Der Deutsche Bundestag diskutiert heute auch über das Thema. Genau dort gehört es auch hin. Wir reden hier von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, nicht des Landes.
Die Diskussion hier ist schon eigenartig. Selbstverständlich gefährden Mindestlöhne Arbeitsplätze. Kollege Bernig, wenn Sie schon die USA als Beispiel nehmen: Sie wissen genau, wie hoch die Mindestlöhne in den einzelnen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten sind; sie beginnen bei etwa einem Dollar. Das sind doch wohl nicht die Mindestlöhne, die Sie hier haben wollen. Ferner gibt es in den meisten Bundesstaaten der USA keine anderen flankierenden sozialpolitischen Maßnahmen. Sie dürfen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Meine Damen und Herren! Übersteigt der zu zahlende Lohn die Produktivität des Arbeitnehmers, erhöht dies die Gefahr von Arbeitslosigkeit insbesondere für Arbeitnehmer ohne Berufsabschluss bzw. mit geringer oder veralteter Qualifikation deutlich.
Unser Ziel ist es, ihre Produktivität durch zielgenaue Weiterbildung und Qualifizierung zu erhöhen und damit gleichzeitig ihre Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Ein für alle Unternehmen vorgeschriebener Mindestlohn schafft weitere Hürden für den Einstieg in Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt und führt dort, wo sich die Produktion für Betriebe nicht mehr lohnt, zu Beschäftigungsabbau und zu Abwanderung ins Ausland.
- Frau Kaiser, wenn Sie zuhören und nicht dauernd dazwischenrufen würden, würden Sie es vielleicht einmal verstehen.
Auch für von Armut bedrohte Beschäftigte sind Mindestlöhne kein erfolgversprechendes sozialpolitisches Instrument, wie Sie es doch angeblich anwenden wollen. Ein Alleinverdiener, der eine vierköpfige Familie ernähren möchte, muss bei einer Vollzeitanstellung einen Stundenlohn von bis zu 13 Euro verdienen, um auf das durch das Arbeitslosengeld II garantierte Grundsicherungsniveau zu kommen. Ein Mindestlohn könnte den Transferbezug damit nicht verhindern, es sei denn, Sie setzen jetzt auf Ihre ohnehin populistische Forderung noch einmal 1 oder 2 Euro drauf, meine Damen und Herren von der Koalition.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren, zum ersten Mal seit der deutschen Wiedervereinigung sinkt in diesem Land die Sockelarbeitslosigkeit. Genau weil die Sockelarbeitslosigkeit sinkt, haben auch Geringqualifizierte wieder eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Nur, die Produktivität ist nicht da. Das heißt also: Wenn Geringqualifizierte eingestellt werden, brauchen sie eine Aufstockung. Selbst die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass die Möglichkeit der Aufstockung ein sinnvolles Instrument ist - für Qualifizierung im Job.
Ansonsten gingen nämlich diese Arbeitsplätze verloren, Herr Holzschuher, und dann wäre der Transferbezug komplett vom Staat geregelt. Wollen Sie das? Wollen Sie die Menschen in Abhängigkeit halten? Genau das machen Sie, wenn Sie den Mindestlohn einführen, wie Sie ihn wollen.
Staatliche Eingriffe in die Lohnfindung sind mit dem ordnungspolitischen System der sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar. Der Lohnfindungsprozess hat sich einzig an der Produktivität und damit der Leistungsfähigkeit der Unternehmen auszurichten und darf nicht zum Spielball sozialpolitischer Verteilungsziele werden.
Mindestlöhne torpedieren die Tarifautonomie. Deswegen wundert es mich, Herr Baer, dass ausgerechnet Sie als Gewerkschafter sich dafür einsetzen. Mindestlöhne erschweren flexible betriebliche Bündnisse für mehr Beschäftigung und bessere Aufstiegsperspektiven am Arbeitsmarkt.
Der derzeit diskutierte, politisch forcierte Mindestlohn wäre permanent dem Risiko ausgesetzt, zum Spielball politischer Wahlversprechen zu werden. Deshalb lehnen wir ihn ab, meine Damen und Herren.
(Beifall FDP und vereinzelt CDU - Bischoff [SPD]: Sind Sie nicht mehr in der Bundesregierung? - Frau Lehmann [SPD]: Noch sind sie drin!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Die meisten von uns werden sich an die denkwürdige „Elefantenrunde“ am Wahlabend des 18. September 2005 erinnern, als ein überdrehter Gerhard Schröder trotz Wahlniederlage die Kanzlerschaft beanspruchte und der perplexen Angela Merkel indirekt bedeutete, sie könne es nicht.
(Frau Lehmann [SPD]: Aber unsicher war sie auch! - Zu- ruf von der CDU: Das glauben aber auch nur Sie!)
Sechs Jahre später ist klar: Die Kanzlerin hat sich als ausgesprochen robust erwiesen. Mit ihrem gut gepflegten Image der unaufgeregten und vernünftigen schwäbischen - oder: mecklenburgischen - Hausfrau hat sie alle Stürme überstanden und viel Macht erworben. In ihrer eigenen Partei hat sie fast alle potenziellen Konkurrenten weggelobt, entnervt zur Aufgabe veranlasst oder dauerintegriert.
Sie hat zwei katastrophale Jahre Schwarz-Gelb überlebt und dabei eine Menge ideologischen Ballast über Bord geworfen, der ehemals zur Grundausstattung ihrer Partei gehörte: das traditionelle Familienbild mit der Hausfrau am Herd, die Hauptschule und damit das dreigliedrige Schulsystem, die Wehrpflicht, die Ablehnung der Finanztransaktionssteuer und die Atomenergie. Bei allen Schwenks befand sie sich im Einklang mit der Mehrheit der Bevölkerung. Frau Merkel wird über kurz oder lang auch den Mindestlohn einführen.
Warum sorgt sich die Bundeskanzlerin plötzlich um die Würde der Arbeit und will Gerechtigkeitslücken schließen? Während der greise Helmut Schmidt Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten salbt, versucht sich Angela Merkel an der Rettung der Euro-Zone. In Zeiten, wo über Schutzschirme verhandelt wird, die auf Billionen-Beträge aufgehebelt werden können, und mal eben 55 Milliarden Euro vom Finanzminister übersehen werden, ist es angebracht, sich keine offene Flanke zu geben.
Die Wut und die Enttäuschung der Menschen über die Unsummen, die zur Stabilisierung abstrakter internationaler Finanzbeziehungen investiert werden sollen, brauchen einen Ausgleich. Dass viele Menschen in prekären Verhältnissen leben, ihre Löhne nicht existenzsichernd sind und Altersarmut droht, wissen wir seit langem. Der Schwenk kommt aber jetzt, und das ist kein Zufall. Die Bundeskanzlerin will nicht ihre Partei sozialdemokratisieren, sondern sie will ihr die Macht erhalten.
In Brandenburg erhalten etwa 70 000 Frauen und Männer trotz Berufstätigkeit aufstockende Leistungen, meist wegen geringer Entlohnung. Jede dritte Frau verdiente 2010 ein Gehalt unter der Niedriglohnschwelle. Der Anteil der Menschen, die trotz Arbeit nur einen Niedriglohn verdienen, steigt rapide an und liegt inzwischen bei über 22 % aller Vollzeitbeschäftigten; die Zahl wurde schon genannt. Das sind bundesweit 4,6 Millionen Menschen. Für die Aufstockung werden bundesweit jährlich 11 Milliarden Euro an Steuergeldern eingesetzt. Es ist skandalös zu nennen, dass mit öffentlichen Mitteln profitable Dumpingstrategien von Unternehmen subventioniert werden.
Weiterhin ist skandalös zu nennen, dass Menschen acht Stunden am Tag arbeiten und dennoch nicht den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien bestreiten können.
Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales waren im Jahr 2009 7,5 % oder knapp drei Millionen Erwerbstätige armutsgefährdet. Das Gehalt im Niedriglohnsektor reicht nicht aus, wenn eine ganze Familie davon leben soll, auch nicht mit dem
jetzt diskutierten Mindestlohn. Mehr als drei Viertel der voll berufstätigen Aufstocker und Aufstockerinnen haben eine Familie zu versorgen.
Männer und Frauen, vor allem Frauen, denn sie sind mehrheitlich in geringfügiger Beschäftigung, müssen mit diesen Folgen im Alltag klarkommen, klarkommen damit, dass sie häufig ohne nennenswerte Rentenansprüche einer vorprogrammierten Altersarmut entgegengehen.
Deshalb fordern wir Grüne seit langem einen allgemeingültigen Mindestlohn, der in gar keinem Fall unterschritten werden darf, und darüber hinausgehende Branchenmindestlöhne. Zur Einführung schlagen wir eine Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild vor.
Noch lautet die Sprachregelung bei der CDU, man wolle Lohnuntergrenzen und keinen politischen Mindestlohn. Wir brauchen keine Placebos und keine Wahlkampftaktik, wir brauchen einen wirksamen flächendeckenden Mindestlohn.