Protokoll der Sitzung vom 15.01.2004

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 43. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, begrüße unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter ganz herzlich.

Vor Beginn unserer Beratungen habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen und bitte Sie, sich zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

Am Montag haben wir in der St.-Josef-Kirche in Weißensee Abschied genommen von Tino Schwierzina, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Ost-Berlin und früheren Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin. Er ist am 29. Dezember im Alter von 76 Jahren verstorben. Mit Tino Schwierzina haben wir einen Mann verloren, dessen Name für immer mit der Wiedervereinigung unserer Stadt verbunden bleiben wird.

Tino Schwierzina, der in der DDR als Wirtschaftsjurist und Justitiar für volkseigene Betriebe tätig war, hat sich erst in fortgeschrittenem Lebensalter politisch engagiert und, wenn man so will, engagieren können: 1989 – in den Monaten vor Öffnung der Mauer, als in der DDR die Bürgerbewegung Konturen gewann – gehörte er zu den Mitbegründern der SPD in Ost-Berlin, die anfangs noch SDP hieß. 1990 wurde er Spitzenkandidat der SPD bei den Kommunalwahlen am 6. Mai, und schließlich am 30. Mai – seinem 63. Geburtstag – wurde er zum Oberbürgermeister des damaligen Ost-Berlin gewählt. Von diesem Tag an hat er Geschichte gemacht.

Berlin war damals – bis zum 3. Oktober 1990 – staatsrechtlich noch geteilt. Aber die Grenze war offen: Ost- und West-Berlin zogen einander wie Magnete an. Mit Mut und Courage konnte man in dieser Ausnahmesituation die Zusammenführung der Stadt gestalten. So war es uns im Magistrat und im Senat möglich, in kurzer Zeit für die Menschen in Ost und West mehr zu erreichen, als wir wohl alle zuvor zu hoffen gewagt hatten.

Senat und Magistrat arbeiteten damals sehr eng zusammen. Dass dies so unkompliziert und so erfolgreich geschehen konnte, war auch und in erster Linie ein Verdienst von Tino Schwierzina und seiner Fähigkeit zum Ausgleich und Pragmatismus. Er überzeugte die Menschen durch die Gelassenheit und Besonnenheit, mit der er Politik machte und Entscheidungen traf. Immer war er der glaubwürdige Repräsentant der Menschen im Ostteil Berlins. Seine Entscheidungen aber traf er mit Blick auf die ganze Stadt.

Über die Dauer seiner Amtszeit hat sich Tino Schwierzina nie Illusionen gemacht. Er sah es als seinen Auftrag an, beide Teile der Stadt wieder zusammenzufügen und sein Amt als Oberbürgermeister der Teilstadt überflüssig zu machen, was er in der ersten Magistratserklärung in der alten Stadtverordnetenversammlung – der demokratisch gewählten – von vornherein so zum Aus

druck brachte. Seine Amtszeit endete mit der Wahl des Gesamtberliner Abgeordnetenhauses und der Wahl des neuen Senats. Das erste Gesamtberliner Abgeordnetenhaus wählte diesen hochangesehenen Mann des Ausgleichs und Repräsentanten der Einheit am 11. Januar 1991 für vier Jahre zum Vizepräsidenten. Dem Engagement und den persönlichen Überzeugungen Tino Schwierzinas entsprach es, dass er den Vorsitz des Petitionsausschusses übernahm, um sich weiterhin unmittelbar um die Sorgen und Probleme der Menschen kümmern zu können.

Ein Jahr nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament verliehen ihm Senat und Abgeordnetenhaus 1996 die Würde eines Stadtältesten von Berlin.

Unsere Trauer um Tino-Antoni Schwierzina verbindet sich mit Hochachtung und Dank für alles, was er für unsere Stadt getan hat.

Tino-Antoni Schwierzina hat sich um Berlin verdient gemacht.

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 9. Januar ist der frühere langjährige Abgeordnete und Senator Gerd Löffler im Alter von 76 Jahren gestorben. Er hat der SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses von 1963 bis 1991 – also 28 Jahre lang – angehört. Von 1970 bis 1975 war er Senator für Schulwesen, anschließend bis 1977 Senator für Wissenschaft und Kunst.

Mit Gerd Löffler verliert Berlin einen geradlinigen und aufrechten Politiker, der in den Jahren unmittelbar nach dem Mauerbau die Landespolitik in West-Berlin entscheidend mitgeprägt hat.

Sein politisches Engagement hatte 1946 in Thüringen bei der LDP begonnen. Wegen politischer Auseinandersetzungen mit der SED wurde er 1950 in Thüringen aus dem Schuldienst entlassen. Er flüchtete nach West-Berlin, studierte politische Wissenschaften und neuere Geschichte und legte das Examen als Diplom-Politologe ab. 1958 schloss er sich hier in Berlin der SPD an.

Im Abgeordnetenhaus stand Gerd Löffler bereits Ende der 60er Jahre im Rampenlicht der Öffentlichkeit, als er Vorsitzender des Untersuchungsausschusses war, der die Umstände aufklären sollte, die am 2. Juni 1967 bei den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch zum Tod des Studenten Benno Ohnesorg geführt hatten. Außerdem gehörte Gerd Löffler später längere Zeit dem für die Ost- und Deutschlandpolitik so wichtigen Ausschuss für Bundesangelegenheit und Gesamtberliner Fragen und schließlich dem Kulturausschuss an, wo er mit großer Leidenschaft, großem Engagement und mit großer Sachkompetenz gearbeitet hat. Darüber hinaus war er mehrere Jahre Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, eine für die Integration der Fraktion und auch – mit seiner Sachkenntnis – für die Bewältigung der Folgen, die sich aus der Öffnung der Mauer ergaben, ganz wichtige Aufgabe.

In diesen Funktionen im Parlament wie auch als Senator hat er in seiner geradlinigen Art stets klare und deut- liche Positionen eingenommen und seine Entscheidungen gerade in der Schul- und Wissenschaftspolitik beharrlich vertreten und auch durchgesetzt. Dadurch hat er natürlich auch immer wieder Kritik auf sich gezogen – das kennen wir ja. Doch unabhängig von politischen Turbulenzen orientierte er sich immer an klaren politischen Zielen – in der Ost- und Deutschlandpolitik oder auch in der Schulpolitik: ein Schulsystem, das Chancengleichheit für alle Schüler garantierten sollte und eine leistungsfähige und vielfältige Hochschul- und Wissenschaftslandschaft.

Gerd Löffler hat in politisch schwierigen Jahren für Berlin viel geleistet.

Wir gedenken seiner mit Trauer und Dank ebenso wie Tino Schwierzinas.

Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.

Meine Damen und Herren, ich habe einiges Geschäftliches mitzuteilen. Der Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Freie Schulen erhalten – Bildungsvielfalt sichern!“, Drucksache 15/2339, wurde in unserer 42. Sitzung am 11. Dezember vergangenen Jahres an den Ausschuss für Jugend, Familie, Schule und Sport überwiesen. Dieser Antrag soll nun auch an den Hauptausschuss überwiesen werden. – Dazu höre ich keinen Widerspruch, dann wird so verfahren.

Der Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur hat mit Schreiben vom 21. August 2003 an die Vorsitzende des Ausschusses für Kulturelle Angelegenheiten vorgeschlagen, dass der auf Grund eines Plenarbeschusses vom 25. Februar 1999 jährlich zu erstellende Bericht zur aktuellen Situation der bezirklichen Kulturarbeit dem Abgeordnetenhaus künftig nur noch alle zwei Jahre vorgelegt werden sollte. Der Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten ist mit einer derart reduzierten Berichterstattung einverstanden, jedoch nicht mit dem vorgeschlagenen neuen Termin 1. Dezember. Um eine Einbeziehung der Berichtsergebnisse in die Haushaltsberatungen zu ermöglichen, soll der Bericht weiterhin zum 1. September eines Jahres vorgelegt werden. – Ich höre keinen Widerspruch zu dieser Neuregelung, dann verfahren wir so. Dann ist das so beschlossen, dass der Bericht zur aktuellen bezirklichen Kulturarbeit dem Abgeordnetenhaus künftig alle zwei Jahre – beginnend in diesem Jahr – zum 1. September – Frau Vorsitzende des Kulturausschusses nickt – vorgelegt wird. Dann wird so verfahren.

Am Montag sind vier Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD und der PDS zum Thema: „Nach dem Verfassungsgerichtsurteil: Sondersteuern als Patentlösung?“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Ideenlosigkeit für Berlin – Hauptstadtdiskussion ohne den Regierenden Bürgermeister –“,

3. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Schluss mit immer mehr Steuern und Abgaben! Aufschwung kommt nur durch Entlastung der Bürger“,

4. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „10 Jahre Berliner Bankgesellschaft – die unendliche Geschichte von Berliner Größenwahn, Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Verluste und verschleppter Aufklärung“.

Im Ältestenrat konnten wir uns nicht auf ein gemeinsames Thema verständigen. Ich rufe daher zur mündlichen Begründung der Aktualität auf. Wer von Seiten der SPD meldet sich? – Herr Kollege Zackenfels, herbei! – Bitte, Sie haben das Wort.

[Heiterkeit]

Er stand so zögernd in der Reihe, deshalb wusste ich nicht, ob er reden wird. – Bitte, Herr Zackenfels!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Just in dem Augenblick, da der Senat von Berlin eine überarbeitete Version des Haushalts zur parlamentarischen Beratung vorlegt, platzt ein Beschluss der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Haushaltspolitik, der praktisch die Bankrotterklärung ihres haushaltspolitischen Anspruchs darstellt, werte Kollegen, zwischen PDS und SPD.

Seit zwei Jahren debattieren wir im Plenum und in Ausschüssen praktisch ununterbrochen über die finanzielle Situation unserer Stadt und die notwendigen Konsequenzen. Seit zwei Jahren praktizieren Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90 – zugegebenermaßen sehr erfolgreich – , ein manchmal bis ins perfide gehendes Doppelspiel, indem Sie nämlich einerseits seriösen Konsolidierungswillen suggerieren und andererseits aber keine Gelegenheit auslassen, uns dafür fast in allen Fällen an den Pranger zu stellen.

[Beifall bei der SPD]

Aber, liebe Bündnisgrüne, mit Kritik allein verdient man nicht, Verantwortung zu tragen,

[Heiterkeit bei den Grünen]

und zur Regierungsfähigkeit gehören Konzeptionen. Und jetzt ist es so weit. Mit einem regelrechten Paukenschlag haben Sie einen Vorschlag auf den Tisch gelegt – ich meine Ihre Forderung nach einer zusätzlichen Landessteuer – ,

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Zusätzlich ist Blödsinn!]

stark progressiv, zweckgebunden, und dieses Feigenblättchen zum nackten Bündnis 90-Wahn muss sein: selbstverständlich befristet.

[Zuruf von der FDP: Und sozial verträglich!]

Die Regierungskoalitionen stehen umso mehr in Ihrer Schuld, Ihnen Gelegenheit zu geben, Ihre Vorstellungen

Präsident Momper

in großer Runde zu debattieren, als wir in der Vergangenheit oft genug gefordert haben, Sie sollten endlich darstellen, wie Sie es anders, besser, weniger schmerzhaft machen würden.

[Brauer (PDS): Genau!]

Hören wir uns heute an, wie Bündnis 90/Die Grünen den Berlinerinnen und Berlinern pauschal mal einfach so mindestens 100 Millionen € entziehen wollen. Ich sage Ihnen voraus, Ihr Beschluss zur Einführung einer Notlagensteuer ist eine Geisterfahrt vor entsetzten Rängen. Das genau wird die heutige Aktuelle Stunde zeigen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifallbei der FDP]

Aber auch Ihren Worten, verehrte CDU, wird man heute ganz besondere Aufmerksamkeit schenken müssen, denn wir sprechen über die fiskalpolitischen Bestrebungen des Koalitionspartners, den Sie sich angeblich schon auserkoren haben, Kollege Zimmer, und mit dem Ihr Landesvorsitzender in Mitte bereits fleißig Politik betreibt. 2006 ist nicht mehr weit.

[Wieland (Grüne): Sie machen jetzt schon Wahlkampf!]

Meinen Sie, werte Damen und Herren von der CDU, denn wirklich, Sie kriegen diesen Charakterzug des politischen Amokläufers, der uns aus leidiger Erfahrung schon öfter davon abgehalten hat,

[Allgemeine Heiterkeit]

mit Bündnis 90 zu koalieren, bis dahin weg? Die Antwort, ob Sie das bis 2006 schaffen können, die Antwort sind Sie der Stadt auch heute schuldig.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der PDS und der FDP]