Protokoll der Sitzung vom 12.09.2002

[Zuruf der Frau Abg. Dr. Klotz (Grüne)]

Ich will nicht ausschließen, dass es Einzelfälle geben kann, wo es möglicherweise auch zu Erfolgen führt. Die Gefahr allerdings ist sehr groß, dass diese Arbeiten den mittelständischen Unternehmen verloren gehen, die im Gegensatz zur Ich-AG Steuern und Sozialabgaben abführen müssen und nicht aus diesen Steuern und Sozialabgaben finanziert werden. So gesehen ist die Ich-AG nichts anderes als eine Korrektur der Fehlentscheidung bei der Scheinselbständigkeit und ABM unter einer neuen Überschrift.

Des Weiteren schlagen Sie vor, ältere Arbeitnehmer aus der Statistik zu streichen. Über-55-Jährige werden offenkundig als Arbeitsuchende, also als potentielle Arbeitnehmer, nicht mehr ernst genommen. Sie werden faktisch aus der Arbeitsvermittlung ausgegrenzt.

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Es ist freiwillig!]

Ziel muss es aber gerade in einer Gesellschaft sein, die immer älter wird, wo die Menschen immer länger leben, den älteren Arbeitnehmern eine Chance am Arbeitsmarkt zu geben und den Erfahrungsschatz dieser älteren Arbeitnehmer viel intensiver in den Unternehmen zu nutzen.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf der Frau Abg. Simon (PDS)]

Viele Unternehmen machen hier seit Jahren große Fehler, weil sie ältere Arbeitnehmer bei den sozialen Sicherungssystemen abge

ben, statt mit diesen motivierten und engagierten Menschen langfristig zu planen und sie nicht mit Mitte 50 bereits in die Rente oder in die Arbeitslosigkeit zu schicken.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Das jüngste Wunderkind der rot-grünen Regierung wenige Tage vor ihrer Ablösung ist der so genannte Job-Floater. Damit sollen Anreize für Unternehmer gegeben werden, Arbeitsplätze zu schaffen. Was ist das eigentlich für ein Verständnis von Wirtschaft? – Da glaubt man ernsthaft, der Elektromeister in Treptow richtet einen neuen Arbeitsplatz ein, wenn er entsprechende Zuschüsse für die Einstellung eines Arbeitslosen erhält. Der richtet dann Arbeitsplätze ein, wenn wir die Steuern senken, wenn wir Nachfrage schaffen, wenn er Aufträge hat, wenn die Auftragsbücher voll sind und wenn er Arbeit für Menschen hat und nicht, wenn er Geld dafür bekommt, jemanden einzustellen. Das ist der Fehler an diesem Hartz-Konzept.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Ich bin sehr sicher, dieser Jobfloater wird im Ergebnis zu einem Jobflopper. [Zurufe von der PDS]

Auch dort, wo Hartz richtige Grundgedanken aufgreift, ist die Umsetzung unzureichend. Schauen wir uns den Niedriglohnsektor an. Sie haben das 630-DM-Gesetz abgeschafft und wollen jetzt den Niedriglohnsektor auf den Einsatz von Arbeitslosen in haushaltsnahen Dienstleistungen beschränken. Das geht an der Wirklichkeit in Berlin vorbei. Wir haben die Probleme im Niedriglohnsektor zum einem im Gewerbe, aber zum anderen in der Gastronomie, im Einzelhandel, bei unseren Dienstleistungen. Insofern greift auch diese Lösung der Hartz-Kommission viel zu kurz. Das Dreisäulenkonzept im Niedriglohnsektor, das Union und FDP nach der Bundestagswahl in Deutschland einführen werden, wird dazu führen, dass es keine Beschränkungen auf Branchen und Personen in diesem wichtigen Niedriglohnsektor gibt.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Dann soll Zeitarbeit dem Staat dadurch erleichtert werden, dass er künftig als Staat Wettbewerb gegenüber den privaten Zeitarbeitsunternehmen macht. Haben wir nicht gerade in Berlin gelernt, dass der Staat ein denkbar schlechter Unternehmer ist und besser private Firmen das tun sollten, was meistens die staatlichen Einrichtungen nicht besser können?

Herr Dr. Steffel, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit! Die geht zu Ende.

Ja! – Im Übrigen zeigt es auch sehr klar, dass das Einzige, was das Hartz-Konzept erreichen wird, neben einigen Details, eine Steigerung der 90 000 Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit auf wahrscheinlich 95 000 oder 100 000 sein wird, aber kein einziger Arbeitsplatz in den Unternehmen, die wir so dringend brauchen.

[Zuruf der Frau Abg. Grosse (SPD)]

Viele andere haben uns in Europa vorgemacht, was wir tun müssen. Wir brauchen neue Unternehmen, neue Technologien, neue Produkte, neue Märkte. Hierfür müssen wir Steuern senken, Bürokratie abbauen, Eigenverantwortung ausbauen und ein Gründerklima in Deutschland hinbekommen. Die Vorschläge der Hartz-Kommission sind letztlich ein Beweis für den Misserfolg der rot-grünen Bundesregierung,

[Beifall bei der CDU]

und auch das 52. Gutachten zum Arbeitsmarkt ist eben nur ein Gutachten. Es wäre aber richtig, Ideen nicht nur zu entwickeln, sondern endlich Taten folgen zu lassen. Deshalb sage ich: Die wirtschaftliche Lage wird sich durch eine zweite Halbzeit der rotgrünen Bundesregierung mit oder ohne Hartz weiter verschlechtern. Im Interesse der Arbeitsuchenden, der Arbeitnehmer und der kleinen und mittleren Unternehmen brauchen wir einen

Wechsel in Deutschland, brauchen wir veränderte Rahmenbedingungen. Nur Unternehmen schaffen Arbeitsplätze, und eine soziale Politik hat die erste Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen und nicht Mangel besser zu verwalten oder erfolglos zu vermitteln. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Danke schön! – Für die PDSFraktion hat nunmehr das Wort die Abgeordnete Frau Freundl. – Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Dilemma der Vorschläge der Hartz-Kommission offenbart sich an zwei Berliner Zahlen: 370 000 Arbeitsuchende stehen 8 245 offenen Stellen in Berlin gegenüber. Das heißt, Berlin hat primär nicht ein Vermittlungs-, sondern ein Arbeitsplatzproblem.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Wenn wir Arbeitslosigkeit lösen wollen, dann ist es richtig, dass die Bundesanstalt für Arbeit umgestaltet wird. Das ist notwendig, und das haben wir in der Vergangenheit sehr oft diskutiert. Aber ich denke, diese Vermittlungsoffensive kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik notwendig ist, und das haben meiner Ansicht nach beide Regierungen in dem Maße in der Vergangenheit auf Bundesebene nicht realisieren können. Es rächt sich auch jetzt, dass ein tatsächlicher sozialökologischer Umbau der Industriegesellschaft nicht in ausreichendem Maß in Angriff genommen würde, denn sonst würden wir über diese Arbeitsplatzlücke nicht so definitiv und genau reden müssen.

[Beifall bei der PDS]

Unser Sozialstaat resultiert aus einem Interessenausgleich von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite und nicht aus dem gegenseitigen Ausspielen von Arbeitslosen und Arbeitsplatzbesitzern. Massenarbeitslosigkeit ist das Problem unserer Zivilgesellschaft, und weil Eigentum verpflichtet, können neue Arbeitsplätze nur entstehen, wenn alle Seiten dazu ihren Beitrag leisten. Diese Vorschläge in letzter Minute sind kein Gesamtkunstwerk. Wir werden im Verlauf der Debatte sehr genau erklären und kennzeichnen, welche Vorschläge wir begrüßen und welche wir ablehnen.

Maßstäbe unserer Bewertung sind – erstens: Die Aussichten auf schnelle und effektivere Vermittlung müssen wachsen. – Zweitens: Die soziale Situation der Arbeitslosen muss sich gegenüber der Arbeitslosigkeit tatsächlich verbessern. – Drittens: Die Probleme können nur mit den Beteiligten und nicht ohne die Betroffenen gelöst werden. – Viertens: Die Würde der Arbeit muss gewahrt bleiben. – Fünftens: Das Einkommen eines Vollzeitjobs muss existenzsichernd sein. – Sechstens: Selbstverständlich muss das Arbeitsverhältnis auch sozial gesichert sein.

In der 15-köpfigen Hartz-Kommission befindet sich immerhin eine Frau, die gleichzeitig Gewerkschafterin ist und ein ostdeutschen Oberbürgermeister, aber übrigens niemand, der von Arbeitslosigkeit betroffenen ist. Und das, finde ich, merkt man den Vorschlägen auch an.

Ich sage trotzdem zu Beginn deutlich, welche Vorschläge wir ausdrücklich begrüßen, welche wir für umsetzungsfähig halten und wo Berlin tatsächlich auch einen Schritt weiter ist als die Hartz-Kommission. Da, wo sich die Vorschläge der Hartz-Kommission auf ihr Kerngeschäft, nämlich die Verbesserung, Effektivierung und Motivierung, beschränkt, macht sie gute Vorschläge. Die Art des Job-Centers und auch die Einbeziehung von erwerbsfähigen Sozialhilfeempfangenden in das System der Job-Center – seit langem eine Forderung der PDS – sind gute Vorschläge. Ich lobe an dieser Stelle ausdrücklich die Intensität, die Tiefe und die Genauigkeit der Problemlösung. Die Genauigkeit, wie das passiert, sucht tatsächlich ihresgleichen. Ja, das hat auch in Skandinavien funktioniert, und das ist die Übernahme des skandinavischen Modells. Wir in Berlin können einen Beitrag

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dazu leisten, dass die Schritte, die wir schon gemacht haben, tatsächlich auch ein Impuls für die Umsetzung der Hartz-Kommissionsvorschläge in diesem Bereich sind.

[Beifall bei der PDS – Beifall der Frau Abg. Grosse (SPD)]

Zum Zweiten finden wir auch richtig, dass Unternehmen in Arbeitszeit- und Beschäftigungsfragen intensiv beraten werden sollen. Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass der Umverteilungsgedanke in Bezug auf Überstundenabbau usw. einen stärkeren Raum einnimmt und dass diese Möglichkeiten auch stärker in der Hartz-Kommission zu konkreten Vorschlägen führen.

Des Weiteren loben wir, dass die Öffentlichkeit sensibilisiert werden soll, dass in allen Bereichen unseres Lebens und unserer Gesellschaft dafür geworben werden soll, nach Möglichkeiten der Minimierung von Arbeitslosigkeit zu suchen. Es gibt Vorschläge, die wir in ihren sozialen und finanziellen Auswirkungen auch auf das Land Berlin nicht bewerten können. Ich will deutlich sagen: Wenn wir nicht wissen, in welcher Höhe das Arbeitslosengeld II gezahlt wird und wenn wir auch nicht wissen, in welcher Weise es zwischen Bund, Länder und Kommunen aufgeteilt werden soll, müssen wir eine Bewertung noch zurückstellen.

Allerdings sehen wir in dem Bereich, in dem wir nicht nur Fragen stellen, sondern sagen, dass wir das klar ablehnen, tatsächliche Gefahren für die Entwicklung unserer Gesellschaft, und da muss dringend etwas verändert werden, das ist klar. Wir sagen Nein zu einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors. Ich habe die Bemühungen der Bundestagsfraktion der Grünen in der letzten Legislaturperiode auch immer genau so verstanden, dass Männer und Frauen einen eigenständigen und existenzsichernden Anspruch auf Arbeit haben. Aber genau das sehe ich mit der Ausweitung der Minijobs und der Ich- und Familien-AGs als nicht umgesetzt, was ich für ausgesprochen kritikwürdig halte.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ferner warnen wir davor, dass mit den PersonalserviceAgenturen tatsächlich auch staatlich initiiert Leiharbeit untertariflich stattfindet. – Das ist übrigens auch ein Systembruch von Herrn Hartz und seiner Kommission. Er sagt ausdrücklich: „Wer arbeitet soll mehr im Portemonnaie haben.“ Das findet – zumindest in den ersten sechs Monaten, wenn ein Arbeitsloser an eine Leiharbeitsfirma ausgeliehen wird – nicht statt, und in den nächsten sechs Monaten ist es noch unklar – wie an vielen Stellen des Papiers. Trotzdem wollen wir klar sagen, dass wir grundsätzlich die Möglichkeiten der Schaffung von Arbeitsplätzen durch Leiharbeit nicht unterschätzen, dass wir sie für erprobungsfähig halten, und zwar zu tariflichen Bedingungen. Da sage ich Frau Grosse noch einmal deutlich: Das ist derzeit nicht gegeben – beispielsweise auch zu den Bedingungen des erfolgreichen Modells, das „Start“ heißt und in Nordrhein-Westfalen realisiert wird.

Wir sagen ganz klar Nein zu der Vielzahl von Verschlechterungen und dem geplanten Abbau von Rechten und von Leistungen für Arbeitslose. Es ist schwer vorstellbar, wenn eine Arbeitslose an einem anderen Ort, unterhalb ihrer Qualifikation und zu Arbeitslosengeld ausgeliehen wird und damit ein anderes Normalarbeitsverhältnis – für den Hinterkopf: in Berlin gibt es noch 55 % Normalarbeitsverhältnisse – verdrängt wird, dann ist das tatsächlich eine klassische Milchbuben-Rechnung, und es findet keine Schaffung neuer Arbeitsplätze. Also, an dieser Stelle muss aus unserer Sicht dringend nachgebessert werden.

[Beifall bei der PDS]

Die Hartz-Kommission hat die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nicht reduziert. Aber wir können auf Seite 129 eine bemerkenswerte Drohung nachlesen:

Sollten bis 2005 nicht 2 Millionen neue Jobs entstanden sein, beispielsweise dadurch, dass die Unternehmen ihr Versprechen, 1,5 Millionen neue und offene Stellen zu mel

den nicht einhalten, wird man zügig über die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nachdenken.

Ich denke, dieser Vorschlag kommentiert sich von selbst.

Ich werde nun in der Kürze meiner Redezeit versuchen, auf einzelne Aspekte einzugehen, also auf das, was die Hartz-Kommission für einzelne Betroffene bedeuten könnte. Dabei frage ich nach der Geschlechtergerechtigkeit und der Chancengleichheit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Frau Kunkel-Weber – selbst Kommissionsmitglied – sagte im August dazu:

Die Kommission hat tatsächlich ein traditionelles Familienbild. Der Gender-Aspekt ist ohne Zweifel unterbelichtet. Frauen als Hauptverdiener kommen erst einmal nicht in den Blick der Kommission.