Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Drucksache 3/7469

Ich eröffne die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt mit dem Beitrag der CDU und gebe der Abgeordneten Schulz das Wort. Bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Neben vielen Aktivitäten, die wir in der Familienpolitik entwickelt haben, beschäftigen wir uns seit nunmehr drei Jahren im

Rahmen einer jährlich durchgeführten Familienkonferenz intensiv mit Fragen der Familienpolitik in Brandenburg. Die Fragen von Erziehung und Bildung, insbesondere der Elternbildung, und der Gewalt an Kindern, aber auch der Gewalt durch Kinder standen dabei im Mittelpunkt der Diskussion mit zahlreichen Fachleuten.

Wir haben uns mit familiären und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auseinander gesetzt, dem elterlichen Versagen zugewendet und festgestellt, dass die häufigste Form der Gewaltanwendung gegenüber Kindern die Vernachlässigung ist. Laut Aussagen von Kinderärzten, die insbesondere im stationären Bereich tätig sind, nehmen aber auch Fälle brutaler körperlicher Gewalt zu. In Berlin zum Beispiel gab es sogar einen Anstieg um 30 %, wobei die Dunkelziffer sehr hoch sein kann. Kinder werden psychisch und physisch misshandelt und oftmals durch die eigenen Eltern oder einen neuen Lebenspartner, aber auch durch deren eigene Unfähigkeit im Umgang mit Problemen misshandelt.

In den Diskussionen wurden aber auch fachliche und sachliche Defizite in den Hilfestrukturen zunehmend thematisiert. Nach Artikel 6 des Grundgesetzes wacht die staatliche Gemeinschaft über die Betätigung der Eltern. Dieses Wächteramt nehmen stellvertretend die Jugendämter wahr. Doch nicht immer sind die Jugendämter personell so ausgestattet, dass sie dieses Wächteramt angemessen wahrnehmen können. Es fehlt Personal oder das vorhandene Personal verfügt nicht über die erforderliche Befähigung oder Qualifikation.

Fehleinschätzungen in der Beurteilung elterlichen Versagens oder Untätigkeit von Jugendamtsmitarbeitern haben in den zurückliegenden Jahren und Monaten immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Trotz zahlreicher Gesetze, die ein Eingreifen ermöglichen, unterbleibt das Handeln, wenn Kindern Gewalt angetan wird oder wenn sie vernachlässigt werden. Es gibt immer wieder traurige Beispiele, die zeigen, dass sich niemand zuständig gefühlt hat. Auch Verwandte und Nachbarn haben lieber weggeschaut - aus Bequemlichkeit, aus Unfähigkeit oder um Ärger aus dem Weg zu gehen.

Es kam auch vor, dass das zuständige Jugendamt bzw. die Polizei trotz gegebener Hinweise nicht oder nicht rechtzeitig eingeschritten ist oder dass Kinderärzte den Verletzungen von Kindern nicht genügend Beachtung schenkten. Für diese mangelnde Erfahrung und die Ignoranz zahlen Kinder fast immer einen sehr hohen Preis. Ich erinnere an die überaus traurigen Fälle auch in unserem Land, einen der zuletzt bekannt gewordenen Fälle, den Fall des kleinen Pascal, oder aber den Fall der beiden verhungerten Kinder aus Frankfurt (Oder). In dem beeindruckenden Dokumentarfilm über die Frankfurter Kinder äußert das Jugendamt: Menschen müssen auch Hilfe wollen. - Für mich ist diese Argumentation etwas zu einfach. Des Weiteren erinnert die Jugendamtsmitarbeiterin an das enge Korsett geltender Gesetze.

Spätestens hier, meine Damen und Herren, gilt es, dieses enge Korsett entsprechend aufzuschnüren. Sind es denn überhaupt die Gesetze oder sind es auch die mangelnde Befähigung, mangelnde Courage, Spielräume zu nutzen und Entscheidungen zu treffen, mangelnde Qualifikation oder auch mangelnde Maßgaben, Kontrollen und Aufsicht, und sind es manchmal auch mangelhaft vernetzte Strukturen, die in das Blickfeld genommen werden müssen?

Es geht nicht darum - das will ich klarstellen -, die Mitarbeiter in den Jugendämtern zu verunglimpfen; denn es ist klar, dass auch dort in einem begrenzten finanzpolitischen Rahmen agiert wird und andererseits mit vorhandenem Personal Leistungen erbracht werden müssen, die zum Teil ein Höchstmaß an persönlichem Engagement und ein Höchstmaß an Qualifikation abverlangen. Hierbei wollen wir die Mitarbeiter nicht im Regen stehen lassen und wollen unsere Systeme auf Verbesserungen abklopfen.

Wenn Misshandlungs- und Missbrauchsfälle künftig auf ein Minimum beschränkt werden sollen, sind alle gefordert, die Augen nicht zu verschließen. Es reicht dann nicht aus, sich auf die gesetzlichen Mindeststandards zurückzuziehen. Ebenso wichtig sind natürlich engagierte Kinderärzte, Polizisten und Juristen, die gegebenenfalls in den Prozess involviert sind, wenn es um Kindesmisshandlung geht, und die dann auch in den entsprechenden Netzwerken von Informations- und Hilfsstrukturen effektiv zusammenarbeiten müssen.

Wir haben über unterschiedliche Möglichkeiten diskutiert, so zum Beispiel auch darüber, ein Kinderschutzgesetz zu initiieren oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufzufordern, sich stärker Erziehungsthemen zuzuwenden. Wenn es Sendungen wie „Du und dein Garten“ oder „Du und dein Haus“ gibt, könnte man doch durchaus auch mit Fernsehsendungen mit Titeln wie „Du und dein Kind“ oder „Die Erziehung deines Kindes“ beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk in diese Richtung agieren und so für Themen der Erziehung und der Familie werben.

(Anhaltende Unruhe)

- Ich weiß nicht, ob das so komisch ist; ich finde es eigentlich nicht komisch.

Im Übrigen hat dazu ein Gespräch von Frau Blechinger mit der Intendantin stattgefunden. Frau Blechinger hat sich auch entschlossen, eine Arbeitsgruppe „Prävention gegen Kindesmisshandlung und häusliche Gewalt“ ins Leben zu rufen, die sich kontinuierlich mit Kindesmissbrauch und Gewalt gegen Kinder befassen und Handlungsstrategien erarbeiten wird.

Auch der Ihnen vorliegende Koalitionsantrag ist in diesem Kontext zu sehen und soll dazu beitragen, die Möglichkeiten, die der Prävention und Intervention dienen, besser auszuschöpfen. Dazu gehören in erster Linie die fachliche Qualifikation und Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern, eine geordnete Fachaufsicht, landesweit geltende Standards und eine geordnete landesweite Qualitätskontrolle.

Wir sind mit unseren Forderungen im Übrigen nicht allein, sondern befinden uns damit in guter Gesellschaft, weil zum Beispiel in der Stellungnahme der Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zum Dritten Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung unter anderem ausgeführt wird:

„Die Landesregierung beschreibt, dass die Qualität und Effektivität einzelner Leistungsbereiche der Jugendhilfe nicht ausreichend entwickelt sind.“

Frau Abgeordnete, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Ja, gerne.

Bitte sehr, Frau Kaiser-Nicht.

Könnten Sie vielleicht während Ihrer Ausführungen - weil ich eigentlich Ihr Anliegen teile - auch Position zur Kindertagesbetreuung beziehen vor dem Hintergrund, dass die CDU ja die Einschränkung des Rechtsanspruchs immer mitgetragen hat und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter vor Ort eindeutig feststellen, dass gerade die von Ihnen genannten Problemfamilien, in denen Vernachlässigung eine große Rolle spielt, jetzt häufig die Kinder nicht mehr in die Kita bringen können, weil sie keinen Rechtsanspruch haben, und demzufolge sehr häufig auch nicht erkannt wird, wenn zu Hause Vernachlässigung oder Gewalt stattfinden?

Ich glaube nicht, dass es die Kita allein ist, in der man diese Problematik dann erkennen kann, sondern dass es da sicherlich noch andere Orte gibt. Ich erkenne an, dass die Kita einer der maßgeblichen Bereiche ist, wo dies zutage treten könnte. Aber die These, dass Kitas - da müsste man jetzt in die Tiefe gehen - und Kita-Erziehung als solche so gut wären für diese Kinder und für deren familiäre Entwicklung, kann ich so nicht ganz nachvollziehen. Wenn ich an den Bericht über Einschüler und die großen Defizite denke, die da beklagt werden, weiß ich nicht, wie ich diese Zusammenhänge dann übereinander bekomme. Das muss ich klar sagen. Ich will allerdings auch sagen, dass ich ganz deutlich für eine ausreichende, aber auch qualitativ hochwertige Betreuung in den Kindertagesstätten plädiere, allerdings auch den Erziehungsauftrag, den die Kita hat, wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen würde, was nach meinem Dafürhalten in letzter Zeit oftmals unterbleibt.

Ich fahre fort mit dem Zitat aus der Stellungnahme der Liga der Spitzenverbände:

„Trotz der anhaltenden Debatte um örtliche und überörtliche Zuständigkeiten und die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung des Konnexitätsprinzips, die fast an eine kommunale Selbstblockade grenzt, verzichtet das Land weiterhin auf die gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit zur Gestaltung einheitlicher Rahmenbedingungen im Land. Diese seit Jahren von der Liga beklagte Schwachstelle ist maßgeblich für die Stagnation der Entwicklung innerhalb der Jugendhilfe verantwortlich. Es werden dringend wirksame und einheitliche Strukturen und Qualitätsgestaltungsinstrumente benötigt, insbesondere vergleichbare vertragliche Rahmenbedingungen, um die Ressourcenverschwendung in immer neuen und langwierigen Verhandlungen mit jedem einzelnen Landkreis zu vergleichbaren Fragestellungen zu unterbinden.“

(Unruhe)

Also ich denke, hier ist eindeutig, dass es Handlungsnotwendigkeiten gibt.

Auch die Jugendministerkonferenz vom Mai 2003 führt in ihrem Punkt 9 - im Übrigen danke ich für die Aufmerksamkeit -, der da heißt „Grundverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe präzisieren“, unter anderem aus:

„Es ist geboten, unter Beachtung der primären Verantwortung der örtlichen Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe den Auftrag unter rechtlichen, fachlichen und finanziellen Aspekten in den Ländern und Kommunen zu konkretisieren und damit auch verbindlicher zu machen.“

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Auch hier ist eindeutig das Handlungsgebot aufgezeigt.

Ich meine, es ist eine sicherlich nicht ganz einfache Diskussion, auch mit den kommunalen Spitzenverbänden, aber ich denke, wir müssen und wir wollen uns der Verantwortung hier stellen. Wir wollen ein Höchstmaß an Qualität, um Kinderleid weitestgehend zu verhindern.

Dieser Antrag ist - zugegeben - nur ein erster Schritt. Die Intention meiner Fraktion, meines Arbeitskreises ging - das muss ich eingestehen - sehr viel weiter und war auch sehr viel konkreter. Ich möchte mich nichtsdestotrotz beim Koalitionspartner dafür bedanken, dass wir diesen ersten Schritt - es kann wirklich nur ein erster Schritt sein - in die Richtung gehen, die Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern. - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei CDU und SPD)

Das Wort erhält die PDS-Fraktion. Für sie spricht die Abgeordnete Faderl.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

„Gesetze, Richtlinien, Verordnungen und sonstige Vorhaben sind nur teilweise geeignet, den dargestellten Problemen zu begegnen, solange die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen eher behindern als fördern. Auch gilt es, nicht nur den erforderlichen Eingriffen in Krisensituationen, sondern vor allem präventiven Möglichkeiten im Vorfeld verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen.“

Sie haben ja so Recht! Aber warum kommt Ihre Einsicht erst nach fünf Jahren, in der vorletzten Landtagssitzung? Sie wollen der Kindertagesbetreuung mehr Aufmerksamkeit widmen? Sie haben doch zweimal den Rechtsanspruch von Kindern auf einen Kita-Platz eingeschränkt, vor allem zulasten der Kinder von sozial schwachen Familien!

(Beifall bei der PDS)

Sie haben dem Abbau von Lehrerstellen zugestimmt, Schulschließungen zugeschaut und erreicht, dass Brandenburgs Schüler in ihren schulischen und sozialen Kompetenzen am En

de der Bewertungsskala zu finden sind. Sie haben mit den jährlichen Kürzungen im Landeshaushalt die Kommunen finanziell nicht ausreichend ausgestattet und mit dafür gesorgt, dass trotz zurückgehender Kinderzahlen dem gestiegenen Bedarf nach Beratung und Hilfe durch den allgemeinen sozialen Dienst und durch Familien- und Erziehungsberatungsstellen nicht ausreichend Rechnung getragen werden konnte. Sie haben strukturelle Gewalt auf Kinder und Familien, auf Vereine und Verbände, die das, was Sie fordern, leisten wollen, ausgeübt.

(Starker Widerspruch bei SPD und CDU)

Wer von Ihnen hat in seinem Wahlkreis Einfluss genommen auf das Modellprojekt „Bildungscontrolling in der Jugendhilfe Brandenburgs“ in den Jahren 1999 und 2000? Haben Sie das schon einmal gesehen?

(Anhaltender Widerspruch bei SPD und CDU - Glocke des Präsidenten)

Da geht es um systemische Ansätze in der Arbeit der Jugendämter, um den Umgang mit Multiproblemfamilien, Jugendarbeitslosigkeit, Supervision, Management in sozialen Organisationen.

(Anhaltende Unruhe)

Was ist mit dem Modellprojekt „Primäre Prävention durch Familienbildung, -förderung und -beratung im Land Brandenburg“ 2001 bis 2003?

(Zurufe des Abgeordneten Schippel [SPD])

Nicht nur in den drei Modellkreisen Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming und Oberspreewald-Lausitz müssen auf der Grundlage von sozialräumlichen Ansätzen Mütter, Väter, andere Bezugspersonen, angehende Eltern, junge Menschen, Institutionen und Personen, mit denen Familien in der Regel in Kontakt stehen, wie Kitas, Schulen, Vereine, Ärzte, Erziehungs- und Familienberatungsstellen, Jugendämter, erreicht werden.

Da reicht der laute Ruf der Politiker nach dem Ehrenamt nicht aus. Hier ist Professionalität nötig,

(Beifall bei der PDS)