Protokoll der Sitzung vom 18.05.2000

Wie die Debatte aber vorhin in der Fragestunde gezeigt hat, schafft es diese große Koalition noch nicht einmal, sich auf drei autofreie Sonntage zu verständigen. Und noch schlimmer: Der Innensenator Werthebach erklärt gar im „Landespressedienst“ Berlin 2000 zur Hauptstadt der Autofahrer. Das ist im Anschluss an Ihre großmundigen Reden im UNICEF-Jahr 1999 unter dem Motto „Berlin – Hauptstadt für Kinder“ ein Skandal.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Dabei haben Sie von der CDU und der SPD doch offensichtlich erkannt, dass Familien- und Kinderfreundlichkeit nicht nur für die Familien in dieser Stadt, sondern auch für Berlin zwingend erforderlich ist. So steht es jedenfalls in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Ihre Versprechungen zur Kinder- und Familienpolitik versuchen Sie aber gar nicht erst umzusetzen, sondern machen das Gegenteil. Sie haben bei der Familienbildung in diesem Haushalt kräftig gestrichen und mit Ihrem Beschluss, ab 2001 die Zuwendungen in jedem Einzelressort um jährlich 5 % auf drei Jahre zu kürzen, die weitere Reduzierung der Projekte im Kinder- und Jugendbereich vorprogrammiert. So verspielen Sie die Zukunft der Kinder und Jugendlichen und die Zukunft unserer Stadt.

Statt wie versprochen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr Kinderbetreuungsangebote bereitzustellen, die den unterschiedlichen Bedarfslagen von Eltern Rechnung tragen, schreiben Sie aus rein finanzpolitischen Gründen den Eltern mit dem geplanten Antragsverfahren den Bedarf vor. Statt wie vereinbart insbesondere im Hortbereich in enger Zusammenarbeit mit der Schule und den freien Trägern weitere Kapazitäten der hortähnlichen Betreuung an den Schulen und des Ganztagsangebotes in Grundschulen zu erschließen, reduzieren Sie die Angebote in der hortähnlichen Betreuung im Ostteil der Stadt und schränken auch hier das Wunsch- und Wahlrecht unzulässig ein. [Frau Martins (Grüne): Skandalös!]

Weiß Gott, skandalös! – Für Ihr hochgestecktes Ziel, die Zahl der Kitas in freier Trägerschaft durch weitere Übertragung bis zum Ende der Legislaturperiode zu verdoppeln, haben Sie die haushaltsmäßigen Voraussetzungen in den vergangenen Jahren nicht geschaffen. Und wenn Sie für diesen Prozess weiterhin auf die Ergebnisse der Kosten- und Leistungsrechnung im Rahmen der Verwaltungsreform warten, dann gute Nacht, Herr Böger! Dann können Sie die dringend notwendigen Veränderungen noch drei bis vier Jahre länger verschlafen.

Bündnis 90/Die Grünen wollen, dass alle Kinder die Kita als vorschulische Bildungseinrichtung besuchen können. Das heißt, dass die Eltern über die Ansprüche ihrer Kinder informiert werden und das Antragsverfahren wesentlich vereinfacht werden muss. Wir wollen, dass die Betreuungszeit wirklich den Bedürfnissen der Familien entspricht, wie es übrigens im Kitagesetz steht. Das heißt, Beteiligung von Eltern ernst nehmen und den von den Eltern angemeldeten zeitlichen Förder- und Betreuungsbedarf anerkennen.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Wir wollen, dass Kinder, die aufgrund ihres sozialen Umfeldes benachteiligt sind, eine besondere Förderung erhalten. Die dafür vorgesehenen Personalzuschläge dürfen dann aber nicht auf die Wohngebiete reduziert werden, die für ein begrenztes Programm wie das Quartiersmanagement vom Stadtentwicklungssenator festgesetzt wurden und nicht etwa von der Jugendverwaltung.

Wir wollen ein vielfältiges Angebot an Tageseinrichtungen in freier und kommunaler Trägerschaft. Und wir wollen, dass die Kitas gleiche Chancen für die Entwicklung und Umsetzung von Qualitätsstandards und besonderen pädagogischen Konzepten haben. Das heißt unter anderem eben auch gleiche Ausstattung und Finanzierung der Kitas in der freien und öffentlichen Trägerschaft. [Beifall bei den Grünen]

Zu allen diesen Punkten liegen Ihnen unsere Anträge vor. Uns ist sehr wohl bewusst, dass nicht alle Probleme und Herausforderungen im Kitabereich angesprochen sind. Ich nehme hier nur einmal die notwendige Verbesserung der Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen. Wir sind gespannt, ob Sie von CDU und SPD gewillt sind, Ihre Wahlversprechen und Koalitionsaussagen umzusetzen und unseren Vorschlägen zuzustimmen.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Zur Beantwortung der Großen Anfrage hat das Wort Herr Senator Böger.

(A) (C)

(B) (D)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Jantzen! Ich habe eben aufmerksam zugehört,

[Frau Martins (Grüne): Wie bitte?]

und ich bitte Sie, bei aller Möglichkeit der Kritik nun wirklich auch mal die Kirche im Dorf zu lassen. Was Sie hier dargeboten haben in der Vermutung, da könnte man den Eindruck gewinnen, als hätte der Senat die Planung, Kitas insgesamt abzuschaffen, das vorbildliche System in Berlin – wie sagen Sie? – plattzurollen. Wie Sie genau wissen, kann davon überhaupt keine Rede sein.

[Frau Martins (Grüne): Sehr differenziert!]

Ich glaube, da muss man sich schon etwas differenziert aussprechen. Im Übrigen, weil gerade Kollege Müller-Schoenau sich mit Zwischenreden zu Wort meldet, würde ich immer empfehlen: Ich glaube, ein Problem der Grünen liegt darin, dass sie eine Rollenverteilung neuer Art erfunden haben. Herr Burkhard MüllerSchoenau singt uns das Hohe Lied der Konsolidierung und sagt, es muss immer noch weniger – –

[Frau Martins (Grüne): Oh! – Frau Künast (Grüne): Der kann gar nicht singen!]

Der Rest der Truppe, sie ist ja klein genug, stellt jeden Tag neue Forderungen. Wenn Sie glauben, dass das eine überzeugende Politik ist, dann irren Sie sich wirklich.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

So kann man nicht ernsthaft miteinander reden, sondern das ist wirklich, mit Verlaub, Blabla. Nebenbei bemerkt, Frau Kollegin Jantzen: Wenn wir schon über Kinder in dieser Stadt reden – da haben Sie ja ohne Frage Recht; Es ist sehr schwierig, mit Kindern in der Großstadt zu leben. Und da haben wir alle eine Sorgfaltspflicht, vielleicht hätten Sie dann noch ein Wort, werte Kollegin der Grünen, dazu sagen können. Ein Hauptproblem in dieser Stadt ist, dass wir immer weniger Kinder hier haben. Das ist ein sehr großes Problem.

[Zuruf von den Grünen]

Na, bevor Sie plärren, also ich habe meinen Beitrag geleistet.

[Heiterkeit und Beifall bei der CDU]

Das wollte ich nur einmal gesagt haben.

Das Thema Kita ist in Berlin für uns alle und insbesondere auch für die SPD und die CDU ohne Frage ein ganz wichtiger Punkt. Und im Gegensatz zu Ihren Ausführungen möchte ich hier zunächst einmal festhalten: In Berlin, und zwar sowohl im früheren Westberlin wie jetzt im vereinten Berlin liegen wir im Angebot von Kindertagesstätten als integriertem Angebot von Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen in der Bundesrepublik Deutschland weit an der Spitze. Das Angebot, das wir bieten, ist außerordentlich gut, ist unvergleichbar besser als in Bremen und auch in vielen anderen Bundesländern. Das ist auch kein Zufall, weil in der Tat bei den Kitaplätzen die Vereinbarkeit für uns sehr wichtig ist, ein zentrales gesellschaftspolitisches Anliegen, nämlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eben sicherzustellen.

[Frau Martins (Grüne): Aber nur bis 16 Uhr!]

Deshalb ist das ein so hervorragendes und wichtiges Gebiet.

Tatsache ist, dass wir in unserem Kitagesetz, auf das Sie sich mehrfach – wie ich fand, nicht ganz korrekt – bezogen haben, einen Anspruch haben. Ich lese Ihnen das vor. Wir haben eben keinen grundsätzlich unbedingten Anspruch für alle Kinder von der Geburt bis ins Hortalter, sondern wir haben auch im Kitagesetz den bundesrechtlichen Anspruch formuliert. Da steht auch:

Kinder unter drei Jahren und Kinder im Grundschulalter sollen einen Platz erhalten, wenn aus pädagogischen, sozialen oder familiären Gründen ein Bedarf für eine solche Forderung besteht.

An dieser Soll-Formulierung werden wir festhalten.

Berlin liegt im Vergleich – wir reden über die Null- bis Dreijährigen – mit den westlichen Bundesländern auch eindeutig an der Spitze. Nordrhein-Westfalen versorgt 2 % der Null- bis Dreijähri

gen und 2 % der Schulkinder. Bremen versorgt 7 % der Null- bis Dreijährigen und 17 % der Schulkinder. Berlin versorgt – und dabei bleibt es – 40 % der Null- bis Dreijährigen und sogar 55 % der Schulkinder. Damit stehen wir bundesweit an der Spitze, das darf man hier auch einmal festhalten – bei aller Kritik.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Und wer bei jeder Frage eine Schwarzmalerei betreibt, wie Sie, Frau Jantzen, das leider tun, der schürt Ängste bei Eltern mit falschen Informationen. Der handelt unverantwortlich. Vor Inkrafttreten des neuen Kitagesetzes erfolgte die Vergabe der Plätze nach Dringlichkeit. Ein Rechtsanspruch bestand nicht. In Einzelfällen gab es große Ungerechtigkeiten.

Der Vorschlag meiner Verwaltung für eine Rechtsverordnung, die das Gesetz ausdrücklich vorschreibt, soll eine gerechtere Vergabe nach dem tatsächlichen Bedarf der Eltern sichern. Schon rein logisch kann eine Rechtsverordnung die garantierte materielle Sicherung eines Gesetzes nicht aushebeln. Das wissen Sie genau. Insofern sind die Unterstellungen und Angriffe falsch.

Frau Janzen, Sie haben die Kinder nichtdeutscher Herkunft angesprochen und haben auf die bemerkenswerte Rede des Bundespräsidenten abgehoben. Ich freue mich, dass das heute von allen Teilen des Hauses geschehen ist. Ich habe diese Rede live erlebt und aufmerksam zugehört. Der Bundespräsident und Sie alle haben Recht, dass die Frage der notwendigen Integration – was nicht mit Assimilation gleichzusetzen ist – mit der Gewährleistung von Bildung und Ausbildung steht und fällt. Bildung beginnt in diesem Zusammenhang – ich stimme Ihnen zu – schon in den Kitas. Das ist enorm wichtig. Sonst wird uns diese Herkulesaufgabe nicht gelingen.

Der Sachverhalt in Berlin ist folgender: 46,3 Prozent der Kinder nichtdeutscher Herkunft – so ist die politisch korrekte Bezeichnung – im Alter von null bis zehn Jahren besuchen eine Tageseinrichtung. Das ist ein höherer Anteil als bei Kindern deutscher Herkunft oder hier Geborenen. Deren Anteil liegt bei 40,5 Prozent. Damit trifft Ihre Aussage, das wir für die wichtige Aufgabe der Integration keine Leistung erbrächten, nicht zu. Wir machen in diesem Bereich sehr viel. Ich habe unlängst mit dem türkischen Botschafter gesprochen. Dieser hat außerordentlich den Arbeitskreis „Neue Erziehung“ – ein Instrument, dass es nur hier gibt – gelobt. Seine hervorragenden Elternbriefe – an die ich mich auch persönlich aus der Zeit, als wir kleine Kinder hatten, erinnere –, die auch die Kindergartenerziehung ansprechen und auch in türkischer Sprache bei den Eltern ankommen, hat er besonders gelobt. Ich finde, wir sollten Leistungen, die dieses Land erbringt, auch einmal loben und nicht immer alles schlecht reden. [Beifall bei der CDU und der SPD]

Sie behaupten, dass der Entwurf der Rechtsverordnung zum Anmeldeverfahren der Verwirklichung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Kitas entgegensteht. Ihre abenteuerliche Verknüpfung zwischen Familienpolitik, Qualitätsdebatte und Anmeldeverfahren ist irreführend und in einigen Punkten sogar demagogisch. Die Qualitätsdebatte dreht sich um die Frage, was sinnvollerweise in den Einrichtungen geschehen soll. Das Anmeldeverfahren regelt hingegen den Zugang zu den Einrichtungen. Qualitätsstandards und Konzepte zum Spracherwerb oder zur interkulturellen Erziehung sind notwendig und verlieren ihren Wert nicht dadurch, dass nicht alle ganztags eine Einrichtung besuchen. Die Qualität der Kitas hat nichts damit zu tun, ob Kinder fünf Stunden oder länger in einer Einrichtung sind. Man darf nicht so tun, als wachse mit der Dauer der Stunden, die ein Kind in einer Einrichtung verbringt, automatisch die Qualität des dortigen Angebots.

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Bei allem Respekt vor Bedeutung von Kindergarten, Kitas und anderen Einrichtungen dürfen wir nicht vergessen, dass es weiterhin eine Verantwortung der Eltern gibt.

[Beifall bei der CDU und der SPD]

(A) (C)

(B) (D)

Bm Böger

Diese ist enorm notwendig. Das kam in Ihrer Rede kein einziges Mal vor. Man kann Kindererziehung nicht ohne Eltern installieren und so tun, als sei es schon ein Vorwurf an Eltern, wenn sie sagen, sie wollten eine Betreuung nur zeitweilig und nicht in jedem Fall.

[Frau Martins (Grüne): Dann müssen Sie die Elternmitbestimmung an den Kitas erhöhen!]

Sie führten aus, dass Kinder von Sozialhilfeempfängern in der Regel einer besonderen sozialen Förderung bedürfen. Dies ist eine Diskriminierung und Beleidigung der betroffenen Eltern. Sozialhilfebezug ist leider nicht automatisch an funktional unvollständige oder problematische Familien gebunden. Sozialhilfe kann Eltern in sehr vielen Bereichen betreffen. Es ist eine schlimme Beleidigung, wenn die Qualität der Elternerziehung mit Sozialhilfebezug heruntergedrückt wird. Das sollten Sie zurücknehmen!

Ich weise auch zurück, dass wir uns nicht auf problematische Stadtgebiete konzentrierten. Wir gehen von den von uns vernünftigerweise isolierten Stadtgebieten aus und nicht sehr grobflächig vom Sozialstrukturatlas.