Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Oder wenn Sie sich - was ich empfehle - den Dokumentarfilm „Die Kinder sind tot!“, der gerade jetzt veröffentlicht worden ist, über das Martyrium der zwei kleinen Kinder in Frankfurt anschauen, dann werden Sie sehen: Das Jugendamt konnte gar nicht einschreiten, weil das Netzwerk der Menschen ringsherum nicht intakt war, weil niemand diese Entwicklung dort früh genug dem Jugendamt gegenüber zur Anzeige gebracht hat.

Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass die Mitarbeiter der Jugendämter im Land Brandenburg ihren schwierigen Dienst ganz überwiegend kompetent und qualifiziert versehen. Kollege Schönbohm und ich sind uns völlig einig: Jugendschutz und Kinderschutz ist zu allererst kommunale Aufgabe. Wir haben gestern eine von vielen Menschen besuchte Veranstaltung durchgeführt - einige Landtagsabgeordnete waren auch dort, denen ich für ihren Besuch dankbar bin -, auf der wir gemeinsam nach Mitteln und Wegen gesucht haben, wie wir auf der Basis des neuen Kinder- und Jugendschutzgesetzes von 2003 Kinder- und Jugendschutz im Land Brandenburg besser organisieren können. Das kann nicht dadurch geschehen, indem wir neue Gesetze verabschieden, noch mehr Staat organisieren, sondern indem wir diejenigen, die vor Ort mit hoher Kompetenz schon jetzt tätig sind, unterstützen.

Aber ich habe auch den Aufschrei von uns bzw. in den Medien vermisst, als vor einigen Tagen in der Presse das Jugendamt in Beeskow dafür kritisiert worden ist, dass es einer Mutter, die sich kurz nach der Entbindung ihres Kindes als nicht fähig erwiesen hat, dieses Kind zu betreuen, die Erziehungsrechte abgesprochen hat. Da gab es eine Kampagne gegen diese Entscheidung des Jugendamtes und zum Schluss blieb die Entscheidung des Jugendamtes, weil sie alternativlos war.

Die Jugendämter werden hin und her gerissen. Mal wird ihnen vorgeworfen, sie hätten nicht früh genug interveniert, nicht früh genug entschieden, und wenige Wochen später wird den gleichen Jugendämtern mit Unterstützung der Bevölkerung und mit Unterstützung einiger Medien - Sie kennen diese, große Buchstaben - vorgeworfen, dass sie überhaupt entscheiden.

Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Gern.

Bitte sehr, Frau Kaiser-Nicht.

Ich habe zwei Fragen, Herr Minister. Die erste Frage: Sind Sie informiert über die Schlussfolgerungen aus dem Fall Pascal,

was die fachliche Arbeit des Jugendamtes Märkisch-Oderland betrifft, bzw. haben Sie die Absicht, sich darüber zu informieren?

Die zweite Frage: Wie verträgt sich Ihre Absicht, die ich teile, mit der Tatsache, dass solche Fachberatungsprojekte - zum Beispiel STIBB Kleinmachnow - die Präventionsarbeit in Schulen und Kitas leisten, jedes Jahr und jetzt erneut in ihrer Existenz bedroht sind?

STIBB e. V. in Kleinmachnow ist eines der wenigen Projekte, das wir trotzdem weiter gefördert haben. Das bitte ich mit zu berücksichtigen. STIBB in Kleinmachnow ist ein kleines Segment von vielen anderen und das von uns über viele Jahre hinweg am höchsten geförderte Projekt, weil es sozusagen auch Modellcharakter hat.

Was die fachlichen Folgerungen im Fall Pascal betrifft: Dies ist mit dem Jugendamt intensiv besprochen worden und war auch Anlass, in den Qualifizierungsveranstaltungen des sozialpädagogischen Fortbildungswerkes die Kolleginnen und Kollegen, die manchmal auch von uns Politikern in ihren schwierigen Entscheidungen allein gelassen worden sind, weiter zu unterstützen und zu qualifizieren.

Ich glaube, wir müssen uns die Frage gemeinsam stellen: Warum haben wir heute solche großen Erziehungsprobleme? Kinderschutz und Jugendschutz ist Zukunftsschutz. Frau KaiserNicht und all die, die jetzt hier gesprochen haben: Es ist doch ein Problem auch unserer Generation, meiner Generation, dass wir diese Erziehungsaufgabe weniger gut als unsere Eltern, die sie unter schwierigeren Bedingungen, nämlich der Nachkriegszeit, gut bewältigt haben, erfüllt haben, dass wir an dieser Stelle auch ein gutes Stück versagt haben.

Wir reden hier nur über Gewalt. Worunter leiden Kinder am meisten? Worunter leiden Kinder in den Schulen so, dass Lehrer und Schulleiter mir erzählen, sie hätten oftmals stundenlang zu tun, bis sie die Kinder schulfähig gemacht haben, jeden Tag neu, wenn sie von der Heimatfront kommen, nämlich von den häuslichen Auseinandersetzungen, weil unsere Generation stärker als die Generation vor uns in die Selbstverwirklichung investierte...

(Frau Osten [PDS]: Das wissen wir schon lange!)

- Ja, das wissen wir schon lange, aber wir müssen es auch zur Sprache bringen.

Wir können als Staat das nicht immer substituieren, sondern Familienbindung geht nicht ohne Familienbildung. Wir müssen die Familien unterstützen, damit sie ihrer Aufgabe besser nachkommen. Das ist sozusagen die allererste Bürgerpflicht.

(Beifall bei der SPD)

Ich kann jetzt nicht alles im Einzelnen ansprechen. Aber wir reden ja im Ausschuss weiter darüber. Ich bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie einmal mehr auf dieses wichtige Thema aufmerksam gemacht haben. - Vielen Dank.

(Beifall bei SPD und CDU)

Wir sind am Ende der Rednerliste und kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der Koalitionsfraktionen in der Drucksache 3/7469 folgt, möge die Hand aufheben. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist er mehrheitlich angenommen.

Ich schließe Tagesordnungspunkt 14 und rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Schulgesetz flexibilisieren

Antrag der Fraktion der DVU

Drucksache 3/7471

Ich eröffne die Aussprache mit dem Beitrag der beantragenden Fraktion. Frau Abgeordnete Fechner, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Plötzlich und ganz unerwartet gibt es nicht mehr genug Schüler in Brandenburg, um an jeder weiterführenden Schule 7. Klassen einzurichten. Niemand hat das kommen sehen. Deshalb war auch niemand in der Lage, Gegenmaßnahmen zu ergreifen oder die Schullandschaft auf diese neue Situation vorzubereiten.

Diesen Eindruck kann man zumindest bekommen, wenn man sich die Reaktionen in unserem Land ansieht. Da gibt es Heulen und Zähneklappern, Kreistagsbeschlüsse, Demonstrationen, Unterschriftensammlungen und vieles mehr. Nicht zu vergessen: massenhaft Schuldzuweisungen und Unschuldsbeteuerungen.

Doch in Wirklichkeit kommt diese neue Situation ganz und gar nicht plötzlich und erst recht nicht unerwartet. Alle Veranwortlichen wissen seit Jahren Bescheid. Der Wendeknick erreicht jetzt die weiterführenden Schulen.

Die Kinder, die aufgrund des drastischen Rückgangs der Geburtenrate in den Jahren 1990 bis 1993 nicht geboren wurden, fehlen heute in den 7. Klassen. Diese Kinder fehlten in den vergangenen Jahren auch in den Kindertagesstätten und später in den Grundschulen. Es mussten Einrichtungen geschlossen und Mitarbeiter entlassen werden. Jetzt erleiden Gesamtschulen, Realschulen, Gymnasien und die dort Beschäftigten das gleiche Schicksal. In wenigen Jahren sind die gymnasialen Oberstufen und die berufsbildenden Schulen dran. So weit, so schlecht.

Die Schulverwaltung muss darauf reagieren. Wenn es nicht genügend Schüler gibt, die sich für die 7. Klasse an einer bestimmten Gesamtschule, einer bestimmten Realschule, einem bestimmten Gymnasium anmelden, dann kann dort eben keine 7. Klasse eingerichtet werden. Schließlich gibt es Gesetze und Richtlinien und die müssen eingehalten werden.

Doch ist das wirklich der Weisheit letzter Schluss? Sollten wir nicht spätestens seit dem katastrophalen Abschneiden der brandenburgischen Schüler beim PISA-Vergleich wissen, was wir mit dem sturen Vorschrifteneinhalten erreichen, dass wir damit nie auf einen grünen Zweig kommen?

Aktuell müssen sich an einer weiterführenden Schule mindestens 40 Schüler anmelden, damit zwei 7. Klassen eingerichtet werden können.

(Klein [SPD]: Ausnahmefall 30!)

- Herr Klein, ich komme dazu. Es gibt auch noch höhere Mindestzahlen für bestimmte Schulformen und niedrigere für besondere Ausnahmefälle. Aber ich nehme die Zahl 40, weil sie für die meisten Schulformen zutrifft.

Also 40 Schüler müssen her, damit die Mindestzügigkeit eingehalten wird. Melden sich an einer Realschule nur 29 Schüler an, dann gibt es an dieser Realschule keine 7. Klasse. Die 29 Schüler werden auf andere Realschulen verteilt. Wenn sie halbwegs Glück haben, landen sie an einer Realschule im gleichen Ort, die als zweite Wahl angegeben wurde. Wenn sie Pech haben, schickt man sie auf eine Realschule, die zig Kilometer entfernt ist. Abgesehen von dem langen Schulweg kommen hier dank der bekannten Sparsamkeit der Landesregierung auch noch die Fahrtkosten ins Spiel. Möglicherweise landen einige Schüler dann doch auf einer näher gelegenen Gesamtschule, weil sich die Eltern die Fahrtkosten zur Realschule nicht leisten können.

Viele Gemeinden sind überhaupt nicht von der Aussicht begeistert, an der örtlichen Schule keine 7. Klasse zu haben. So eine Schule ist nämlich durchaus auch ein Standortfaktor. Potenzielle Zuwanderer werden es sich zweimal überlegen, ob sie in einen Ort ziehen, an dem ihre Kinder keine geeignete Schule finden.

Auch Lehrer sind nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch Steuerzahler, die abwandern könnten, wenn ihr Arbeitsplatz der demographischen Entwicklung zum Opfer fällt. Deswegen wird verhandelt und gerechnet und probiert, ob man nicht eventuell doch... Aber dem steht das Schulgesetz entgegen. In § 103 steht ganz deutlich:

„Schulen müssen die für einen geordneten Schulbetrieb erforderliche Zahl von Parallelklassen... haben. Sie müssen mindestens zweizügig organisiert sein.“

Deswegen kommt die nahe liegende Möglichkeit nicht infrage, diese 29 Schüler in einer 7. Klasse an der gewünschten Schule zusammenzufassen. Hier setzt unser Antrag an. Denn bei einigen wenigen Schulen ist abzusehen, dass sie zwar in diesem und vielleicht auch im nächsten und übernächsten Jahr nicht ausreichend Schüler für die Einhaltung der Mindestzügigkeit zusammenbekommen, dass aber danach die demographische Kurve wieder nach oben geht und genügend Schüler vorhanden sein werden.

Viele Nachteile und Probleme könnten vermieden werden, wenn man solchen Schulen eine befristete Ausnahmegenehmigung erteilen würde. Dann gäbe es an dieser Schule in diesem und im nächsten Jahr eben nur eine 7. Klasse und im übernächsten Jahr wieder zwei oder mehr 7. Klassen.

Das wäre zwar vielleicht nicht der von § 103 geforderte „geordnete Schulbetrieb“ und es würde auch einige Anforderungen an die Schulorganisation stellen, aber der Schulstandort wäre nicht gefährdet. Die Schüler könnten an die von ihnen gewünschte Schule gehen. Es entstünden weniger Fahrtkosten usw. usf.

Der Antrag meiner Fraktion zielt auf eine Flexibilisierung des Schulgesetzes, damit im Interesse aller zeitnah auf die aktuelle Problemlage reagiert und eine jeweils passende Lösung gefunden werden kann. - Zunächst einmal bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der DVU - Klein [SPD]: „Zunächst einmal“ - ist das eine Drohung?)

Das Wort geht an die Koalitionsfraktionen. Für sie spricht der Abgeordnete Klein.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der DVU impliziert die Vorstellung, dass man mit der zeitweiligen Einzügigkeit von 7. Klassen ein Problem lösen kann, das so einfach nicht zu lösen ist. Damit ist also der Lösungsvorschlag der DVU so einfach und so unmöglich.

(Zuruf von der DVU)

Denn was würden wir damit erreichen? Als ich vor ungefähr zehn Jahren auf dem gleichen Ideenstand war, wie es jetzt die DVU ist, habe ich gesagt: Wir können es doch leichter haben und machen eine Einzügigkeit, dann behalten wir mehr Schulen.

(Zuruf des Abgeordneten Schuldt [DVU])

Ich habe mich belehren lassen und kann mich dieser Belehrung nicht verschließen. Ein qualitätsgerechter Unterricht in der Gesamtschule des Landes Brandenburg ist in der Sekundarstufe I nur möglich, wenn man die Zweizügigkeit garantiert. Wenn man davon abweicht - und wir weichen in dem Sinne ja schon davon ab, dass wir die Zahl der Schüler heruntersetzen, die in Ausnahmefällen ausreicht, um zwei Klassen zu bilden, nämlich 30 -, dann ist das wirklich der letzte Schritt, den man tun kann. Der andere, Einzügigkeit zu garantieren, hat die Konsequenz, dass die Qualität des Unterrichts nicht gesichert ist und außerdem wäre er natürlich auch mit einer finanziellen Mehrbelastung des Landes verbunden. Dieser Mehrbelastung können wir uns nicht stellen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie vereinzelt bei der CDU)