an die historischen Gedenkstätten zu unternehmen. Eine Beteiligung von Mitarbeitern der Kriegsgräberfürsorge wird auch da angestrebt. Zurzeit wird ein Didaktikheft erstellt, das allen Schulen zur Verfügung stehen wird. Es enthält konkretes, didaktisch aufbereitetes Unterrichtsmaterial zum Thema deutsch-französische Beziehungen von 1815 bis 1955. Damit wird das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in einen sinnvollen und der Grundintention angemessenen größeren Rahmen gestellt. Ergänzt wird das Didaktikheft durch eine Handreichung zu Orten des Gedenkens. Hierbei handelt es sich um eine Publikation für Lehrkräfte, die Orte des Gedenkens darstellt, mit Hintergrundinformationen versieht und didaktische Kommentare enthält, zum Beispiel zu Verdun, den Schlachtfeldern der Champagne, la Ligne, zu Friedhöfen und Denkmälern.
Sehr geehrte Damen und Herren, all die genannten Aktivitäten sollen eines deutlich machen: In der Großregion liegen die Schauplätze des Ersten Weltkrieges. Jede Teilregion hat diesen Krieg auf ihre Weise, unter ihren nationalen Bedingungen erlebt. Was uns aber alle eint, ist das Bewusstsein und die Erfahrung, dass wir nur im Frieden eine gemeinsame Zukunft haben.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Nicht nur in Gedenkjahren, sondern jeden Tag von Neuem
und auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens.