Protokoll der Sitzung vom 27.09.2012

„Denn obwohl der Arbeitsmarkt in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt vom Wirtschaftsaufschwung profitierte, hat die Niedriglohnbeschäftigung deutlich zugenommen. Trotz wachsender Erwerbstätigenzahlen stieg das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen kaum an. Die Segmentierung des Arbeitsmarktes verschärfte sich. Es stiegen die Zahl der Leiharbeiter, die Zahl der befristet Beschäftigten, die Zahl der geringfügig Beschäftigten und die Zahl der unfreiwillig in Teilzeit Beschäftigten. Atypische Beschäftigungsformen haben zu Lasten des klassischen Normalarbeitsverhältnisses an Bedeutung gewonnen.“

Kollege Baer hat mit weiteren Zahlen unterlegt, welche Auswirkungen das auf ein menschenwürdiges Leben hat.

In den vergangenen 11 Jahren wurden in der Bundesrepublik insgesamt 2,3 Millionen Vollzeitjobs vernichtet und 4,1 Millionen sogenannter „Bad Jobs“ geschaffen. Nicht umsonst hat der Deutsche Gewerkschaftsbund neben den Themen Rente und soziales Europa auch das Thema neue Ordnung der Arbeit in den Mittelpunkt des Bundestagswahlkampfes gestellt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn in Brandenburg heute ca. 66 000 Menschen zusätzlich zum Erwerbseinkommen Leistungen nach dem SGB II - also Hartz IV - benötigen, dann kann im System etwas nicht stimmen!

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Dann wird auch deutlich, dass der Staat mit einem flächendeckenden Mindestlohn offenbar erhebliche Minderausgaben zu verzeichnen hätte. Wie das Schweizer Institut Prognos 2011 feststellte, würden die öffentlichen Haushalte bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro um gut 7 Milliarden Euro entlastet insbesondere durch die geringeren Sozialausgaben bei Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kinderzuschlag und Wohngeld. Aus zusätzlichen Steuereinnahmen, höheren Einnahmen bei den Renten-, Kranken-, Pflege-, und Arbeitslosenversicherungen ergäben sich auf der anderen Seite Mehreinnahmen.

Nun höre ich schon fast Herrn Lipsdorf aus dem beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Auftrag gegebenen Gegengutachten zitieren, das den Arbeitsplatzverlust und 7 Milliarden Euro Mindereinnahmen für den Fiskus prophezeit. Pfiffig, wie die Gewerkschaften sind, haben sie jedoch sofort ein neues Gutachten erstellen lassen, das nachweist, dass das Gutachten des Instituts der Deutschen Wirtschaft Rechenfehler beinhaltet, von falschen Annahmen ausgeht und methodisch unhaltbar ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einander nicht länger Gutachten um die Ohren hauen. Machen wir lieber das, was über 70 % der Bevölkerung auch wollen, nämlich verbindliche Mindestlöhne einführen.

(Beifall DIE LINKE, SPD sowie GRÜNE/B90)

Was in vielen Ländern der Welt und in 20 von 27 Staaten Europas funktioniert, kann doch nicht falsch sein!

Ein solcher Mindestlohn würde auch heißen, Verantwortung für die Situation in Europa - für ein sozialeres Europa! - zu übernehmen. Es ist inzwischen für viele kein Geheimnis mehr, dass die Bundesrepublik durch ihre Billiglohnpolitik, die Senkung der Lohnstückkosten und den ständigen Exportüberschuss zur prekären Situation anderer Länder in Europa beigetragen hat. Mein Kollege Detlef Baer hat in diesem Zusammenhang auch den EU-Kommissar für Soziales Andor zitiert.

Den von 2000 bis 2011 angehäuften Exportüberschuss von 1,6 Billionen Euro konnte das Ausland nicht mit eigenen Warenlieferungen bezahlen, sondern nur durch Schulden, aus denen letztlich auch Staatsschulden wurden, aber das ist sicherlich eine gesonderte Debatte wert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte für meine Fraktion noch einmal betonen, dass wir einen flächendeckenden gesetzlichen und vor allem existenzsichernden Mindestlohn nicht nur fordern, sondern endlich einführen wollen.

(Beifall DIE LINKE, SPD sowie GRÜNE/B90)

Darüber, was dabei existenzsichernd und wie die Höhe des Mindestlohnes zu ermitteln ist, müssen wir uns sicher weiter unterhalten. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass die Niedriglohnschwelle im Osten nach Angaben des DGB, der sich auf die Statistik der Bundesagentur für Arbeit stützt - Frau Lehmann, auch Sie haben die Zahl gestern genannt -, bei 1 379 Euro brutto liegt. In Brandenburg liegen 21,2 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit ihrem Einkommen unter dieser Niedriglohnschwelle. Bei der Höhe des Mindestlohns muss auch berücksichtigt werden, dass die Pfändungsfreigrenze für eine alleinstehende Person bei 989 Euro netto und bei einer Person mit Unterhaltspflicht bei 1359 Euro netto liegt. Der Gesetzgeber hat also bereits ein Niveau zur Existenzsicherung festgelegt, das wir nicht einfach ignorieren können.

(Beifall des Abgeordneten Vogel [GRÜNE/B90])

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der jetzt von Thüringen in den Bundesrat eingebrachte Vorschlag zur Verpflichtung, einen bundeseinheitlichen Mindestlohn zu zahlen, dessen Höhe durch eine Kommission festgelegt wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deshalb unterstützen wir ihn auch.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Die Forderung nach einem gesetzlichen existenzsichernden Mindestlohn ist aber nur ein Teil der erforderlichen Maßnahmen, um prekäre Beschäftigung wieder abzubauen und Armut zu bekämpfen. Dazu gehört unter anderem, Minijobs nicht mehr zu fördern, Leiharbeit auf das notwendige und gewollte Maß zu beschränken, die Sozialversicherungspflicht für jede geleistete Arbeitsstunde einzuführen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen, und dazu gehört auch ein sozial-ökologisches Zukunftsprogramm, das neue Arbeitsplätze schafft.

Sie sehen: ein gewaltiger Komplex von Aufgaben. Lassen Sie uns ihn anpacken! - Danke.

(Beifall DIE LINKE, SPD sowie des Abgeordneten Dr. Hoffmann [fraktionslos])

Der Abgeordnete Lipsdorf setzt die Debatte für die FDP-Fraktion fort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mindestlohn ist kein brandaktuelles Thema, aber ein Dauerbrenner.

(Görke [DIE LINKE]: Für die FDP nicht!)

- Genau deswegen ein Dauerbrenner, bleiben Sie einmal ganz ruhig.

Wenn Sie mir mit Geschichte kommen wollen: Ich glaube nicht, dass im Jahr 1894 im Amsterdamer Stadtrat Linke gesessen haben.

(Domres [DIE LINKE]: Bestimmt einige!)

Da hat nämlich der Amsterdamer Stadtrat beschlossen, öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben, die einen gewissen Mindestlohn zahlen. So weit dazu.

(Zurufe der Fraktion DIE LINKE sowie des Abgeordne- ten Holzschuher [SPD])

Aber Sie merken schon: Der Mindestlohn ist ein Thema, das nicht nur Brandenburg interessiert, sondern in ganz Deutschland diskutiert wird. Die Debatten - Sie merken es auch heute hier - werden emotional und wenig rational geführt.

(Domres [DIE LINKE]: Oh! - Beifall FDP)

Fangen wir doch einfach einmal bei der Zieldefinition an: Was wollen wir denn - wir alle in diesem Saal?

(Ministerin Tack: Jetzt klären Sie uns einmal auf!)

Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land für ihre Arbeit einen ordentlichen Lohn bekommen, von dem sie auch leben können.

(Beifall DIE LINKE sowie des Abgeordneten Bischoff [SPD])

Das wollen wir alle, und zwar alle in diesem Saal - auch die FDP.

(Zuruf von der Fraktion DIE LINKE: Dann macht es doch!)

Wer arbeitet, muss davon leben können. Leistung muss bezahlt werden. Jede Leistung muss bezahlt werden!

(Zuruf von der Fraktion DIE LINKE: Wir verstehen darunter nichts anderes!)

Prüfen Sie sich einmal selbst, ob Sie die Leistung, die Sie in Anspruch nehmen, in jedem Fall bezahlen oder ob nicht andere Kräfte gering bezahlt werden, wo Sie eine Leistung entgegennehmen. Überprüfen Sie sich einmal im täglichen Leben!

(Frau Lehmann [SPD]: Auweia! - Zuruf der Abgeordne- ten Alter [SDP])

Die Befürworter des Mindestlohns führen ins Feld, dass man mit dem Lohn eines Vollzeitjobs ohne staatliche Zuschüsse auskommen müsse. Die Gegner wiederum sprechen von Arbeitsplatzvernichtung und inakzeptablen Eingriffen in die Tarifautonomie.

Die Argumente beider Seiten sind für die FDP durchaus nachvollziehbar. Aber sollten wir uns nicht viel mehr der Frage widmen, warum die Löhne so niedrig sind? Liegen die Ursachen in einer verfehlten Wirtschaftspolitik? Ist der geringe Organisationsgrad in den Gewerkschaften das Problem? Muss die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer gestärkt werden?

(Zuruf des Abgeordneten Jürgens [DIE LINKE])

- Ich zitiere immer noch das, was ich zitieren will, und nicht das, was die Linke mir vorschreibt.

Nehmen wir beispielsweise das Bundesländer-Ranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und der „Wirtschaftswoche“ für 2012: Die Produktivität sank von 2008 bis 2011 in Brandenburg um 1,5 %, im Bundesdurchschnitt jedoch nur um 0,6 %. Der Anteil der Hochschulabsolventen in Brandenburg stieg im gleichen Zeitraum um 0,6 Prozentpunkte weniger als im Rest der Republik.

Im Niveau-Ranking werden die Probleme noch deutlicher. Das Bruttoinlandsprodukt Brandenburgs lag im Jahr 2011 knapp 9 400 Euro unter dem Bundesdurchschnitt. Die Exportquote der Industrie war 18 % niedriger. Auch die Brandenburger Kaufkraft liegt 2 200 Euro unter dem bundesweiten Durchschnitt.

(Frau Wöllert [DIE LINKE]: Das ist doch logisch, wenn man nicht so viel Geld bekommt!)

Das alles sind wesentliche Indikatoren, die zu niedrigen Löhnen führen. Eine Diskussion zum Thema Mindestlohn muss also vielmehr eine Diskussion über die richtige wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Strategie des Landes sein;

(Beifall FDP)

denn Faktoren für steigende Löhne sind kausal betrachtet die fachliche Qualifikation der Arbeitnehmer, die Produktivität der Arbeitsplätze, eine höhere Innovationskraft im Land und vor allem ein dynamischer Arbeitsmarkt, mehr Information sowie weniger Vorschriften.