Protokoll der Sitzung vom 17.01.2002

weil der Bürgermeister ja bleibt, über ihn werden wir noch öfter reden können. – Wir werden die Senatsmitglieder daran messen, ob Sie das, was sie den Berlinerinnen und Berlinern versprochen haben, auch wirklich halten werden, also daran, was sie für die Zukunft dieser Stadt zu leisten vermögen. Aber wir werden dabei auch die Vergangenheit und die Geschichte nicht aus den Augen verlieren. Anders als manche öffentliche Äußerung der vergangenen Wochen zollen wir den deutlichen Worten in der Präambel zur Zwangsvereinigung, zur Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni, zum Bau der Mauer und auch zum Schießbefehl Respekt. Wir sagen aber auch: Mit dem Versuch, die Vergangenheit in einen Satz zu gießen, darf nicht der Versuch einhergehen, diese Vergangenheit auch zu entsorgen.

[Beifall des Abg. Niedergesäß (CDU)]

Insofern darf der Satz aus der Präambel, auf Dauer dürfe die Vergangenheit nicht die Zukunft beherrschen, nicht dazu führen, zu verdrängen, zu vergessen und zu verschweigen. Darauf werden wir achten. Wir werden auch darauf achten, dass die Transparenz von Biographien als politisches Handeln zu verstehen ist, dass es eine wirkliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit gibt, eine Aufarbeitung von Geschichte. Unterlassungserklärungen allein reichen uns da nicht aus. Denn nur ein offenes Umgehen mit der Geschichte wird am Ende – egal welche Koalition regiert – die vielbeschworene Einheit dieser Stadt wirklich herstellen können. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der FDP – Beifall des Abg. Dr. Stölzl (CDU)]

Danke schön, Frau Dr. Klotz! – Das Wort hat nun für die CDU-Fraktion der Abgeordnete Gregor Hoffmann. Die CDU hat noch eine Restredezeit von 6 Minuten.

[Zuruf von der CDU: 8 Minuten!]

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erinnern – ich wende mich heute an die Berlinerinnen und Berlin und bitte Sie, sich einmal folgende Situation vorzustellen.

[Zuruf von der PDS: Die Zuhörer gehen schon, schauen Sie nur!]

Sie bewerben sich gerade um einen Ausbildungsplatz, und Sie legen die besten Zeugnisse vor. Die Personalchefin guckt sich diese genau an und sagt zu Ihnen: Das ist ja hervorragend, Sie können bei uns anfangen. Füllen Sie nur noch den Personalbogen aus. – Stutzig werden Sie nur bei der Frage, nachdem Sie vorher strahlend und zuversichtlich diesen Bogen angefangen haben auszufüllen, ob Sie Verwandte in Westdeutschland haben. Wenn Sie diese Frage wahrheitsgemäß mit Ja ankreuzen, reißt Ihnen die Personalchefin die Unterlagen aus der Hand und meint, es habe gar keinen Sinn weiterzuschreiben. So erging es mir 1987 – mit 16 Jahren –, nicht einmal drei Jahre vor dem Zusammenbruch des SED-Regimes in dieser Stadt. Auch dies ist ein Teil der deutschen Geschichte, das Durchkreuzen meiner Berufspläne z. B. oder dass ich meine Oma zu ihrem 75. Geburtstag nicht besuchen durfte, weil ich meinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet hatte. Oder dass ich eine Studiendelegierung nicht bekommen würde, wenn ich der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft nicht beitrete. Diese vielfältigen Unterdrückungsmechanismen für ganz normale Bürger, diese politischen Schikanen rücken immer seltener in den Blick.

Es gab die Mauer. Es gab ein gigantisches Spitzelsystem, zu dem sogar manche der heute handelnden Personen – ich würde mir wünschen, dass gerade Herr Gysi dem beiwohnen würde – eine Beziehung der einen oder anderen Art unterhielt. Es gab Hohenschönhausen und Bautzen. Aber hinter diesen spektakulären Menschenrechtsverletzungen gab es doch den grauen sozialistischen Alltag, der Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung mit Füßen trat. Das waren die unentrinnbaren Verhältnisse, mit denen sich viele arrangieren mussten, ohne sie für gut zu heißen. Sie erinnern sich: Die Partei, die Partei, die hat immer Recht. – Die SED wusste besser als wir selbst, was für uns gut war. Sie wollte den sozialistischen Menschen erziehen. Was will sie heute als PDS? – Sie bleibt die Partei mit einem unabdingbaren Hegemonieanspruch, und dies unter anderem mit einer DKPVertreterin aus dem alten Westdeutschland.

Reste dieses Alleinvertretungsdünkels finden Sie bis heute, nämlich in der dreisten Behauptung, nur die PDS sei für die Bewohner der ehemaligen DDR repräsentativ und nur die Machtbeteiligung der PDS sei ein Beitrag zur inneren Einheit. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wären mit der inneren Einheit ohne die PDS in diesem Land schon viel weiter.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Ich spreche niemandem das Recht und die Fähigkeit ab, in zwölf Jahren umzudenken oder umzulernen, auch nicht Herrn Gysi, der zum SED-Regime in keinerlei Widerstandshaltung stand, wie er selbst sagt, auch nicht Herrn Flierl, der ausgerechnet in der Hochzeit der Ausbürgerungswelle, Stichwort Biermann, freiwillig der SED beitrat. Aber, ich hege doch tiefe Skepsis, dass sich Grundhaltungen und Grundüberzeugungen, die in langen Jahren gewachsen sind, völlig überwinden und unterdrücken lassen. Zumal auch der Wille dazu fehlt, was ein Blick in die Programmatik der PDS nur zu deutlich macht. Allerdings staune ich vor der Naivität vieler Mitbürger, die sich vom pragmatischen Auftreten der PDS-Funktionäre blenden lassen und den ideologischen zentralistischen Überbau dieser Partei nicht erkennen. Es ist doch die offizielle Lesart der PDS, dass der Sozialismus im Kern eine gute Sache ist, dass er aber von der DDR nur schlecht umgesetzt worden sei. Mit anderen Worten: Das mit dem Sozialismus machen wir dieses Mal besser, und die heutige Wahl von

ehemaligen SED-Funktionären zu Senatoren im freien, demokratischen, wiedervereinten Berlin ist eine dieser Etappen, die ich mit Sorge für unsere Stadt betrachte.

[Beifall bei der CDU]

Nun gut, die PDS macht nichts anderes als das, was in ihrer strategischen Tradition steht, nach dem Motto: heute Berlin, morgen ganz Deutschland.

Dreiviertel der Berliner – und das lassen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen – Wählerinnen und Wähler haben nicht PDS gewählt, nein, mehr noch: 78 Prozent. Wieso kommt es dennoch zu einer Regierungsbeteiligung der PDS? Gab es wirklich keine Alternativen? – Es gab mehrere Alternativen. Ohne SPD, ohne die Herren Momper, Wowereit und Strieder wäre das so nicht möglich gewesen. Alle Berliner, vor allem die aufrechten Sozialdemokraten im Ostteil, die ihre Hoffnungen darauf gesetzt haben, dass die Partei eines Kurt Schumacher, eines Ernst Reuter und eine Willy Brandt niemals zum Steigbügelhalter des Kommunismus herabwürdigen ließe, sind ab heute bitter enttäuscht.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Enttäuscht von Ihnen, Herr Wowereit und Herr Strieder,

[Cramer (Grüne): Und Landowsky auch!]

die sie eine historische Wende nach links vollziehen. Mag sein, dass Sie jetzt meinen, sich endlich vom ungeliebten Joch der CDU befreit zu haben, aber Sie haben sich dafür unter ein weitaus gefährlicheres Joch begeben, unter ein ideologisches.

[Wolf, Harald (PDS): Geben Sie wenigstens zu, dass Ihnen das Joch fehlt!]

Heute ist in der Tat ein historischer Tag,

[Pewestorff (PDS): Heute ist Donnerstag!]

aber er wird zu den Tagen gehören, an die sich Berlin in absehbarer Zeit nicht gern erinnert und der schon heute einer Mehrheit von Berlinerinnen und Berlinern vor das Gesicht schlägt und deutlich macht: Es gibt nur eine Mitte – die Union.

[Beifall bei der CDU – Gelächter bei der PDS]

Herr Kollege! Würden Sie bitte zum Schluss kommen!

Deshalb wende ich mich in einem letzten, vermutlich vergeblichen Appell an Sie, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion: Es liegt in Ihrer Hand, den Ausgang dieses Tages zu verändern. Betrachten Sie sich als freie Abgeordnete, die ihrem Gewissen verpflichtet sind und nicht als vollautomatisierte Steigbügelhalter der Damen und Herren Gysi und Co.

[Pewestorff (PDS): Haben Sie das selbst aufgeschrieben?]

Selbst wenn Sie nicht historisch, sondern nur zukunftsgewandt denken und hier eine Zusammenfügung von SPD und PDS zu einer SPDS verhindern wollen, werden Sie gut daran tun. Sollten Sie aber dennoch diese geplante rot-dunkelrote Regierung wählen, können Sie sicher sein, dass die CDU-Fraktion der Anwalt für alle Berlinenrinnen und Berliner sein wird,

[Cramer (Grüne): Wie Landowsky!]

die nicht aufwachen wollen und sehen, wie der Sozialismus wiederholt, was er schon einmal getan hat, nämlich ein Land herunter zu wirtschaften und die Bürger im Stich zu lassen.

Herr Kollege! Kommen Sie bitte zum Schluss!

Wir werden als größte Oppositionspartei sachlich, aber kritisch diesen Senat begleiten

[Cramer (Grüne): So sachlich wie jetzt?]

und immer Position für die Berlinerinnen und Berliner beziehen. Sie werden sich auf einen inhaltlich scharfen Wettstreit für die besseren Ideen für unsere Stadt einstellen müssen.

Herr Kollege! Ich fordere Sie jetzt zum letzten Mal auf, zum Schluss zu kommen.

Noch ein Satz. – Die CDU-Fraktion wird sich richtigen Entscheidungen nicht verschließen. Wir werden an konstruktiven Lösungen für unsere Stadt mitwirken und Ihnen bessere Alternativen aufzeigen, denn uns geht es um ein freies, liebenswertes und zukunftsfähiges Berlin für die Berlinerinnen und Berliner, bei dem wir gern mit anpacken. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit kommen wir nunmehr zur Wahl des Regierenden Bürgermeisters, der Bürgermeister und des Senats.

Zum Wahlverfahren gestatten Sie mir einige Anmerkungen. Zum Regierenden Bürgermeister von Berlin wurde Herr Klaus Wowereit vorgeschlagen. Ich habe den Brief der SPD-Fraktion zuvor verlesen. Gemäß Artikel 56 Absatz 1 der Verfassung von Berlin in Verbindung mit § 75 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses wird der Regierende Bürgermeister mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt. Ich betone noch einmal besonders und ausdrücklich: mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Bei der Ermittlung der Mehrheit der abgegebenen Stimmen zählen nach unserer Geschäftsordnung die Stimmenthaltungen und die ungültigen Stimmen mit.

Ein Stimmzettel ist vorbereitet worden. Auf ihm finden Sie wie üblich die drei Möglichkeiten: Ja, Nein oder Enthaltung. – Ich bitte Sie, Ihr Votum entsprechend abzugeben. Ein leerer Stimmzettel ist keine Enthaltung, sondern wird als ungültig gewertet, weil Sie das Votum Enthaltung extra ankreuzen können. Anders gekennzeichnete Stimmzettel oder Stimmzettel mit zusätzlichen Vermerken werden ebenfalls als ungültig gewertet.

Ich bitte nunmehr um die Aufstellung der Wahlkabinen. Dann bitte ich Sie, sich nachher an den entsprechenden Wahlkabinen einzufinden. Es ist zu beachten, dass Sie die Stimmzettel nur in den Wahlkabinen ausfüllen. Meine Bitte ist, dass die seitlich stationierten Fernsehkameras jetzt ausgeschaltet werden, andernfalls bestünde die Möglichkeit, dass mit dem Teleobjektiv ein Einblick in das einzelne Abstimmungsverhalten der Abgeordneten genommen wird. Ist das sichergestellt? – Ich bitte dann die Beisitzer, an der rechten und linken Seite neben den Wahlkabinen Aufstellung zu nehmen. Das ist schon der Fall. Nunmehr bitte ich Frau Anja Hertel, die schon am Redepult steht, mit dem Namensaufruf zu beginnen. – Bitte schön, Frau Hertel!

[Aufruf der Namen und Abgabe der Stimmzettel]

Meine Damen und Herren! Haben alle Gelegenheit gehabt, ihre Stimme abzugeben? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das offensichtlich der Fall. Damit schließe ich den Wahlgang und bitte die Beisitzer, die Stimmen auszuzählen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses unterbreche ich die Sitzung.

[Auszählung]

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen. Das Ergebnis liegt vor, und ich kann es Ihnen mitteilen.