Protokoll der Sitzung vom 18.08.2005

Lehmann

[Ritzmann (FDP): Mit Norbert Blüm? – Hoffmann (CDU): Da gab es nicht so viel Armut wie heute! – Weitere Zurufe von der FDP]

mit der Folge, dass Gewinnentwicklung und Arbeitsmarkt auseinander drifteten, der zunehmenden Massenarbeitslosigkeit mit Sozialabbau und Leistungskürzungen begegnet wurde und die sozialen Risiken für die große Mehrheit der Bevölkerung zunahmen.

[Niedergesäß (CDU): Das habt ihr geleistet!]

Wenn Sie sich heute fragen, warum das Armutsrisiko in Deutschland gestiegen ist bzw. warum Menschen in Armut leben, dann sollten Sie außer in den heutigen auch einmal in den ersten Armutsberichten der Kirchen und Sozialverbände nachlesen. Die wurden nämlich vor 1998 geschrieben. Die dort enthaltene Kritik an der Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, an Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau geht einzig und allein an Ihre Adresse.

[Ritzmann (FDP): Zur SED und zur DDR sagen Sie sicher noch etwas!]

Im Unterschied zu Rot-Grün hat die Kohl-Regierung – insbesondere ihre Herz-Jesu-Marxisten – das Armutsproblem schlicht wegdefiniert. Armut gab es dabei nicht, und das ist eine unerträgliche Ignoranz.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS, der SPD und den Grünen – Ritzmann (FDP): Im Osten gab es keine Armut! – Wansner (CDU): Vor sieben Jahren! – Weitere Zurufe]

Ich bin wahrlich weit davon entfernt, zu beschönigen, dass inzwischen eine weitere Verschärfung, ja Zuspitzung der Situation eingetreten ist. Aber es ist schon festzustellen, dass für die rot-grüne Bundesregierung dieses Problem nicht mehr tabu ist. Die Ergebnisse des jüngsten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung sind ernüchternd und zeigen, dass sich die Lage insbesondere von Familien weiter verschlechtert hat und zunehmend mehr Kinder unter Armutsbedingungen aufwachsen – mit all den eingangs geschilderten Folgen. Ich begrüße deshalb solche sozial- und familienpolitischen Maßnahmen wie die Erhöhung des Kindergeldes, das Erziehungsgeld, den Unterhaltsvorschuss und das BAföG, und ich räume auch ein, dass selbstverständlich die Absenkung des Eingangssteuersatzes den Familien durchaus zugute gekommen ist. Allerdings – auch das wissen Sie – ist die Wirksamkeit dieser Maßnahmen äußerst begrenzt. Ich verhehle nicht, dass die Maßnahmen weit hinter dem Notwendigen zurückbleiben und nicht wettmachen, was durch die Gesundheitsreform und durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II an neuen Risiken geschaffen wurde. Genau das macht auch um Berlin keinen Bogen und kommt zu all den Problemen, die es in Berlin ohnehin gibt, noch hinzu.

Wenn Sie mich fragen, ob ich glaube, dass sich das Armutsrisiko in den nächsten Jahren weiter erhöhen wird,

dann sage ich Ihnen: Das ist keine Frage des Glaubens – bei Ihnen vielleicht; Sie formulieren ja häufig Glaubenssätze –, sondern es hat sich gezeigt, dass niedrige Sozialleistungen die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Langzeitarbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut weiter verfestigen. Hier muss man gegensteuern,

[Dr. Lindner (FDP): Nach Ihrer Definition kann die Armut nicht abgeschafft werden!]

z. B. mit der Bürgerversicherung und mit einer Grundsicherung, die Armut verhindert.

Im Jahr 2004 waren in Berlin mehr als eine halbe Million Personen von Armut betroffen. Damit galt jeder siebte Berliner als arm.

[Abg. Dr. Lindner (FDP) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Wenn man genau auf Ost und West schaut, zeigt sich sehr deutlich, dass es hier erhebliche Unterschiede gibt. Im Ostteil der Stadt lag die Armutsquote deutlich niedriger – bei 12,9 % – als im Westteil, wo sie bei 17,3 % lag. Dennoch ist es so, dass über 15 % der Berliner Bevölkerung an der Armutsgrenze leben.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lindner?

Nein! Das hatte ich bereits abgelehnt. Ich glaube, der Erkenntniswert für das Armutsthema wird sich dadurch nicht erhöhen.

[Dr. Lindner (FDP): Deswegen frage ich doch!]

Das können wir gerne einmal privat erörtern.

[Wansner (CDU): Der arme Herr Lindner!]

Jetzt würde ich gerne das vortragen, was ich für berichtenswert erachte.

Kinder und Jugendliche sind in hohem Maße von Armut betroffen. Ich werde hier auf die einzelnen Differenzierungen nicht eingehen, weil ich sie Ihnen schriftlich überlasse. Fast 28 % aller minderjährigen Kinder in Berlin gelten als arm. Sie leben zumeist in Haushalten mit Transferleistungen, die eben nicht armutsfest sind, und das gilt vor allen Dingen für Alleinerziehende und für Familien mit Migrationshintergrund. Das Bedrückende ist dabei, dass sich mit der Kinderzahl in einkommensschwachen Familien die Lebenslage verschlechtert und die Armut verfestigt. Natürlich steigt damit die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche aus diesem Kreislauf nicht herauskommen. Hier muss eine entschlossene Strategie gegen Armut ansetzen, d. h. bezahlbare Kitas, Ganztagsschulen, frühzeitige Sprachbildung und Gesundheitsförderung. All das gibt es in Berlin gerade für diejenigen, die am meisten auf diese Hilfe angewiesen sind. Darauf sind wir durchaus stolz.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Langzeitarbeitslosigkeit ist selbstverständlich das größte Armutsrisiko. In Berlin sind gegenwärtig mehr als 19 % aller Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist enorm hoch. Arbeitslos sind und bleiben vor allem Menschen mit fehlender und geringer beruflicher Qualifikation, und dies gilt insbesondere für junge Migrantinnen und Migranten. Wenn wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen, wird die Frage der Integration sich weiter erschweren. Hier kumulieren Armutsrisiken, und das führt dazu, dass gerade in diesem Bereich 38 % der Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sind.

Mit dem Landesprogramm „Hilfe zur Arbeit“ konnte der Ausgrenzung und Armut gerade von sozialhilfeabhängigen Berliner Bürgerinnen und Bürgern in einem nicht zu unterschätzenden Umfang begegnet werden. So wurden vom Jahr 2002 bis 2004 insgesamt 42 000 Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger im Rahmen dieses Programms befristet sozialversicherungspflichtig beschäftigt, und das schafft existenzsicherndes Einkommen. Das ist wichtig und gut so.

In engem Zusammenhang mit einer Linderung und Vorbeugung, aber auch mit einem teilweisen Abbau von Armut ist die Schuldnerberatung zu sehen. Das Land Berlin verfügt über ein Netz anerkannter Schuldner- und Insolvenzberatung. Im Rahmen der erwarteten Auswirkungen durch die Hartz-Reformen wurde der Plafond an Landesmitteln zur Finanzierung dieser Beratungsstellen ab dem Jahr 2005 um eine Million € auf insgesamt 5,1 Millionen € aufgestockt. Das ist eine gute Maßnahme zur Vorbeugung, aber auch zur Hilfe im Fall der Verschuldung.

Die Diskussionen um Armut und Reichtum und die sozialen Folgen in der Stadt werden nicht nur im Sozialressort geführt, Herr Lehmann. Armut hat auch eine sozialräumliche Auswirkung. Wir haben gemeinsam über den Sozialstrukturatlas diskutiert. Deshalb kann hier nur eine ressortübergreifende Strategie entwickelt werden. Der Senat stellt sich dieser Aufgabe und entwickelt derzeit auf der Ebene der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre eine ressortübergreifende „Rahmenstrategie Soziale Stadt“.

In meiner Verwaltung werden bereits Maßnahmen umgesetzt. Sie haben das Ziel, der sozialen Spaltung der Stadt entgegenzuwirken, beispielsweise bei der Finanzmittelverteilung für die Stadtteilzentren, die Herr Lindner am liebsten ganz killen würde, wie er heute ausgeführt hat. Die geplante Reform des Gesundheitsdienstes ist ein Ansatz, gerade denjenigen Hilfe zuteil werden zu lassen, die sie am nötigsten brauchen. Die Ansätze zur Gesundheitsförderung, aber auch die Weiterentwicklung des Quartiersmanagements oder die quartiersbezogenen Maßnahmen im Kita- und Schulbereich leisten dort Unterstützung, wo sie besonders gefragt ist. Auch die AV Wohnen schafft als kleiner Baustein mehr Sicherheit und verhindert, dass sich die sozialen Probleme in bestimmten Bezirken weiter konzentrieren.

Natürlich weiß auch ich und wissen wir alle von der rot-roten Regierung, dass die beste Maßnahme gegen Armut die Schaffung von Arbeitsplätzen ist. Es müssen aber Arbeitsplätze mit einem Einkommen sein, das zum Leben reicht. Darüber, welche arbeits- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen geeignet sind, lässt sich trefflich streiten. Aber eins ist für mich völlig klar: Die neoliberale Modernisierung hat dabei komplett versagt.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Alles, was an Wirkungen versprochen wurde, beispielsweise bezüglich Steuersenkungen, Lohnverzicht und Sozialabbau, ist nicht eingetreten. Arbeitsplätze sind dadurch nicht entstanden. Das muss auch die FDP zur Kenntnis nehmen. Es geht demnach darum, sich umzuorientieren und dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze in diesem Land geschaffen werden, und zwar nicht nur auf dem ersten Arbeitsmarkt, sondern auch da, wo sie dringend benötigt werden, nämlich im gesamten Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge.

[Dr. Lindner (FDP): So ein Quatsch!]

Wir setzen uns jedenfalls dafür ein.

[Dr. Lindner (FDP): Das ist unerträglich!]

Sie können gerne hinausgehen, Herr Dr. Lindner. Alle Türen stehen weit offen.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Eine letzte Bemerkung dazu: Die FDP fordert in ihren Fragen, man solle endlich die Diskussion um den Mindestlohn beenden. Ich halte das für falsch, weil alle wissenschaftlichen Studien zeigen, dass etwa 2,4 Millionen Menschen in Deutschland ein Einkommen bei Vollzeitarbeit erzielen, das noch unter der Armutsgrenze liegt. Das ist nicht nur beschämend für die Menschen, die in solchen Jobs arbeiten müssen, sondern nebenbei auch wirtschaftspolitisch kontraproduktiv.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Wenn Sie weiter an genau diesen Forderungen festhalten, nämlich an der Erweiterung des Niedriglohnsektors, an Lohn- und Steuersenkungen usw., dann sind das die alten Klamotten von vorgestern, die keine Arbeitsplätze bringen und nichts zur Bekämpfung der Armut in diesem Land beitragen.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Diese Politik vertieft die Kluft in unserer Gesellschaft. Sie schafft Reichtum für wenige und Armut für viele. Das ist keine Strategie zur Armutsbekämpfung, sondern ein Armutszeugnis für Ihr Politikkonzept. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der Linkspartei.PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Danke schön, Frau Senatorin! – Für die Fraktion der FDP hat nun der Kollege Lehmann das Wort. – Bitte schön!

Frau Sen Dr. Knake-Werner

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Senatorin! Ich könnte jetzt viel zu Ihren Ausführungen sagen, aber dann käme ich nicht mehr zu meinem Text. Deshalb nur eine Anmerkung: Sie sagten zu Beginn, nur acht Punkte hätten Berlinbezug und alles andere nicht. Darauf entgegne ich: Das meiste, was in dieser Thematik zu behandeln ist, ist nun einmal Bundesrecht. Demnach sind nur acht Fragen berlinspezifisch. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Deutschland ist immer noch ein reiches Land. Wer den Lebensstandard mit dem anderer Regionen der Welt vergleicht, der kann kaum glauben, dass Armut in Zukunft leider eine große Rolle spielen wird. Der Senat definiert in seinem Bericht über Armut und soziale Ungleichheit in Berlin das offizielle Armutsmaß. Danach ist derjenige arm, der über weniger als 50 % des Äquivalenzeinkommens, ca. 570 €, verfügt. Das ist natürlich relativ. Einerseits können wir in Deutschland und Berlin auf einen weit ausgedehnten Sozialstaat zurückgreifen, von dem andere Länder nur träumen können. Andererseits ist das Äquivalenzeinkommen natürlich mit Vorsicht zu genießen, weil noch andere Faktoren wie beispielsweise Bedarfsgemeinschaften bzw. Kinder eine Rolle spielen. Dadurch wird das Äquivalenzeinkommen nochmals relativiert.

Meine Fraktion hatte diese Große Anfrage im März 2005 gestellt – das will ich hier auch noch einmal betonen, Frau Knake-Werner, wenn Sie gerade so auf den Wahlkampf abstellen –, weil wir Armut in Berlin und in Deutschland als große Gefahr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sehen.

[Beifall bei der FDP]