Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Unsere DVU-Fraktion hat mit ihren mittelstandspolitischen Leitlinien „Quo vadis Brandenburg? - Perspektiven für kleine und mittelständische Unternehmen“ bereits vor zwei Jahren gangbare Lösungen insbesondere im Bereich Entbürokratisierung, Vereinfachung der Rechtsprechung, Schul- und Berufsausbildung nach den Erfordernissen des Arbeitslebens, Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme sowie massive Steuersenkungen durch Subventionsabbau aufgezeigt. Sie und Ihre Kollegen in der Bundesregierung bräuchten diese eigentlich nur konsequent umzusetzen und wir hätten den viel versprochenen und beschworenen Aufschwung Ost, meine Damen und Herren. - Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der DVU)

Das Wort geht an den Ministerpräsidenten.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was ist in den letzten Wochen eigentlich passiert? Wir haben eine heftige, eine intensive Diskussion um den Aufbau Ost; eigentlich eine Angelegenheit, um zu sagen: Richtig so, es wird Zeit, wir können uns freuen, dass diese Debatte läuft. Diese Freude und dieser positive Geist hat sich aber so - zumindest in den ersten Wochen dieser Diskussion - überhaupt nicht eingestellt. Das hat Ursachen.

(Zuruf von der PDS: Richtig!)

Vielleicht liegt es an der Mentalität unseres Landes, unseres Volkes. Wir neigen ja zu Schwarz-Weiß-Malerei. Vielleicht liegt es auch an der Medienlandschaft, dass Differenzierung,

die nötig ist, in dieser Diskussion kaum vorkommt. Dann haben wir noch die Eigenschaft, dass wir uns, wenn eine Schwarz-Weiß-Diskussion läuft, dem Schwarz sehr hingeben und das ausführlich schildern und auswalzen. Das hat Folgen, und zwar keine guten Folgen. Deshalb will ich das hier wenigstens erwähnt haben.

Welche Folgen sind das? Ich sehe mindestens zwei. Die Meldung „Aufbau Ost ist gescheitert - Milliarden und Abermilliarden sind versenkt“ führt im Westen der Bundesrepublik - das spürt man auch, das hört man, das liest man und weiß Gott nicht nur bei unwesentlichen Zeitungen - zu der Meinung: Die haben es einfach nicht hinbekommen. Wir haben uns gemüht, wir haben gezahlt, wir haben rübergegeben, aber sie haben es nicht geschafft.

Das hat natürlich zur Folge, dass bei den Bürgerinnen und Bürgern - wir haben in den vergangenen Jahren viel Solidarität aus Westdeutschland erfahren, das will ich hier auch sehr deutlich sagen -, die dafür mit gezahlt haben, bei den Kommunen, die natürlich auch in Westdeutschland zugunsten des Osten Deutschlands abgegeben haben, nun die Haltung aufkommt: Jetzt ist aber Schluss! Erstens haben wir selbst Sorgen. Zweitens: Wenn die mit dem Geld nicht richtig umgehen können, nichts daraus machen und nur ein gescheiterter Aufbau übrig bleibt, dann ziehen wir jetzt einen Strich und sie können zusehen, wie sie alleine weiter kommen.

Durch solch eine Diskussion wird Solidarität, die wir dankbar empfangen haben, entwertet.

Es gibt noch eine zweite Folge und die spürt man, wenn man beispielsweise Journalisten aus dem tiefen Westen unseres Landes Interviews gibt. Da lautet die erste Frage - wobei man sich fragen muss, ob das noch eine Frage ist -: Der Aufbau Ost ist gescheitert, die Milliarden sind versenkt. Was sagen Sie eigentlich dazu? - Damit ist die Frage schon so gestellt, dass man in der Defensive ist, nur noch im Verteidigen.

Eine Folge gibt es schließlich auch hier im Osten und die spüren wir ebenfalls bei den Menschen: Wir brauchen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte weiterhin Mut. Wir müssen weiter mit Engagement rechnen. Wir müssen Geduld erzeugen und viel Kraft. Wenn man aber so etwas vorhergesagt bekommt, liest und hört, dann kann einem der Mut auch vergehen. Oder es kommt in Ost und West eine Haltung auf, die eher zur Spaltung führt, weil sich die einen unverstanden fühlen und die anderen die Meinung haben: Wir haben zu viel hineingesteckt und die haben es nicht hinbekommen.

Deshalb bemühe ich mich seit Wochen, einen Beitrag zu leisten, um die Diskussion erst einmal vom Kopf auf die Füße zu stellen und zu versachlichen. Denn wir brauchen diese Debatte. Das ist ja aus den Diskussionsbeiträgen heute früh sehr deutlich geworden. Sie kommt auch zur rechten Zeit. Aber wir müssen sie mit den richtigen Ausgangsbedingungen und den richtigen flankierenden Bedingungen führen.

Ich denke, zwei Dinge müssen wir uns wenigstens vergegenwärtigen, wenn wir die Ausgangssituation richtig beschreiben wollen. Um auch erbrachte Leistung realistisch einschätzen zu können, muss man sagen: Erstens wird bei der Verkürzung der Debatte - aus meiner Sicht zumindest - komplett negiert, dass wir nicht einfach 1990 weitergebaut haben, dass nicht schon

ganz viel vernünftig dastand und wir noch ein Modul hinzugesetzt haben, so wie man sich Entwicklungen normalerweise vorstellt. Vielmehr haben wir es mit Bedingungen, die bekannt sind, die ich hier auch nicht noch einmal referieren will, zu tun gehabt, in ganzen Landstrichen erst einmal eine völlige Deindustrialisierung hinter uns zu bringen, eine Deindustrialisierung, die kein anderer Landstrich der Bundesrepublik, außer hier im Osten, seit dem Zweiten Weltkrieg erleben musste.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Wiebke [SPD] - Vietze [PDS]: Es wurde gut daran verdient!)

Wenn man sich allein das Beispiel Rathenow vor Augen hält es ist fast jedem im Land Brandenburg gegenwärtig: Bis 1990 waren ca. 6 000 Frauen und Männer in der optischen Industrie beschäftigt. Zwei Jahre später verdienten noch 250 Menschen damit ihr Geld. Dann bedurfte es einer sehr großen Anstrengung, Rathenow Stück für Stück mit Ankerinvestitionen - ich will da auf jeden Fall Fielmann erwähnen -, aber auch mit einem Netzwerk von mittlerweile 15, 16 Firmen zu versehen, sodass wir heute in der optischen Industrie wieder anderthalbtausend Menschen in Lohn und Brot haben und sagen können: Jede zweite Brille in Deutschland kommt aus Rathenow.

(Beifall bei der SPD sowie der Abgeordneten Blechinger [CDU])

Aber das war eine Kraftanstrengung fast vom Ausgangspunkt null. Das darf man nicht vergessen.

Dann, meine Damen und Herren, gibt es für mich noch einen zweiten Punkt.

(Zuruf der Abgeordneten Osten [PDS])

Das ist ein sachlicher, ein objektiver Punkt, den man auch nicht wegdenken kann. Wir wurden bei der Vereinigung nur auf den wenigsten Feldern wirklich als Produzenten gebraucht.

(Zurufe von der PDS)

Das ist ein objektiver Sachverhalt. Wir waren als Konsumenten durchaus willkommen, wurden aber als Produzenten nicht benötigt. Es hat auf vielen Feldern gereicht. Es wurde uns nicht selten mitgeteilt: Wir brauchen die Bänder nur ein bisschen schneller zu stellen und dann ernähren wir euch mit. - Das heißt, was hier an Wertschöpfungsbasis wieder entstehen sollte, musste zum größten Teil im Kampf gegen bestehende Wertschöpfungspotenziale anderswo in Deutschland oder in Europa erst einmal geschaffen werden. Es gab nicht die großen Lücken, in die man hineinstoßen konnte, wo praktisch ein Vakuum war und wir es nur auffüllen mussten. Wir mussten uns jeden Quadratmeter Produktion wirklich erst erobern.

Mich beschwert dann schon, wenn ein Kollege aus Westdeutschland wie Herr Müller aus dem Saarland sagt, wir hätten das nicht gebacken gekriegt und er müsse jetzt aufpassen, dass der Aufbau Ost nicht zum Abbau West werde. Gerade aus dem Saarland wäre ich vorsichtig mit solchen Äußerungen und würde einmal in meine Bücher gucken, welche Transferleistungen ich seit vielen Jahren empfange.

(Beifall bei der SPD)

Von daher, glaube ich, müssen wir wirklich dafür sorgen, dass wir eine gute und vernünftige Diskussion haben.

(Zuruf des Abgeordneten Homeyer [CDU])

- Ich schließe da keinen aus, Herr Homeyer, das habe ich oft genug gesagt. Aber zumindest sehe ich schon noch einen Unterschied, ob jemand aus einem Bundesland, das selbst zu den Zahlerländern gehört, etwas sagt oder jemand, der zu den Nehmerländern gehört.

(Zurufe von der CDU)

Da gibt es schon noch graduelle Unterschiede.

(Beifall bei der SPD - Zuruf des Abgeordneten Vietze [PDS])

Meine Damen und Herren, es gibt zwei ganz klare Indikatoren für das, was in diesen 14 Jahren abgelaufen ist. 80 % der Wertschöpfungspotenziale sind komplett neue Wertschöpfungspotenziale. Prozentual fast genauso viele Frauen und Männer in unserem Land haben mindestens einmal in diesen 14 Jahren einen neuen Beruf erlernen und ausüben müssen. Das sage ich vor dem Hintergrund, dass „subkutan“ in der Diskussion der Vorwurf mitschwingt: Ihr im Osten seid nicht mobil, nicht flexibel, nicht engagiert genug. - Ich glaube, mit diesem Grad an Engagement, mit der Mobilität und Flexibilität - übrigens teilweise aus dem Zwang heraus, dass es keine andere Möglichkeit gibt; denn wer fährt freiwillig 100 Kilometer zur Arbeitsstelle? Viele müssen dies oft tun, weil es in der Nähe keine Arbeit gibt -, kann davon keine Rede sein. Wenn eine solche Mobilität und Flexibilität in Stuttgart und München vorhanden wäre, hätten wir manches Problem weniger in Deutschland. Das sollte man auch ganz klar sagen.

(Beifall bei SPD und PDS)

Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt eine ganze Palette von Vorschlägen und haben auch heute früh noch einige gehört. Als ersten und plakativen Vorschlag erwähne ich Sonderwirtschaftszone. Dagegen wäre an sich nichts zu sagen, wenn sie eine realistische Chance hätte, wirklich umgesetzt zu werden. Die hat sie nicht mehr.

Da steht nicht einmal die Frage, ob es rechtlich zulässig wäre, ob es EU-beihilferechtlich möglich wäre, sondern die Frage muss man ganz anders stellen: Gibt es dafür noch eine politische Mehrheit? Der Vorschlag lag in den 90er Jahren dreimal auf dem Tisch. Er ist heftig diskutiert worden und hat nie eine politische Mehrheit bekommen. Ich will dazu bemerken: Wenn es in der Situation, in der heute öffentliche Kassen sind, um Steuerbefreiungen oder zumindest Steuervorteile geht, muss man, wenn man solch einen Vorschlag macht, gleich sagen, wer - bitte schön - die Steuermindereinnahmen tragen soll.

Für den Zuständigkeitsbereich, in dem wir hier gemeinsam Verantwortung zu tragen haben, kann ich nur sagen: Die Kommunen und das Land Brandenburg könnten solche Lasten nicht mehr zusätzlich tragen. Deshalb sollten wir über Dinge diskutieren, die wirklich realistisch sind, und nicht über Dinge, die - zumindest aus meiner Sicht - zum größten Teil schon abgegessen sind.

Es gibt ein weiteres Feld: Niedriglohngebiet. Dabei hat es übrigens aus einer Pressekonferenz mit Minister Junghanns heraus ein Missverständnis gegeben. Er hat das inzwischen klipp und klar gesagt.

Natürlich ist das Lohnniveau bei uns zum Teil erheblich niedriger als in Westdeutschland. Das ist etwas, was man auch sagen kann, weil das nämlich dazu führt, dass manche Investoren überhaupt noch hier sind bzw. hier geblieben sind. Aber wenn das so missverstanden wird, dass das die Zukunftsvision sein soll, dass also unsere Strategie darin liegen könnte, mit Niedriglöhnen Felder zu erobern, wirtschaftlich zu bestehen und Arbeitsplätze zu schaffen, dann wäre das genau der falsche Ansatz; denn heute werden wir mit polnischen Lohnniveaus verglichen, morgen käme mit Sicherheit der Vergleich mit Weißrussland, und übermorgen würde man schauen, was in China verdient wird. So kann man Zukunft nicht gestalten. Das können wir hier in Brandenburg nicht machen. Das kann nicht die Strategie sein.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei CDU und PDS)

Lassen Sie mich jetzt auf ein weiteres Thema zu sprechen kommen: weitere Einschränkungen bzw. Abbau von Arbeitnehmerrechten. Deregulierung am Arbeitsmarkt klingt schöner und deshalb wird das meist auch so gesagt.

Ich bin da aus zwei Gründen ausgesprochen skeptisch. Erstens: Wer sich anschaut, wie die realen Verhältnisse in Brandenburg sind, wie groß beispielsweise noch die Tarifbindung der Betriebe in Brandenburg ist, oder wer ins praktische Leben schaut, in Unternehmen geht und mit Belegschaften und Chefs spricht - in vielen Fällen sind die Betriebe ja gar nicht groß -, wird feststellen, dass dann, wenn der Chef am Donnerstag sagt - ob es den Arbeitnehmern passt oder nicht; jedenfalls wissen sie, worum es geht - „Wir haben Aufträge und müssen deshalb am Sonnabend und am Sonntag arbeiten“, das auch gemacht wird; da wird kaum noch ringsherum gefragt. Was da noch dereguliert werden soll, ist mir manchmal ein Rätsel.

Das Zweite ist inhaltlich noch schwerer wiegend. Wenn das Heil darin läge, dass durch weniger Tarifbindung, weniger Regelungen auf dem Arbeitsmarkt der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte, dann müssten wir bei der in Ostdeutschland inzwischen sehr niedrigen Regelungsdichte längst Aufschwunggebiet geworden sein, und zwar Aufschwunggebiet allererster Güte.

(Beifall bei SPD und CDU)

Das kann also nicht der Schlüssel zum Erfolg sein. Das ist so ähnlich wie die Debatte, die wir um die Staatsquote führen. Da ist es vor zwei Wochen etwas ruhiger geworden, als die skandinavischen Länder noch einmal deutlich gemacht haben, welche Wachstumsraten sie trotz ihrer hohen Staatsquote haben. Das alles muss man also sehr vernünftig miteinander diskutieren.

Für das, was wir in Brandenburg wirklich brauchen, gibt es in der Debatte inzwischen vernünftige Vorschläge. Die Rede ist da von Kernen, von Branchen und von Clustern, wobei die Umsteuerung in Brandenburg nicht erst nach der nächsten Wahl erfolgen wird. Dazu können Sie auch in meine letzte Regierungserklärung schauen. Wir sind schon lange dabei, Stück für Stück - so etwas lässt sich in Gesellschaften nicht machen,

indem man einen Schalter umlegt - konzentrierter zu fördern, zielgenauer zu fördern, in Zukunftsfelder hinein zu fördern. Das müssen wir auch; das ist überhaupt keine Frage. Hier war auch mehrfach die Rede davon, dass im Jahre 2019 der zweite Solidarpakt auslaufen wird. Wer die Hoffnung hat, dass es einen dritten Solidarpakt geben wird - diese Hoffnung hat wohl kaum noch jemand -, der wird feststellen, dass diese Hoffnung trügt. Also müssen wir bis dahin auf eigenen Beinen laufen können.

Außerdem haben wir noch das demographische Problem, über das wir heute Nachmittag diskutieren werden. Das sind zwei Herausforderungen, die uns Anlass zum Nachdenken geben müssen, auch Anlass geben müssen - wie es Frau Blechinger vorhin sagte -, Fehler zu analysieren - dabei müssen wir offen und klar sein; das wird erwartet, auch von denen, die Transferleistungen erbringen - und aus den Fehlern zu lernen, es anschließend besser zu machen.

Lassen Sie mich hier einen Gedanken anfügen. Es wird die Frage gestellt, warum wir nicht schon seit 1990 in die Wachstumskerne bzw. in die Zukunftsbranchen hinein gefördert haben, also auch in die Branchen, von denen wir hier jetzt schon leben und von denen wir auch in der Zukunft leben werden, zum Beispiel modernste Chemieindustrie, Biotechnologie, Luftfahrttechnik - letztere in dieser Woche wegen der ILA in aller Munde. Darauf muss ich entgegnen, dass wir diese Branchen im Jahre 1990 nicht fördern konnten, weil es sie damals schlicht noch gar nicht gab. Hier bei uns wurde keine Turbine gebaut - abgesehen von ein paar militärischen Überholungsarbeiten - und hier gab es keine Biotechnologie. Man muss also realistisch sein und erkennen, dass manches erst wachsen muss, ehe man die Ziele definieren und in ihre Richtung fördern kann.

Wir werden dies mit Sicherheit tun. Wir haben mit Manfred Stolpe ausgemacht - das war ja auch ein Streitpunkt der letzten Tage -, dass weiterhin die Länder definieren, was ihre Wachstumskerne sind, was ihre Zukunftsbranchen sind und wo sie Clusterbildung fördern wollen, dass dies also nicht der Bund macht.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der CDU)