Protokoll der Sitzung vom 14.04.2005

Müller

Diese Ziele können aber nicht gegen die Beteiligten – die Schulen, die Lehrerinnen und Lehrer, die Eltern und

Religionsgemeinschaften – durchgesetzt werden. Lieber Herr Müller, Sie beklagen die Schärfe der heutigen Debatte. Das wundert mich. Sie können sich beispielsweise im Hinblick auf die Schulen in freier Trägerschaft nicht über die Schärfe der Debatte beklagen, wenn Sie diese Schulen gleichzeitig als Fluchtburgen bezeichnen. Der Ton macht die Musik, Herr Müller. Daher sollten Sie genauso wie die CDU verbal abrüsten und versuchen, auf alle Beteiligten zuzugehen.

Die Bildungspolitik des rot-roten Senats der vergangenen Jahre spricht, wenn man sich die Beschlüsse vor Augen führt, eine andere Sprache: Erhöhung der Kitagebühren, Kürzungen beim Kitapersonal, Erhöhung der Lehrerarbeitszeit, Abschaffung der Lernmittelfreiheit, Reduzierung der Referendariatsplätze, Unterrichtsausfall von sage und schreibe 11,9 %, Kürzungen bei Schulen in freier Trägerschaft. – Das ist das Gegenteil dessen, was Rot-Rot im Jahr 2001 versprochen hat. „Bildung hat Priorität“ war damals die Wahlkampfaussage. Davon ist längst nichts mehr übrig. Papier ist bekanntlich geduldig. Ich bin gespannt, wie Sie sich in den kommenden Haushaltsberatungen verhalten. Ob Sie es tatsächlich ernst meinen, werden wir dann sehen.

Erinnert sei auch daran – ich habe aufmerksam zugehört, Herr Müller –, dass Sie als einzige Partei seit 15 Jahren regieren. Wo waren Sie bisher? Was haben Sie bisher an revolutionären bildungspolitischen Dingen in Berlin bewegt? – Wenn man sich vor Augen führt, was in den vergangenen Jahren passiert ist, muss ich leider sagen, dass viel versprochen und nichts eingehalten wurde.

ihre Religion und ihre Werte eins zu eins darstellen können. Das ist uns klar. Ich hoffe, dass die Kirchen dieses Dialogangebot annehmen und erkennen, welche Chance darin liegt, künftig alle Schülerinnen und Schüler ansprechen zu können, und nicht mehr nur die, die sich zum Religionsunterricht anmelden.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Es geht uns nicht um einen Kirchenkampf. Wir wollen den Religionsunterricht nicht abschaffen. Es geht uns nicht um die Relativierung der eigenen Religion und auch nicht darum, den Kirchen ihre wichtige Funktion in der Wertevermittlung unserer Gesellschaft abzusprechen. Es geht um eine bildungspolitische Entscheidung.

Wir haben drei gemeinsame Ziele: Wir wollen mehr Qualität an der Berliner Schule. Wir wollen eine bessere Integration durch Bildung. Wir wollen Bildungschancen für alle. – Wir werden auf unserem hervorragenden Schulgesetz aufbauen und die Umsetzung weiterhin gut organisieren. Aber wir müssen auch Realitäten in der Stadt zur Kenntnis nehmen, Herr Zimmer, und daraus einen Handlungsbedarf ableiten. Wir dürfen uns nicht wegducken, wenn es schwierig wird, und mit einer Klage drohen. Politik wird immer noch hier gemacht und nicht im Gerichtssaal, Herr Zimmer.

[Beifall bei der SPD, der PDS und den Grünen]

Wenn wir bereit sind, diese Konflikte einzugehen und eine sachliche Debatte zu führen – auch mit den Betroffenen und den Kirchen –, dann werden wir für die Berliner Schule hervorragende Ergebnisse erzielen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön, Herr Kollege Müller! – Das Wort für die Fraktion der Grünen hat nun der Kollege Mutlu. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich komme zurück auf den eigentlichen Anlass der heutigen Debatte. Eine der Regierungsparteien hat einen Parteitag zur Bildungspolitik durchgeführt und Beschlüsse gefasst, die einigen hier im Haus und vielen Menschen in der Stadt nicht passen. Was wurde beschlossen? – Ich gebe einen kurzen Auszug wieder: kleinere Klassen in sozial benachteiligten Gebieten, der schrittweise Abbau der Kitagebühren, verstärkte Sprachförderung, Vorrang für sozial schwache Gebiete bei der Einrichtung neuer Ganztagsschulen, Pflichtfach „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde“ ohne Abmeldemöglichkeit und als langfristiges Ziel eine Schule für alle, eine Gemeinschaftsschule. – Bis hier hin keine Einwände. Die Richtung stimmt.

[Beifall bei den Grünen und der SPD]

Wir haben auf unserem Bildungsparteitag im vergangenen November nahezu identische Beschlüsse gefasst.

[Beifall bei den Grünen]

Der SPD-Parteitag war gestern auch Thema im Bundestag. Es wurde zwar schon gesagt, aber da es interessant ist, wiederhole ich es: Einerseits verweigern CDU und CSU dem Bund Kompetenzen in puncto Bildung – ich sage nur: nationale Bildungsstandards –, andererseits wird aber der Bildungsparteitag einer Landespartei, nämlich der Berliner SPD, Gegenstand der Aktuellen Stunde im Bundestag, weil die CDU/CSU – hier wird von den Dimensionen geredet – den Untergang des christlichen Abendlandes befürchtet

[Frau Schultze-Berndt (CDU): Auch der Bundeskanzler!]

und sich deshalb auch massiv in die Länderkompetenzen einmischen will.

Dass die SPD im Vorfeld, aber auch nach dem Parteitag viele handwerkliche Fehler gemacht hat, steht außer Frage. Aber worüber diskutieren wir hier? – Diskutieren wir darüber, welche Schule wir für die Zukunft haben wollen? Diskutieren wir darüber, welcher Schule diese Stadt für die Bewältigung der zukünftigen Herausforderungen und Probleme bedarf? – Nein, das Gegenteil ist der Fall. Plötzlich wird von beiden Seiten das ideologische Rüstzeug der 70er Jahre herausgeholt, und beide großen Volksparteien bereiten sich auf die Grabenkämpfe aus den 70er Jahren vor. Das Schreckgespenst der Ein

Wir leben in einer multireligiösen und multikulturellen Stadt. Das friedliche Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft ergibt sich nicht von allein. Es bedarf der aktiven Erziehung zu gegenseitigem Respekt und zur Anerkennung von Unterschiedlichkeit. Nicht zuletzt angesichts der Vielfalt der Berliner Bevölkerung gibt es in Berlin auch einen wachsenden Bedarf an Informationen über Weltdeutungssysteme, Weltanschauungen und Religionen. Deshalb befürworten wir die Einrichtung eines eigenständigen, bekenntnisfreien Faches, in dem sich Schülerinnen und Schüler mit Werte- und Sinnfragen auseinander setzen können und ein breites Grundwissen über Religionen und Weltanschauungen vermittelt bekommen. Ein solches Fach dient dem gegenseitigen Verständnis von Schülern und Schülerinnen mit unterschiedlichem kulturellen und religiösen Hintergrund, und es kann helfen, eigene und fremde Weltdeutungen bewusst wahrzunehmen und sich mit den Beweggründen menschlichen Handelns auseinander zu setzen. Voraussetzung für den pädagogischen Erfolg ist es, dass die Schülerinnen und Schüler miteinander und voneinander lernen und nicht getrennt nach Konfessionen unterrichtet werden, Herr Zimmer!

heitsschule macht die Runde, eine Gleichmacherei à la DDR wird befürchtet, das christliche Abendland droht zu zerfallen, und sogar der verstorbene Papst wird bemüht.

[Heiterkeit bei der PDS]

Herr Zimmer, lassen Sie die Kirche im Dorf!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS – Hoffmann (CDU): Wir wollen die Kirche auch in der Stadt haben!]

Ideologische Grabenkämpfe sind das Letzte, was diese Stadt jetzt braucht. Wir sind alle gefordert. Zur Bewältigung der Probleme dieser Stadt insbesondere im Bereich der Bildung müssen wir, ob wir wollen oder nicht, mit allen gesellschaftlichen Gruppen – und die Kirchen zähle ich ausdrücklich dazu – zusammenarbeiten. Vergessen Sie in diesem Zusammenhang nicht, dass wir in einer Stadt leben, in der Menschen aus 190 verschiedenen Ländern zu Hause sind und wo sich rund 130 verschiedene Religionsgemeinschaften zu Hause fühlen! Berlin ist eine Einwanderungsstadt und steht für kulturelle und religiöse Vielfalt. Das muss sich auch in den Institutionen widerspiegeln, und zwar insbesondere in den Bildungseinrichtungen. Das ist eine Herausforderung und Chance zugleich.

Der Wertevermittlung und der Wertebildung kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. Bei der aktuellen Debatte um Integration stellt sich auf jeden Fall die Frage nach der Rolle der Schulen. Bildungspolitik ist Integrationspolitik. Wir wollen deshalb eine Schule, die den Realitäten und Herausforderungen in unserer Stadt gerecht wird. Wir wollen keine Einheitsschule, und wir wollen auch nicht die flächendeckende Gesamtschule. Uns geht es auch nicht um die plumpe Änderung der Schulstruktur als Selbstzweck. Wir wollen eine neue Schule, in der Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichtet werden.

[Dr. Lindner (FDP): Also eine Einheitsschule!]

Wir wollen eine neue, eine moderne, integrative Schule, Herr Lindner, in der Heterogenität und Individualität im Mittelpunkt stehen und die individuelle Förderung kein Fremdwort darstellt.

[Beifall bei den Grünen – Beifall der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD) – Dr. Lindner (FDP): Ist doch egal, was Sie als Etikett draufkleben!]

Wir wollen eine Schule, in der jeder Schüler und jede Schülerin die bestmögliche Förderung bekommt.

[Dr. Lindner (FDP): Sie können auf eine Essigflasche „Champagner“ draufschreiben, aber es bleibt doch Essig!]

Hören sie doch einmal zu! Sie kommen ja gleich dran.

Wir wollen Qualität, und das bedingt eine Lern- und Unterrichtskultur, die den Anforderungen unserer Zeit und unserer Gesellschaft gerecht wird und die nicht auf Selektion und Auslese ausgerichtet ist. Das Ziel muss eine

Schule sein, die in weit größerem Ausmaß als bisher von allen Beteiligten als ihr gemeinsames Werk erfahren wird, dessen Veränderung das Ergebnis ihrer gemeinsamen Anstrengung ist.

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Auch hier brauchen wir die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften als Partner. Den Kirchen muss angeboten werden, sich konstruktiv an der Debatte um die Einführung eines neuen Fachs zu beteiligen und sich in Teilen auch bei der Ausgestaltung des neuen Fach einzubringen. Herr Müller! Hierbei darf es nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen bleiben. Der freiwillige Religionsunterricht muss wie bisher beibehalten werden. Ein Bekenntnisunterricht alternativ zum Fach LER, wie es die CDU nun fordert, kann dagegen durch die Aufteilung der Schüler nach Glaubenszugehörigkeit keine integrative Wirkung entfalten, sondern würde die Abgrenzung verstärken und die Segregation fördern und manifestieren.

[Frau Schultze-Berndt (CDU): Das stimmt überhaupt nicht! – Dr. Lindner (FDP) und Frau Senftleben (FDP): Unsinn!]

Sie, meine Damen und Herren von der CDU, sind immer so sehr gegen die so genannten Parallelgesellschaften, aber hier erheben Sie sie zum Prinzip. Sie fördern damit Parallelgesellschaften.

[Frau Schultze-Berndt (CDU): So ein Unsinn! – Weitere Zurufe von der CDU]

Das können Sie nicht ernsthaft wollen, und das werden wir auch nicht akzeptieren.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Sicherlich ist es mit der Einführung eines Faches „Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde“ nicht getan. Aber

Das bedeutet aber auch, dass die restlichen Schülerinnen und Schüler in keinem speziellen Unterrichtsfach über die Grundlagen pluralistischer Gesellschaften und das Miteinander von Kulturen und Religionen miteinander reden. Darüber, dass das ein Problem ist – Herr Zimmer hat das vorhin gesagt –, haben wir hier immer wieder diskutiert – bei jeder Debatte über Zuwanderung, über Integration oder auch über das schreckliche Blutbad in Erfurt. Immer wieder kam der Vorschlag, dass wir einen Werteunterricht für alle Schülerinnen und Schüler brauchen. Es herrschte also zunächst einmal Einigkeit darüber, dass es in dieser Frage eine Veränderung zum Status quo in Berlin geben muss.

wie notwendig Wertevermittlung ist, und zwar gemeinsam und nicht nach Konfessionen getrennt, haben die Äußerungen der Schüler und Schülerinnen der ThomasMorus-Schule in Neukölln jüngst gezeigt, die nicht nur Verständnis für den „Ehrenmord“ gezeigt, sondern diesen abscheulichen Mord an Hatun Sürücü sogar gutgeheißen haben.

Meine Damen und Herren! Ich appelliere nochmals an Ihre Vernunft. Legen Sie Ihr ideologisches Rüstzeug ab! Lassen Sie uns gemeinsam für die besten Ideen kämpfen! Setzen wir uns gemeinsam für eine bessere Zukunft unserer Schulen ein! Das sind wir den Kindern und Jugendlichen dieser Stadt schuldig. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der PDS]

Das Wort hat nun Herr Kollege Liebich. – Bitte schön!