Protokoll der Sitzung vom 18.05.2000

Drucksache 14/399:

Antrag der Fraktion der PDS über Ehrenbürgerwürde für Nikolai Erastowitsch Bersarin

Wird der Dringlichkeit des zuletzt genannten Antrages widersprochen? – Das ist ersichtlich nicht der Fall! – Beratungen bis zu fünf Minuten pro Fraktion? – Das ist auch so beschlossen! – Das Wort hat der Kollege Cramer für die Fraktion der Grünen. Bitte schön, Herr Kollege!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nikolai Bersarin hat sich um die Stadt Berlin verdient gemacht, als erster Stadtkommandant für Gesamtberlin. Er hat sich um die Nöte der Berlinerinnen und Berliner im zerstörten Berlin gekümmert. Er ist nicht als Rächer aufgetreten, sondern als Versöhner. Er hat sich neben den aktuellen Problemen und Nöten der Berliner auch um die Kultur gekümmert. Er hat das Deutsche Theater wiedereröffnet und die Neugründung der Jüdischen Gemeinde vorbereitet. All das – und das ist unumstritten – ist die Leistung von Bersarin in seiner Amtszeit als Stadtkommandant von Gesamtberlin.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Er wurde erst verspätet 1975 – weil sich Ulbricht immer dagegen gewehrt hat – zum Ehrenbürger der Stadt Ostberlin benannt, und 1992 hat dieses Parlament mit der Mehrheit von CDU und SPD ihm die Ehrenbürgerwürde aberkannt, weil damals behauptet worden war, er sei an der Deportation von 47 000 Menschen aus dem Baltikum beteiligt gewesen, er habe dies zu verantworten gehabt.

Mittlerweile hat sich diese Legende als Fehlinformation herausgestellt. Ich finde, das Parlament täte gut daran, sich erstens für diese Fehlinformation und entschuldingen und zweitens als Wiedergutmachung die Wiederaufnahme Bersarins in die Liste der Ehrenbürger von Berlin zu beantragen.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

In der Debatte gibt es zwei Positionen, die Sie auch auf der Veranstaltung in Karlshorst wahrnehmen konnten. Die eine Position, der linke Flügel der PDS, sagt: Ein Antifaschist ist ein Antifaschist, und was er davor oder danach gemacht hat, ist egal, Hauptsache, zum richtigen Zeitpunkt hat er das Richtige getan. Diese Position halte ich für falsch. Ich bekenne freimütig: Wäre es der Fall, dass er an dieser Deportation beteiligt war, würde ich jedenfalls keine Rede zur Ehrenbürgerwürde halten. Aber das war eine Fehlinformation, und dem müssen wir Rechnung tragen. Die zweite Position in Gestalt von Herrn Lehmann-Brauns geht dahin, dass er sagt: Er war ein Kind des Stalinismus, ein Offizier der Stalin- Ära; einen solchen Menschen können wir nicht ehren, egal, was er für Berlin und die Berliner Bevölkerung verantwortet hat. Diese beiden Positionen, die spiegelbildlich gleich sind, verurteilen wir auf das Schärfste. Wir sind der Meinung, die Gesamtvita eines jeden Menschen soll hier beurteilt werden.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Dass ausgerechnet Herr Lehmann-Brauns jemanden in diese Tradition stellt, können wir nicht nachvollziehen, denn er setzt sich für das Ehrenmal Bismarcks ausgerechnet auf dem Platz der Republik ein. Bismarck war aber ein Kind der wilhelminischen Zeit, des Antidemokratismus, er hatt die Sozialistengesetze zu verantworten, die außerhalb der McCarthy-Ära in keinem demokratischen Land der Welt außer der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Nachahmer gefunden haben. Auch das gehört zur Wahrheit.

[Beifall bei den Grünen und der PDS]

Diese Position, Herr Lehmann-Brauns, können Sie nicht durchhalten. Wie wollen Sie damit umgehen, dass der Antifaschist Theodor Heuss 1933 den Ermächtigungsgesetzen zugestimmt und damit Hitler und den Faschisten die Macht bereitet hat? Trotzdem sagen wir ganz klar: Theodor Heuss ist ein Demokrat und hat sich um die Stadt und das Land verdient gemacht.

[Dr. Steffel (CDU): Was sind denn das für Vergleiche? Absurde Vergleiche!]

Ein zweites Beispiel, das Sie nicht durchhalten können, ist Michail Gorbatschow. Natürlich ist Gorbatschow auch ein Kind der Sowjetunion, des Stalinismus. Dort ist er groß geworden. Er hat sich aber in dem System gewandelt und einen großartigen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet. Er ist Ehrenbürger der Stadt Berlin geworden, obwohl er – nun hören Sie gut zu – 1991 Truppen ins Baltikum geschickt hat, obwohl er die Katyn-Lüge wider besseres Wissen aufrecht erhalten hat und obwohl er auch Verantwortung trug für den KGB. Trotzdem ist Michail Gorbatschow Ehrenbürger der Stadt Berlin geworden. Das haben wir damals mit getragen, und das tragen wir heute mit, weil die Gesamtvita dies rechtfertigt, und die Gesamtvita muss man bei der Beurteilung heranziehen.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich wäre als CDU-Fraktion auch ein bisschen vorsichtig gegenüber dem Ehrenbürger dieser Stadt, Helmut Kohl, dem der Ehrenvorsitz der CDU streitig gemacht wurde.

[Landowsky (CDU): Sie sind ein kleiner Dreckspatz! – Weitere Zurufe von der CDU]

Denn wir wissen erst aus letzter Zeit, dass er der Grenzgänger zwischen organisiertem Lobbyismus und organisierter Kriminalität war. Wenn Sie Ihre moralischen Maßstäbe scharf anlegen, müssen Sie sich auch überlegen, wer sonst noch von der Liste gestrichen werden soll. Auch das spricht dafür, die Gesamtvita und nicht nur einen Einzelfall zu betrachten.

[Beifall bei den Grünen und der PDS]

Wir haben unseren Antrag eingebracht, und die PDS hat ebenfalls einen Antrag mit Dringlichkeit gestellt. Die SPD hat in der Fraktion beraten und sich mehrheitlich dafür ausgesprochen, Bersarin die Ehrenbürgerwürde wieder zurückzugeben. In Karlshorst haben sich übrigens alle Vertreter der vier Fraktionen dafür ausgesprochen, Nikolai Bersarin wieder in die Ehrenbürgerliste aufzunehmen. Wir haben also eine Mehrheit in diesem Hause.

(A) (C)

(B) (D)

Wir haben auch eine Mehrheit in der Bevölkerung.

[Zurufe von der CDU]

Wir haben sogar eine Zustimmung in der Presselandschaft, von der „taz“ bis zur „FAZ“.

[Zurufe von der CDU]

Ja, jetzt haben Sie bei der „taz“ wieder Ihr Stichwort gehabt. Ich wollte gerade ein Zitat aus der „taz“ bringen, aber wenn es Ihnen besser gefällt, zitiere ich die „FAZ“ vom 10. Mai 2000:

Dass der zu DDR-Zeiten mit posthumen Ehrungen überhäufte und nach der Wende zu Unrecht verfemte Bersarin von einer bestimmten Klientel als Symbolfigur für ein untergegangenes Gesellschaftssystem verklärt wird, sollte in der neu entbrannten Diskussion um Bersarins Ehrenbürgerschaft kein Argument sein.

Würden Sie bitte zum Schluss kommen?

Ja, ich mache einen Schlusssatz.

55 Jahre nach Kriesende ist es vielmehr an der Zeit, anzuerkennen, dass Bersarin, was im Westteil der Stadt nur noch wenige wissen, Kommandant von ganz Berlin war und dass er sich als solcher um die ganze Stadt verdient gemacht hat.

Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich möchte Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Danke schön, Herr Kollege Cramer! Das Wort hat nunmehr für die Fraktion der CDU der Kollege Lehmann-Brauns. – Bitte schön, Herr Lehmann-Brauns!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch diese Debatte beweist mindestens wieder eines: Geschichte hat mit Vergangenheit nicht allzu viel zu tun; sie ist nach wie vor lebendig und streitig, und sie ist vor allem komplizierter, Herr Cramer, als Sie in Ihrer holzschnittartigen Hackerei es uns hier glauben machen wollen.

[Beifall bei der CDU]

Die Flachheiten, die Sie sich über Bismarck geleistet haben, will ich hier nicht widerlegen. Aber ich will eines sagen: Sie haben Gorbatschow erwähnt. Ich füge auch Jelzin oder Gyula Horn hinzu. Was ist der Unterschied zu Bersarin? – Natürlich waren die Kommunisten und Diener des Sowjetsystems. Aber sie haben sich, als das System noch stark war, während des Systems dagegen gewandt. Sie waren dann Kämpfer gegen dieses System und für die Freiheit, die Menschenrechte und die Demokratie. Deshalb verdienen sie eine andere Behandlung als Herr Bersarin, dessen Biographie keinesfalls so klar ist. Wenn Sie einen Moment zuhören wollen, hören Sie meine Begründung dafür.

Unbestritten ist, dass jemand wie Bersarin nicht deshalb zum Ehrenbürger gemacht werden kann, weil ein wahrscheinlich unberechtigter Vorwurf gegen ihn widerlegt worden ist. Unbestritten ist auch, dass Bersarin Dinge gemacht hat, von denen wir alle nur sagen können, sie ehren ihn. Aber alles das reicht unserer Ansicht nach noch nicht aus, ihn in einen Status als Ehrenbürger von ganz Berlin zu versetzen. Die Leistungen von Bersarin entsprachen dem Völkerrecht. Sie waren seine Pflicht. Er war dazu verpflichtet.

[Frau Künast (Grüne): Ach, und Herr Kohl? Ist er nicht auch verpflichtet, seine Pflicht als Kanzler zu tun?]

Auch die westalliierten Kommandanten haben sich völkerrechtsmäßig verhalten, und niemand ist bisher auf die Idee gekommen, sie zu Ehrenbürgern zu machen. Lassen Sie uns versuchen, ein bisschen zu differenzieren, auch wenn Ihnen das schwer fällt.

Wir kennen nicht den Auftrag von Bersarin. Wir können nur Vermutungen anstellen. Bersarin war als Generaloberst ein gewichtiger Repräsentant Stalins. Stalin – da sind wir vielleicht einig –, mit Hitler eine der vermutlich grausamsten Figuren der Weltgeschichte. Aber Stalin war nicht nur grausam, sondern auch ein Taktiker. Zur Taktik von Stalin gehörte es, sich ganz Deutschland nach dem 8. Mai 1945 einzuverleiben. Zu diesem Zweck hatte er die Taktik ausgegeben, Kreide zu fressen,

[Zurufe von der PDS und den Grünen]

freundlich zu sein, nicht von den Deutschen als den Tätern zu sprechen, sondern den Deutschen eher Komplimente zu machen. Trotz Ihrer Brüllerei nenne ich Ihnen ein Zitat, an das Sie sich auch erinnern können: Die Hitlers kommen und gehen, Deutschland bleibt bestehen.

[Wieland (Grüne): Das deutsche Volk bleibt bestehen! Das ist ein wichtiger Satz!]

Oder das deutsche Volk bleibt bestehen. Vielen Dank! Ein sehr wichtiger Satz! – Stalin hatte auch die Gruppe Ulbricht dahin abgerichtet, [Zurufe von den Grünen]

in dieser Weise Kreide fressend sich bei den Deutschen einzubringen.

Und nun ist die Frage bei Bersarin: War es bei ihm Pflicht, oder war es Neigung? Diese Frage können wir deshalb heute nicht mehr klären, weil es ihm leider nur sieben Wochen vergönnt war, Stadtkommandant zu sein, genau gesagt bis zum 16. Juni 1945. Wenn wir uns ehrlich fragen und versuchen, Kriterien zu schaffen: Können wir Bersarin wirklich mit den Leistungen etwa des Generals Clay vergleichen? Ich bin der Auffassung, dass wir das nicht können. [Beifall bei der CDU]

Bei General Clay liegt es klar auf der Hand: Er hat die Freiheit Berlins erkämpft, durchgesetzt, nicht nur nach 1945, sondern auch, nachdem die Mauer gebaut worden war. Ich finde, es wäre ein unhistorischer, ein antihistorischer Vergleich.

[Frau Künast (Grüne): Sie müssen sich mal mit Geschichte beschäftigen! Es waren die Russen und nicht die Amerikaner, die Berlin befreit haben!]

Frau Künast, bei Ihnen und Ihresgleichen fällt eine ganz offensichtliche Immunschwäche gegenüber Repräsentanten des linken Totalitarismus auf