Protokoll der Sitzung vom 18.12.2008

Das Wort erhält die Abgeordnete Schier.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man bei der Parlamentsrecherche den Begriff Armut eingibt, erscheinen in der 4. Wahlperiode bereits 101 Dokumente. Die wachsende Altersarmut, die wachsende Armut bei Kindern und Jugendlichen, die besorgniserregende Armut - all das wurde regelmäßig thematisiert.

Am häufigsten hat die Fraktion DIE LINKE die Armut zum Diskussionsgegenstand gemacht, und das vor dem Hintergrund, dass in der von der Linken regierten Bundeshauptstadt die Armut noch größer ist.

(Beifall bei der SPD)

Über Armut wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten mit unterschiedlicher Intensität diskutiert. Der Armutsbegriff hat sich seit der Nachkriegszeit wesentlich verändert. Damals waren die Menschen aufgrund einer allgemeinen Notlage arm. Über verschiedene Stufen sprach man in den 80er Jahren von der neuen Armut. Seit den 90er Jahren sprechen wir insbesondere über Kinder- und Jugendarmut. Es gibt viele Publikationen über das Ausmaß, die Ursachen und die Folgen der Kinder- und Jugendarmut.

Armut wird unterschiedlich definiert. Die absolute Armut geht davon aus, dass weniger als das zum Überleben notwendige Minimum an Ressourcen vorhanden ist. Die relative Armut liegt vor, wenn der allgemein anerkannte Lebensstandard einer Gesellschaft unterschritten wird. Die subjektive oder die gefühlte Armut bedeutet, dass nach eigenem und gesellschaftlichem Ermessen zu wenig zum Leben vorhanden ist bzw. man mit dem, was man zur Verfügung hat, nicht zurechtkommt.

Laut DIW Köln im Jahr 2006 ist Deutschland nach Frankreich der zweitgrößte Sozialstaat der Welt. Selbst die sogenannten

klassischen Wohlfahrtsstaaten wie Schweden und Dänemark lagen hinter der Bundesrepublik Deutschland. Durch Sozialtransfers wird in der Bundesrepublik Deutschland das Armutsrisiko um 13 % gesenkt. Ich war im Sommer im Kreis ElbeElster zu einer Diskussion mit dem Sozialverband Deutschland.

(Zuruf der Abgeordneten Wöllert [DIE LINKE])

- Genau, dort waren Sie auch, Frau Wöllert. - Der Herr vom Sozialverband sagte: In Deutschland wird das Armutsrisiko um 13 % gesenkt; das ist gut so. Bei den Menschen kommt nichts an. - Diese Aussage ist blanker Populismus. Um 13 % wird durch Sozialtransfers das Armutsrisiko in Deutschland gesenkt. Da kann man doch nicht sagen: Bei den Leuten kommt nichts an!

(Zuruf von der SPD: Vielleicht nicht genug!)

Liebe Kollegen, Familien werden in der Bundesrepublik Deutschland in erheblichem Umfang unterstützt. Im Jahr 2006 wurden Familien beispielsweise mit 153 Maßnahmen in einem Umfang von etwa 189 Milliarden Euro gewährt. Die wichtigsten Leistungen für Familien sind Mutterschaftsgeld, Kindergeld, Erziehungsgeld, Elternzeit, Kinderzuschlag - das kennen wir alles. Arbeitslose erhalten Leistungen nach dem SGB III und nach dem SGB II, also Arbeitslosengeld I und II, Behinderte nach dem SGB XII und Rentner, die nur eine geringe Rente erhalten, bekommen die Grundsicherung. Einkommensschwache erhalten ergänzende Hartz-IV-Leistungen. Außerdem ist der Bezug von Wohngeld möglich. Niemand muss durch das Netz fallen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind vielfältige Unterstützungsmaßnahmen, für die die Leistungsträger in der Gesellschaft aufkommen und die dazu beitragen, Armut zu verhindern. Es sind die Leistungsträger, deren Geld wir ausgeben.

(Beifall des Abgeordneten von Arnim [CDU])

Uns liegt heute der Bericht „Lebenslagen in Brandenburg“ vor. Ich bin froh, dass die Landesregierung den Bericht nicht Armutsbericht genannt hat; denn er orientiert sich - wie schon der Titel sagt - an der Lebenssituation der Menschen im Land Brandenburg. Lebenssituationen werden sich immer unterscheiden; denn keine Biographie gleicht der anderen. Wenn wir Vergleiche anstellen, können wir das nur innerhalb des im Land Brandenburg vorhandenen Bindungsgefüges tun. Laut Bericht ist die Armutsrisikoquote in Brandenburg zwischen 1996 und 2005 stetig gestiegen. Der Anteil extrem armer Menschen, die weniger als 40 % des Vergleichseinkommens zur Verfügung haben, verharrt allerdings auf niedrigem Niveau. In diesem Fall haben die sozialen Sicherungssysteme gegriffen.

Die absolute Zahl der Kinder unter sieben Jahren, die auf Hilfe zum Lebensunterhalte angewiesen waren, ist in den letzten Jahren gestiegen. Die Situation ist besonders prekär, wenn die individuellen Lebenslagen der Erwachsenen mehrere Probleme aufweisen wie Langzeitarbeitslosigkeit in Verbindung mit Wohnungslosigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Straffälligkeit oder starke gesundheitliche Einschränkungen. Die Verschuldung privater Haushalte ist oft mit finanziellen Schwierigkeiten und Armut verbunden. Aber nicht jeder, der arm ist, ist gleichzeitig überschuldet.

In einer Überschrift im Lebenslagenbericht heißt es „Arbeit sichert Einkommen“. Das ist die Kernaussage, die man nur unter

streichen kann. Insbesondere bei Kindern zählt Arbeitslosigkeit der Eltern zu den Hauptfaktoren für Armut. Die Arbeitslosigkeit wurde in den zurückliegenden Jahren drastisch reduziert. Im Jahresdurchschnitt für das Jahr 2006 waren in Brandenburg 226 500 Menschen arbeitslos. Im Jahresdurchschnitt 2007 waren es knapp 200 000, und im November waren es 156 700.

Im gleichen Maße, wie die Arbeitslosenzahlen bei uns rückläufig waren, haben sich die Beschäftigtenzahlen erhöht. So waren beispielsweise im August 740 200 Brandenburger sozialversicherungspflichtig beschäftigt, im August 2005 waren es lediglich 700 000.

Eine weitere wichtige Botschaft im Lebenslagenbericht ist die Aussage „Bildung ist der Schlüssel“. Bildung von Beginn an, Qualifizierung, lebenslanges Lernen, Beschäftigung sind die zentralen Voraussetzungen zur Armutsvermeidung. Insbesondere unter den Langzeitsarbeitslosen finden wir viele Geringqualifizierte. Diese Personengruppe hat es in der Tat besonders schwer, im Rahmen des ersten Arbeitsmarktes neu integriert zu werden. Die Bundesregierung überprüft zurzeit die Regelleistungen für Kinder. Wir warten darauf, dass uns belastbare Zahlen und Lösungsvorschläge unterbreitet werden.

Frau Kaiser hat von einem Trauerspiel gesprochen, das die Landesregierung veranstaltet. Ich sage Ihnen einmal, wie das Trauerspiel aussieht: Einführung des Schulsozialfonds. Wir haben einen Familienpass, der ermäßigte Eintritte bei kulturellen Veranstaltungen gewährt. Es gibt in Brandenburg Eltern-Kind-Zentren, lokale Netzwerke „Gesunde Kinder“, lokale Bündnisse für Familien. Wir unterstützen die Familienverbände. Es gibt die Stiftung für Familien in Not. Kinder werden zu U-Untersuchungen eingeladen. Das Land hat einen Bericht zur gesunden Ernährung in Kitas und Schulen vorgelegt. Es gibt einen Ratgeber für Familien, familienfreundliche Hochschulen, eine hohe Zahl an Kinderbetreuungsangeboten, Mehrgenerationenhäuser. Ich könnte es endlos fortsetzen. Dann zu sagen, wir böten unseren Bürgern im Land ein Trauerspiel, ist schon starker Tobak.

(Beifall bei der CDU)

Ich gehe davon aus, dass wir die Armutsdiskussion mit dem heutigen Tag nicht beenden. Ich möchte aus einem Artikel zitieren:

„Wenn ich die Armen und sozial Benachteiligten zu meiner Wählerklientel zähle, muss ich auch dafür sorgen, dass man den Eindruck hat, dass es möglichst viele davon gibt.“

Vielen Dank.

(Oh! bei der Fraktion DIE LINKE - Beifall bei CDU und SPD)

Das Wort erhält die Abgeordnete Wöllert.

Liebe Frau Schier, das Letzte war eigentlich unter Ihrem Niveau.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Lassen Sie uns an Frau Fechner gerichtet eines feststellen: Die große demokratische Opposition in diesem Landtag kritisiert nicht, dass der Bericht nicht Armutsbericht heißt. Es kommt darauf an, was darin steht und welche Schlussfolgerungen wir gemeinsam ziehen.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Ich glaube, wir sind uns mit den demokratischen Parteien in diesem Hause einig, dass wir das Problem angehen wollen. Vielleicht sehen wir viele Dinge anders. Aber lassen Sie sie uns unter den verschiedenen Sichten gemeinsam herangehen! Es gibt einen großen Teil Menschen - hier stimme ich schon nicht mit einer Schlussfolgerung überein -, die meinen, Armut sei eigentlich kein so großes Problem. Es ist für alle Betroffenen ein Problem, egal, wie viele es sind.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Hier haben wir einfach zu handeln und etwas zu tun. Ich glaube, darin sind wir uns auch einig.

Sie haben völlig richtig gesagt, Frau Ministerin: Ursachen erkennen - ohne Kenntnis der genauen Wirklichkeit keine Veränderung. Dazu bietet der Lebenslagenbericht gute Ansätze. Da wünsche ich mir in vielen Dingen noch mehr. Das können wir später im Einzelnen besprechen. Es gibt einige Daten, die ich mir noch genauer wünsche. Das brauchen wir heute nicht zu sagen, das ist heute erst der Auftakt.

Zum Zweiten: Frau Lehmann, Sie sprachen von Armut als Phänomen. Aber Armut ist genauso wenig ein Phänomen wie Reichtum. Armut und Reichtum sind das Ergebnis von politischen Rahmenbedingungen. Das ist damit gemeint.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE - Zuruf der Abge- ordneten Lehmann [SPD])

Zum Dritten möchte ich sagen: Ich wünsche mir sehr, dass wir diese Verantwortung, von der Sie als Abschluss Ihres Satzes gesprochen haben, indem Sie sagten: Lassen Sie uns die Verantwortung gemeinsam wahrnehmen!, auch wirklich gemeinsam wahrnehmen.

In diesem Sinne möchte ich mich auf den Teil „Gesichter der Armut“ konzentrieren, weil ich glaube, die Wohlfahrtsverbände wissen, wovon die Rede ist. Hier teile ich also nicht Ihre Kritik am Vorsitzenden des Sozialverbandes Deutschlands, der in Elsterwerda mit uns die Podiumsdiskussion bestritten hat. Er weiß wohl, wovon er redet - wie alle, die in diesem Bereich beschäftigt sind. Sie alle wissen es. Lassen Sie mich sagen, was dort steht, weil ich denke, dass das durchaus wichtig ist. Ich zitiere von Seite 274:

„Bundesweit wachsen die Armutsrisiken für Kinder schneller als für die Gesamtbevölkerung.“

Dies ist übrigens ein Ergebnis einer OECD-Studie.

Auch für Brandenburg ist das nicht anders. Im Ranking der Bundesländer nimmt Brandenburg Platz 9 ein und ist damit auch nach Aussage der Wohlfahrtsverbände weit davon entfernt, zum kinderfreundlichsten Land zu werden. - So weit.

Die Realität in Brandenburg ist eher von eingeschränkten und mangelnden Teilhabechancen geprägt. In der Leistungs- und Konsumgesellschaft ist die Entwicklung der Kinder dem sozialen Risiko der Armut ausgesetzt. Dies steht auf Seite 269 und stammt nicht von den Linken. Ich will es nur noch mal sagen: Diese Feststellung stammt nicht von unserer Fraktion.

Ich möchte jetzt zu Schlussfolgerungen kommen, die die Wohlfahrtsverbände hier formuliert haben. Sie mahnen an: Wir brauchen eine Strategie gegen Armut.

(Beifall der Abgeordneten Kaiser [DIE LINKE])

Sie haben aber nur Maßnahmen gegen Armut. Jede einzelne Maßnahme, die Sie haben und hier benennen, ist für den einzelnen Betroffenen und die Gruppe eine gute Maßnahme. Die wollen wir gar nicht schlechtreden, aber sie sind keine Strategie.

Bestes Beispiel sind die Eltern-Kind-Zentren, die Sie auch benennen. Ich war in der vergangenen Woche zwei Tage in der Staatskanzlei. Eltern-Kind-Zentren werden nicht mehr gefördert. Die 40 000 Euro vom MBJS gibt es nicht mehr. Dafür kommt ein neues Förderprogramm: Eltern-Kind-Gruppen. Ja, dann vernetzen Sie sich bitte einmal im MASGF und im MBJS, tun sich zusammen, lassen es bei der Förderung der Eltern-Kind-Zentren - darin können auch die Eltern-Kind-Gruppen weiter gefördert werden - und verstetigen die Arbeit! Das wäre doch mal eine Strategie.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Ich fahre fort: Gesichter der Armut, Fragen der Gesundheit. Folgende Schlussfolgerungen ziehen die Wohlfahrtsverbände da sind wir bestimmt beisammen, aber alles stetig und finanziert -: Erstens Bildungsangebote für Eltern, zweitens Ausbau und finanzielle Sicherung von Präventionsprogrammen, drittens personelle Sicherung regelmäßiger Reihenuntersuchungen durch die staatlichen Gesundheitsämter. In dem Punkt haben Sie durch die Neufassung des ÖGD die Bedingungen schlicht und einfach verschlechtert statt verbessert, und das ist bei der Bekämpfung von Armut eben nicht passend.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Punkt 2 - Bildung. Folgende Vorschläge werden von den Wohlfahrtsverbänden gemacht: Erstens Rechtsanspruch aller Kinder ab erstem Lebensjahr. Hier passt die Strategie Eltern-KindZentren, Eltern-Kind-Gruppen gut hinein.

Zweitens: Kosten für Kitaplätze ab drittem Lebensjahr für alle sozial benachteiligten Kinder. Sind die Kitaplätze kostenfrei, haben sie die Teilhabechance aller Kinder gesichert.