Protokoll der Sitzung vom 26.08.2004

[Beifall bei der CDU, der FDP und den Grünen]

Das Wort hat nunmehr der Kollege Liebich. – Bitte schön, Herr Fraktionsvorsitzender!

Herr Präsident!

[Zurufe von der CDU: Chamäleon! Wendehals! – Weitere Zurufe von der CDU]

[Ah! von der CDU und der FDP]

Ich finde das nicht gerecht.

[Beifall bei der PDS]

Ich finde es auch nicht gerecht, dass die Einführung einer Vermögensteuer, wie Sie dieses Haus von der rot-grünen Bundesregierung gefordert hat, von dieser nicht einmal in Erwägung gezogen worden ist, während auf der anderen Seite bei Menschen, die unverschuldet in die Arbeitslosigkeit geraten sind, an die private Altersvorsorge herangegangen werden soll. Ungerechtigkeiten wie diese halten wir für den Grundfehler der Agenda 2010.

[Beifall bei der PDS]

Ja, wir von der PDS haben Differenzen mit all den Parteien, die die Hartz-Gesetze für die Lösung der Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt halten. Frau Klotz! Deshalb können wir einem Antrag, der die Hartz-Gesetze begrüßt, auch nicht zustimmen.

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Das Wort „begrüßen“ kommt darin überhaupt nicht vor!]

Wir sind uns in den Punkten, die die Umsetzung betreffen, einig, aber einer Begrüßung dieser Gesetze – das werden Sie verstehen – kann die PDS selbstverständlich nicht zustimmen.

[Beifall bei der PDS]

Herr Zimmer! Wir finden in der Tat nicht – so, wie Sie es eben gesagt haben –, dass die Entscheidungen im Bundestag und im Bundesrat alternativlos waren. Deshalb hat das Land Berlin im Bundesrat Anträge gestellt, die abgelehnt worden sind. Am Ende haben wir nicht zugestimmt, und zwar im Dezember gemeinsam mit Mecklenburg-Vorpommern und dann erneut im Juli, als schon fast alle Messen gesungen waren. Da waren dann auch die CDU-Ministerpräsidenten Böhmer, Althaus und Milbradt

Wir setzen nicht auf Chaos und Hysterie, sondern auf Aufklärung. Politik hat aber auch nicht die Aufgabe, Wahrheiten zu verkleistern. Es ist ein Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein – und, Herr Zimmer, Sie haben das vorhin bezogen auf Herrn Zeller auch zugestanden –, bei den deutlichsten Einschnitten in das soziale Netz der Bundesrepublik Deutschland nicht zu schweigen, sondern Pro und Contra auszutauschen. Deshalb finde ich es gut, dass der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzende Müller ebenso wie die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grü

nen Klotz Nachbesserungen ihrer eigenen rot-grünen Gesetze fordern – z. B. bei der Anrechnung der Altersvorsorge, der Höhe der Zuverdienstmöglichkeiten und bei der Anrechnung von Partnereinkommen.

Ich verstehe es als Ausdruck von Sorge und nicht als Spagat, wenn der Grünen-Fraktionsvorsitzende Volker Ratzmann im Sommerinterview mit der „BZ“ sagt, er wünsche sich für Berlin viele Arbeitsplätze und wenig Hartz. Wenn der Landesvorsitzende Zeller sagt, es müsse noch einiges getan werden, damit die Menschen im Osten keine drastischen Vermögensverluste hinnehmen müssen, ist er kein Populist. Jörg Schönbohm meint, Hartz IV werde nicht gelingen, wenn nicht mehr Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt geschaffen werden, und damit hat er Recht.

Alle diese Politiker gehören zu Parteien, die die HartzGesetze beschlossen haben. Sie sind für die Umsetzung in Ländern und Kommunen oder aber für deren parlamentarische Kontrolle verantwortlich. Sie haben trotzdem Kritik und äußern sie. Ist das ein Spagat? – Christian Ströbele, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Regierungsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, geht sogar dagegen auf die Straße. Der sächsische Ministerpräsident Milbradt von der CDU dachte laut darüber nach, und SPD-Mitglieder habe ich am Montag in Berlin auch dort getroffen. Ich finde all das legitim, wundere mich aber, dass dann ausgerechnet bei der Partei ein Riesenfass aufgemacht wird, die seit zwei Jahren die Hartz-Gesetze kritisiert und ihnen im Bundesrat und Bundestag nie zugestimmt hat.

offenkundig nicht Ihrer Meinung, dass es keine Alternative gebe.

[Zuruf des Abg. Eßer (Grüne)]

Es gibt auch Alternativen: Eine andere Steuerpolitik zum Beispiel! – Das Geld, das den sozial Schwächeren jetzt fehlt, hätten sie bestimmt – weil sie es müssen – vollständig für den Konsum ausgegeben. Dass das nun bei all denen passiert, für die der Spitzensteuersatz abgesenkt wird, bezweifele ich. Die Agenda 2010 reduziert die Kaufkraft in Berlin um 300 Millionen €. Das schadet der Berliner Wirtschaft. Eine Alternative ist eine Steuerpolitik, die die Kaufkraft bei denen stärkt, die konsumieren, und nicht bei denen, die spekulieren.

[Beifall bei der PDS]

Eine Alternative wäre auch eine Arbeitszeitverkürzung, wie es der rot-rote Senat im öffentlichen Dienst vorgemacht hat. Statt immer weniger Menschen immer länger arbeiten zu lassen, ist auch hier Umverteilung der richtige Weg.

Eine Alternative ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, wie es die PDS seit langem fordert. Wir sind in dieser Frage an der Seite von Franz Müntefering und einer Minderheit der DGB-Gewerkschaften. Gerade in Ostdeutschland werden in zunehmendem Maße Löhne unterhalb des Existenzminimums gezahlt. Die Tarifpartner haben offenkundig nicht die Kraft dazu, dies zu verhindern. Da muss eine Grenze gesetzt werden.

[Beifall bei der PDS]

Eine Alternative ist eine solidarische Bürgerversicherung für die gesundheitliche Versorgung sowie eine solidarische Rentenversicherung von allen für alle. Und eine Alternative zur Verhinderung von Armut ist die Einführung einer steuerfinanzierten, bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung anstelle von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die gegenwärtige Politik, Herr Zimmer, ist nicht alternativlos. Agenda sozial statt Hartz IV – das ist die Alternative!

[Beifall bei der PDS]

Viele Menschen in Deutschland sind in Sorge, sozial abzurutschen, und das macht sie sensibler. Politik hat nicht die Aufgabe – da hat Herr Müller völlig Recht –, den Menschen Angst zu machen. Dem ist die PDS Berlin auch immer entgegengetreten.

[Oh! von der CDU – Zurufe von der FDP]

[Beifall bei der PDS]

Ich finde es legitim, dass Menschen demonstrieren, finde aber auch, dass dann, wenn man sich schon auf Montagsdemonstrationen von 1989 berufen möchte – zu denen ich viele Unterschiede sehe –, eines aber doch gemeinsam sein sollte: Sie sollten friedlich sein und bleiben. Steinwürfe und auch Eierwürfe sind das aus meiner Sicht nicht, und Rechtsextreme haben auf Demonstrationen für Gerechtigkeit keinen Platz. Das haben die Berliner Demonstranten am Montag auch deutlich gemacht. [Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Zu Beginn der Reformdebatte vor zwei Jahren gab es durchaus Gemeinsamkeiten. Auch wir fanden und finden die Betreuung von Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern aus einer Hand gut, aber nicht bedingungslos. Die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau hat die gute Idee zu einer schlechten gemacht. Dabei stand im Wahlprogramm der SPD zu den Bundestagswahlen noch – ich zitiere:

Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.

Der rot-rote Senat wird unter schwierigsten Rahmenbedingungen Vorschläge für die kommunale Beschäftigungspolitik unterbreiten. Die Fraktionen von PDS und SPD werden ihn dabei unterstützen. Wenn die Grünen diesen Weg konstruktiv begleiten wollen – so verstehe ich Ihre Pressekonferenz –, sind Sie dazu herzlich eingeladen!

Berlin wird die Möglichkeiten, die Hartz IV bietet, nutzen. Da müssen Sie keine Sorge haben. Jede Verdächtigung, in den Senatsverwaltungen oder Bezirksämtern würde jemand auf dem Rücken der Betroffenen sein parteipolitisches Süppchen kochen, ist absurd.

Die rot-rote Koalition hat gemeinsam mit den Bezirken und der Bundesagentur für Arbeit zum Beispiel in Mitte, Friedrichshain und Kreuzberg schon lange vor Hartz IV Jobcenter eingerichtet. Als erstes Bundesland hat Berlin heute die Rahmenvereinbarung mit der Agentur für Arbeit zur Umsetzung der Hartz-Gesetze unterzeichnet. Die Vorbereitung für die Arbeitsgemeinschaften laufen koordiniert und auf Hochtouren. Die Bezirke werden dabei von der Sozialsenatorin und dem Arbeitssenator nach Kräften unterstützt.

Im Wahlprogramm der Grünen las sich das wie folgt:

Die Grundsicherung fasst Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen. Dabei wollen wir keine Umwandlung von Arbeitslosenhilfe in Sozialhilfe, sondern ein neues Leistungssystem. Arbeitslosenhilfebezieherinnen sollen nicht schlechter gestellt werden als bisher.

Das ist wohl gründlich daneben gegangen. Da meint die Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Steffi Lemke, den Protestierern vor ihrer Parteizentrale mitteilen zu müssen, dass wir von der PDS verlogen und populistisch seien und Wählertäuschung betreiben würden.

Herr Kollege Liebich! Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Klotz?

Nein, heute ausnahmsweise einmal nicht. Ich möchte meine Rede vollständig schaffen.

Dann fahren Sie bitte fort!

Ich darf die „taz“ zitieren:

Die Populisten sind ganz woanders zu suchen, nämlich bei den Berliner Grünen. Sie bleiben wie auf Bundesebene von jeglicher Kritik verschont, obwohl ihr Bundesvorstand den Mist mit verzapft hat.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Es wird Sie nicht überraschen, dass ich es gut finde, dass nun auch SPD-Politiker wie Harald Ringstorff finden, dass sich die Grünen zu sehr zurückhalten. Eilig hat Renate Künast heute dem RBB-Inforadio gesagt, dass die Grünen zu all dem stünden, was beschlossen wurde. Auch der Herr Außenminister ist heute wieder aufgetaucht. Ich finde schon, dass deutlich werden darf, dass die neue Partei der Besserverdienenden in der Bundesregierung nicht nur für Deutschlands Windräder und frei laufende Hühner zuständig ist.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Auch der Grundsatz von Fördern und Fordern, den die Bundesregierung nach den Ideen von Peter Hartz umsetzen wollte, hätte eine Gemeinsamkeit vieler werden können. Leider ist das auf den zweiten Teil beschränkt geblieben. Wirtschaftsminister Clement meint ja sogar, jeder bekommt ein Angebot. Aber nicht durch Bundespolitik. Mit der Agenda 2010 werden die Gelder für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stark reduziert. Die Strukturanpassungsmaßnahmen SAM entfallen ganz. Die Beschäftigten in ABM erwerben keine Anwartschaften mehr auf Arbeitslosengeld. Wo ist der ehrliche 2. Arbeitsmarkt, den der damalige Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, wollte? – Man kann Menschen nicht mit mehr Druck in Arbeitsplätze zwingen, die in strukturschwachen Regionen wie den neuen Bundesländern Berlin, aber auch Bremerhaven und dem Saarland gar nicht vorhanden sind.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

[Beifall bei der PDS]

Wenn nun noch die Bundesregierung dafür sorgt, dass der Teil, den sie zu verantworten hat, auch passiert, bin ich optimistisch, dass alles im Zeitplan bleiben und klappen wird. Dazu muss allerdings das von der Bundesagentur für Arbeit zugesagte Personal endlich kommen, und die Software muss zum Laufen gebracht werden.