Wir setzen die Aussprache mit dem Beitrag der Abgeordneten Nonnemacher für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste aus dem Havelland! Im Vorfeld dieser Aktuellen Stunde ist die eine oder andere hämische Bemerkung zur Aktualität des Themas gefallen. Ich möchte der Linksfraktion aber ausdrück lich zustimmen, dass die momentan alles andere überlagernde Flüchtlingsdebatte für uns gerade Anlass sein muss, unseren Sozialstaat und die soziale Sicherheit neu zu betrachten.
Der Sozialbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusam menarbeit und Entwicklung - OECD - hat es im Mai dieses Jahres erneut bestätigt: Der materielle Wohlstand ist in Deutschland besonders ungleich verteilt. Die ärmsten 60 % der Bevölkerung kommen auf lediglich 6 % des gesamten Vermö gens, die reichsten 10 % auf etwa 60 %. Was die Einkom mensungleichheit angeht, liegt Deutschland erstaunlicherweise vor den USA und Großbritannien. Das Armutsrisiko, definiert als weniger als 60 % des bedarfsgewichteten mittleren Ein kommens, ist zwischen den Jahren 2000 und 2012 von 10 % auf 14 % gestiegen. Der Anteil der Reichen ist genauso gestie gen - der Finanzkrise zum Trotz. Besonders hoch ist das Ar mutsrisiko in der Gruppe der Arbeitslosen und der Alleinerzie henden, also in der Regel bei alleinerziehenden Müttern.
Immer wieder wird der hohe Anteil atypischer Beschäftigungs verhältnisse in Deutschland - Minijobs, Teilzeit- und befristete
Die Einkommensungleichheit auf Rekordniveau und das Ab hängen immer weiterer Gesellschaftsschichten bis in den Mit telstand hinein gefährden in hohem Maße unseren sozialen Frieden, ja, den Zusammenhalt unserer demokratischen Gesell schaft. Dieser sozialpolitische Befund wird jetzt mit der Auf nahme einer Million Flüchtlinge in Deutschland in diesem Jahr konfrontiert. Die Flüchtlinge sind natürlich nicht für die un gleiche Einkommensverteilung verantwortlich, stellen aber die ideale Projektionsfläche für Angst vor Armut und Arbeitslosig keit dar. Wir wissen aus allen empirischen Studien, dass die Ablehnung von Asylsuchenden und Migranten umso höher ist, je niedriger der sozioökonomische Status und das Bildungsni veau sind. Das ist das Substrat, auf dem Sozialneiddebatten bestens gedeihen.
Die selbsternannten Anwälte der sogenannten kleinen Leute haben deshalb auch gar kein Interesse an guter Sozial-, Wirt schafts- und Arbeitsmarktpolitik.
Aber selbst dabei fällt eine eigentümliche Diskrepanz auf: Der alleinerziehenden Mutter mit hohem Armutsrisiko werden ein erzkonservatives Familienmodell und höhnische Sprüche über den „Gender-Wahn“ angeboten. Programme für Langzeitarbeits lose werden als leistungsfeindliche Sozialromantik abgelehnt.
- Ich erinnere an Ihren Kollegen Höcke, der sich nicht nur als Rassentheoretiker hervortut, sondern auch gegen Behinderte gehetzt hat.
Auch der so oft als Gegenpol zum sozialschmarotzenden Asy lanten bemühte deutsche Obdachlose wurde noch nie mit einem Programm gegen Wohnungslosigkeit bedacht.
Nein, den Rechtspopulisten geht es nicht um vorsorgende Sozi alpolitik - ihnen geht es um das Schüren von Sozialneid und die Verteidigung chauvinistischer Etabliertenvorrechte.
(Beifall B90/GRÜNE, SPD, DIE LINKE, BVB/FREIE WÄHLER Gruppe sowie vereinzelt CDU - Königer [AfD]: Beispiele!)
Für uns anderen müssen eine gute Sozialpolitik und die Über windung der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft höchste Priorität haben. Dabei kann es nicht mit einer bundespoli tischen Sozialgarantie durch Frau Merkel oder dem Ausschluss von Kürzungen im Sozialbereich durch die Landesregierung sein Bewenden haben. Wir müssen mit Entschiedenheit daran arbeiten, dass sich nicht so viele Menschen abgehängt und chancenlos fühlen - und es oft auch sind. Dies gilt für diejeni gen, die schon immer hier leben, aber auch für diejenigen, die hierbleiben werden und sich ein neues Leben aufbauen wol len. - Ich danke Ihnen.
Ich danke Ihnen. - Ich möchte die Gelegenheit nutzen, insbe sondere zwei Abgeordnete, Herrn Königer und Herrn Schröder, persönlich anzusprechen: Ich bitte Sie, darauf zu verzichten, Schimpfworte in den Saal zu werfen.
Sie haben die Möglichkeit, am Mikrofon zu reagieren. Sie kön nen eine Kurzintervention anmelden, Sie können Zwischenfra gen stellen; aber unterlassen Sie es bitte, in dieser Art und Wei se hier …
- Ich wiederhole das jetzt nicht, es ist mir von mehreren Zeu gen gesagt worden. Unterlassen Sie es bitte einfach; versuchen Sie, ein gewisses Niveau zu halten. Nutzen Sie die Möglich keiten, die die Geschäftsordnung Ihnen bietet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie aktuell diese Aktuelle Stunde ist, sieht man an den sehr erregt geführten Debatten. Es ist also genau das richtige Thema gewählt worden.
In den bisherigen Redebeiträgen ist deutlich geworden, dass die Fraktionen - eine Fraktion und der Rest des Hauses - ein unterschiedliches Verständnis davon haben, was soziale Si cherheit bedeutet. Es ist gut, sich noch einmal Gedanken darü ber zu machen, dass das mehr als eine volkswirtschaftliche De finition von der Verteilung eines Kuchens ist: Es geht darum, was das Leben ausmacht, was das Leben ausfüllt und was die Grundlage einer lebenswerten Gesellschaft darstellt. Es geht um Dinge, die uns allen wichtig sind, auch wenn jede und jeder die Prioritäten vielleicht ein wenig anders setzt.
Wie soll eine Gesellschaft aussehen, die wir als lebenswert empfinden? Diese Frage steht für mich dahinter, wenn wir über soziale Sicherheit sprechen. Passen zu einer lebenswerten Ge sellschaft Bewertungen einzelner Gruppen der Gesellschaft? Passen dazu Forderungen nach dem Ausschluss aus sozialen Systemen, wie sie immer wieder laut werden?
Ist nicht vielmehr eine Gesellschaft erstrebenswert, die Heimat für alle Menschen ist, die in ihr leben?
Die Beantwortung dieser Frage mit Ja entspricht auch der Ba sis, über die wir gestern gesprochen haben, die mit dem Bünd nis für Brandenburg gesetzt worden ist: eine lebenswerte Ge sellschaft für alle, ohne dass Menschen ausgegrenzt werden, weder Arbeitslose noch arme Menschen, Behinderte, Auslän derinnen und Ausländer, Flüchtlinge oder Einwanderer. Eine Unterscheidung einzelner Gruppen geht nicht mit dem demo kratischen Grundverständnis zusammen, das unsere Gesell schaft trägt. Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger, sie gründet sich auf deren aktiver Teilhabe an der Gesellschaft. Bürgerinnen und Bürger müssen sich zugehörig fühlen, um mitgestalten zu können - ohne Existenzangst und ohne den Zweifel, ob sie Teil dieser Gesellschaft sind.
In diesem Jahr werden etwa viermal so viele Asylsuchende wie im letzten Jahr längere Zeit oder dauerhaft in den Landkreisen und kreisfreien Städten Brandenburgs Aufnahme gefunden ha ben. Ja, das ist mit höheren Ausgaben des Landes für die Un terbringung, Versorgung und Betreuung der geflüchteten Men schen verbunden. Es stimmt auch, dass diese Menschen mittel fristig in die Regelsysteme SGB II und SGB XII wechseln werden, nämlich dann, wenn sie den Bescheid über die Aner kennung ihres Asylantrags bekommen. Aber wie stark sich das zu einer Belastung für unser Sozialsystem entwickelt, hängt entscheidend davon ab, wie schnell es gelingt, die zu uns kom menden Flüchtlinge in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Es liegt an uns, sehr geehrte Damen und Herren, ob die Flücht linge von heute die Steuerzahler von morgen sind
und ihren Teil zum Kuchen dazugeben können. In der Vergan genheit ist es zum Glück gelungen, dass die Migrantinnen und Migranten, die in Brandenburg leben, mehr zu den sozialen Si cherungssystemen beigetragen haben, als ihre Gruppe aus die sen sozialen Sicherungssystemen an Leistungen in Empfang genommen hat.
Nun hörte ich in den letzten Wochen oft, was denn mit den deutschen Langzeitarbeitslosen sei und ob man sich nicht erst einmal um die kümmern sollte. Da wir solche Hinweise ernst nehmen, möchte ich dieses Thema hier aufgreifen.
Einmal abgesehen davon, dass diejenigen, die sich jetzt zu Schutzpatronen der Langzeitarbeitslosen aufschwingen, sie noch vor nicht allzu langer Zeit als Sozialschmarotzer be schimpft haben, und dass ich wahrscheinlich auf mehr AntiHartz-IV-Demos gewesen bin als so mancher hier im Saal, brauchen insbesondere Menschen, die schon lange in der Er werbslosigkeit sind, unsere besondere Unterstützung.
Sie brauchen Angebote, die auf sie und ihre Bedürfnisse zuge schnitten sind und nicht - wie leider zu oft - an ihnen vorbei oder um sie herum organisiert werden. Wir müssen sie einbe ziehen. Darum wurde im August das erste gemeinsame Ar beitsmarktprogramm des Landes Brandenburg mit der Bundes agentur für Arbeit unterzeichnet. Unser Ziel ist es, die Ange bote des Landes und die der Bundesagentur miteinander zu verzahnen, damit die Betroffenen eben nicht durch Versor gungsnetze fallen. Wir wollen Förderketten aufbauen, die allen nutzen, den Langzeiterwerbslosen, den Unternehmen in Bran denburg und, ja, auch den Flüchtlingen, die in den Arbeits markt integriert werden sollen. Wir machen hier keine Unter schiede.
Ich höre auch oft, dass ich erst einmal etwas für die deutschen Kinder tun solle, die arm sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch das ist Ziel des Koalitionsvertrags. Genau deshalb haben wir mit vielen Partnerinnen und Partnern den runden Tisch gegen Kinderarmut eingerichtet. Kinder sind kei ne kleinen Erwerbslosen. Das hat das Bundesverfassungsge richt 2010 endlich und zu Recht festgestellt. Dennoch finden sich die Kinder von erwerbslosen Eltern in einem Versorgungs system wieder, das für sie nicht gemacht ist, dem SGB II. Das ist für langzeiterwerblose Erwachsene gemacht, aber nicht für Kinder. Es deckt ihre Bedürfnisse nicht ab. Genau da müssen wir ansetzen. Wir wollen Akteure miteinander vernetzen und Angebote besser aufeinander abstimmen. Wir wollen gute Er fahrungen austauschen und gemeinsam Fehler vermeiden. So stärken und festigen wir Angebote, die allen Kindern zugute kommen, den gut versorgten, den armen Kindern und auch de nen mit Fluchterfahrungen.