Protokoll der Sitzung vom 07.03.2002

Das, was die PISA-Studie nun tatsächlich ergeben hat, muss systematisch und ernsthaft besprochen werden. Ich teile das – und möchte es nicht wiederholen –, was Sie in Ihrer Antragsbegründung dazu geschrieben haben. Herr Mutlu, Sie hätten das auch komplett kopieren können, und zwar aus der Regierungserklärung und aus dem Koalitionsabkommen.

[Mutlu (Grüne): Ah!]

Ja, steht genau so drin! – Wir sind uns in der Sache einig. Nur ein Punkt, lieber Kollege Mutlu, ist Ihnen offensichtlich entgangen, und ich hoffe, dass das nur Zufall war. Sie beschreiben nicht als notwendige Konsequenz von PISA, was ich und viele andere für die wichtigste Konsequenz halten. Diese lautet: Es muss in Deutschland endlich Schluss sein mit der Dogmatik im Bildungssystem, wo ständig behauptet wird, ein bestimmter Schultyp oder ein bestimmtes Schulexperiment bringe dieses oder jenes und habe diesen und jenen Effekt. Es wird immer nur dogmatisch

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Sen Böger

behauptet, und es wird abgestritten, dass man Erfolge und das Nichtvorhandensein von Qualität systematisch und erlaubterweise messen kann. Das ist ein wichtiger Punkt, nämlich die Notwendigkeit von Qualitäts- und Ergebniskontrolle. Die taucht in Ihrem Antrag und in Ihrer Begründung eigentlich nie auf, und das ist sehr zu bedauern.

[Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

Das ist eine wichtige und notwendige Erkenntnis neben anderen, die ich voll und ganz teile.

Ich möchte an dieser Stelle – mit Blickrichtung auf eine andere Seite des Hauses – noch das Folgende sagen: Sie können aus PISA auch nicht die Notwendigkeit ableiten, nach Klasse 4 in Schulformen aufzuteilen.

[Beifall bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Man kann aus PISA nicht ohne Weiteres etwas derartiges folgern. Ich möchte auch gar keine Schulstrukturdebatte in Deutschland, weil uns das vermutlich nicht sehr viel weiter bringt.

[Frau Senftleben (FDP): Das ist gut!]

Es ist eindeutig klar: Der Spitzenreiter bei PISA ist unser nördliches Nachbarland Finnland, dessen Schulsystem eindeutig als Gesamtschulsystem zu charakterisieren ist.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Dass die Inhalte und das Gesamtarrangement dort etwas anders aussehen als in Deutschland, ist genauso klar.

Der Finanzsenator ist leider nicht da. Ich will ihn auch nicht zitiert haben. Das darf ich auch gar nicht. Ich möchte es aber hier nur mal sagen:

[Heiterkeit bei der PDS und den Grünen]

Die Bildungsausgaben in Finnland haben auch einen wesentlich höheren prozentualen Anteil am Bruttosozialprodukt als die Bildungsausgaben in Deutschland. So wenig es mir nahe liegt, immerfort nur Quantitäten zu fordern, möchte ich an dieser Stelle doch – kurz und knapp ausgedrückt – sagen: Ohne Moos ist nichts los in der Bildungspolitik! – Das muss auch ganz klar sein.

[Beifall bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Wir brauchen hierbei also stabile Rahmenbedingungen, und wir dürfen vor allem eines nicht machen – ich hoffe, ich habe dabei in den Fraktionen viele Mitstreiter und Mitstreiterinnen: Es ist brandgefährlich, bei einem Bildungssystem, das unsere Zukunft garantiert, aus aktuellen Haushaltsgründen Einschnitte vorzunehmen. Die Effekte dieser Einschnitte sieht man später, und es dauert lange, sie zu korrigieren. Deshalb warne ich davor, aus kurzsichtigen Gründen zu sagen: Hier mache ich dieses noch kaputt, dort noch jenes, später setzen wir es wieder drauf. – Eine gesamte Schülergeneration hat die möglichen Folgen zu tragen. Das muss man sehr stark im Auge haben.

[Beifall bei der SPD – Hahn (FDP): War das eine Gegenrede zur Privatschulsituation?]

Selbst wenn wir uns einigen, was nach PISA zu folgen hat, muss man eines sehen: Es wird in Deutschland relativ lange Zeit brauchen, um verbesserte Ergebnisse zu bekommen. Wer glaubt, man könne jetzt kurz Geld hineinpumpen, drei Stunden mehr da, vier Stunden mehr dort, und man habe dann zugleich bessere Ergebnisse, der täuscht sich.

[Zuruf des Abg. Gram (CDU)]

Es ist klar, dass notwendige Maßnahmen, über die wir anhand ihrer Anträge sehr ausführlich diskutieren können, Zeit zur Wirkung brauchen. Wir dürfen unsere Schule nicht beständig mit Neuigkeiten überziehen, und zwar in einem Wechsel, der dann so abläuft: Kaum haben wir uns nach vielen Kontroversen für etwas entschieden, ist das gerade an der Schule angekommen,

die sind gerade dabei, das einzurichten, dann macht die Politik schon wieder den nächsten Kurswechsel und sagt, es gibt schon wieder etwas Neues.

[Steuer (CDU): Das machen Sie doch! – Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

So kann man ein Bildungssystem nicht vernünftig organisieren. Insofern, lieber Kollege Mutlu, werden wir dort unsere Leitlinien beibehalten.

Ich will Ihnen noch auf diese Fragen – zumindest kursorisch, die Anträge werden wir später beraten – einige Auffassungen des Senats mitteilen. Sie haben Recht, in frühe Bildung investieren, d. h. Kitas und Grundschulen stärken, das ist mit Sicherheit eine Botschaft aus PISA, die man umsetzen muss. Das tun wir auch.

[Frau Jantzen (Grüne): Ja, wo denn?]

Nun werden Sie sagen und haben gesagt: Wie können Sie dann die Horte – nur um die geht es – in Berlin, und zwar konkret gesprochen: in Westberlin, die Hortzahl – – Das sind Menschen – für die Nichtbildungspolitiker, Herr Czaja, Sie sind dem Hort kaum entwachsen, deswegen können Sie es nicht mehr wissen –,

[Zuruf des Abg. Gram (CDU)]

das sind Kinder ab 6 aufwärts. Da ist es so, dass wir uns entschieden haben, dass – –

[Zuruf des Abg. Czaja (CDU)]

Nein, habe ich noch nicht, aber die Söhne sind in dem Alter!

[Gram (CDU): Je länger Böger desto länger PISA!]

Wissen Sie, das ist gut, das habe ich doch gerade erwartet, „je länger Böger“. Die Ergebnisse von PISA in Berlin, die können Sie bei Klemann abholen, um das einmal klar zu sagen, und nicht bei Böger. Die Nummer, mein Lieber, die kannte ich schon!

[Beifall bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Da können Sie sich auch wieder entschuldigen und sagen: Entschuldigung, da waren wir nicht so – – Wer so anfängt, der wird böse enden.

[Gelächter bei der CDU – Zurufe der Abgn. Gram (CDU) und Czaja (CDU)]

Nun zur Frage der Gruppengrößen: Das, was wir, Herr Mutlu, dort gemacht haben, in den Gruppengrößen, ist: Wir haben eine Angleichung der Gruppengrößen im offenen Ganztagsbetrieb, den es leider nur im ehemaligen Ostteil der Stadt gibt, für die Kitahorte im Westteil der Stadt vorgenommen. Sie können andersherum sagen: Was den Kindern im Osten recht war, musste nun auch den Kindern im Westen zugebilligt werden.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Nicht mehr und nicht weniger haben wir dort gemacht. Ich kann darin keinen massiven Eingriff und eine Katastrophe sehen.

Wir in Berlin, Herr Mutlu, beklagen uns über massive Einschnitte, über die können sich andere Länder gar nicht beklagen, weil dort gar keine Einschnitte möglich sind, weil die nie vorher so etwas hatten. Das heißt, die Kürzungen bei den Leitungsermäßigungen – ich gebe zu, das ist keine brillante Maßnahme, die kann man in das Reich der Notwendigkeiten einordnen –, die können Sie doch nicht nehmen und sagen: Das bedeutet, dass der gesamte Bereich Kindergarten von vorne bis hinten nicht mehr geht. – Das ist doch Unfug! Das wissen Sie selbst, deswegen sollte man so etwas nicht sagen.

[Beifall bei der SPD]

Es gibt manche Notwendigkeit jenseits der Quantitäten oder auch der Tonnenideologie, die es manchmal gibt: Je mehr, desto besser. – Materielle Rahmenbedingungen sind wichtig und notwendig. Nach PISA müssen wir uns über eines klar werden: Wenn es nicht gelingt, in den Bildungseinrichtungen, bei denen, die dort professionell arbeiten, eine intensive Qualitätsdebatte

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auszulösen und auch eine neue Kultur der gemeinsamen Anstrengung auszulösen, dann werden wir Verbesserungen in unserem Bildungssystem nicht erreichen können. Auch das gehört dazu!

[Beifall bei der SPD – Beifall des Abg. Brauer (PDS)]