Ich will nicht übertreiben, aber gelingt es uns nicht, dieses Phänomen, welches verstärkt in den letzten Jahren aufgetreten ist, erfolgreich zu bekämpfen, so werden sich mehr und mehr Menschen von unserem demokratischen System abwenden. Es darf daher keine neue Perspektivlosigkeit in unserem Land geben, keine neue Apathie gegenüber unseren gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Ich weiß schon jetzt, dass einige von Ihren Debattenbeiträgen die eine oder andere Frage kritisch monieren werden, doch lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: RotRot und Rot-Grün hatten nun viele Jahre Zeit, dieses Problem anzugehen. Sie haben es nicht geschafft.
Das Gegenteil war der Fall: Das Land steht so schlecht da wie noch nie. Meine Hauptthese ist dementsprechend. Wer Armut bekämpfen will, muss dieses Thema interdisziplinär angehen. Diese Intention kommt gerade in unserer Großen Anfrage gut zum Tragen. Das hat auch der Senat teilweise erkannt. Das muss man auch einmal zugestehen. Er schreibt in seinem Armutsbericht:
44,3 % der in diesen Haushalten lebenden Personen von Armut betroffen. 2. Hat die Bezugsperson eines Haushalts keinen beruflichen Abschluss, dann bedeutet das für fast ein Drittel der Haushaltsmitglieder ein Leben in Armut.
3. Wenn jemand von den Bezugspersonen eines Haushalts Arbeitslosengeld I oder II bezogen hat, dann betrifft Armut bereits mehr als ein Drittel der in den Haushalten lebenden Personen. 4. Erhält die Bezugsperson eines Haushalts überwiegend Sozialhilfe, sind in über 60 % der diesbezüglichen Haushalte die darin lebenden Personen von Armut betroffen. 5. Beim Thema Migration oder nichtdeutsche Staatsangehörigkeit zeigt, dass der Armutsanteil der in diesen Haushalten lebenden Personen 9,4 % beträgt, wenn Haushaltsvorstände Deutsche sind. Sind es Ausländer, liegt dieser Anteil bei 39,2 %.
Jeder vierte Berliner hat im Monat schon weniger als 700 € zur Verfügung, also 830 000 Berlinerinnen und Berliner. Schaut man sich die Problembezirke an, so wird die Einkommensstruktur noch eklatant verschlechtert. Jeweils 140 000 Bürger in Mitte und Neukölln müssen mit unter 700 € im Monat auskommen. Mit durchschnittlich 750 € Nettoeinkommen ist Neukölln das Armenhaus Berlins.
Die Sozialhilfeausgaben sind im Jahr 2004 auf rund 2 Milliarden € gestiegen. Das ist ein Anstieg von 2,1 % im Vergleich zum Vorjahr. Ende des Jahres 2004 haben in Berlin 143 500 Haushalte Sozialhilfe in Form von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten. Das ist eine Zunahme gegenüber dem Vorjahr um 3 600 oder 2,6 %. Besonders erschreckend ist in diesem Kontext die Armut von Kindern und Jugendlichen. Wir können hier einen besonders hohen Anstieg in den letzten Jahren beobachten. Damit ist klar, was mit interdisziplinär gemeint ist: Armut hängt von verschiedenen Faktoren ab. Eine einseitige Armutsbekämpfung kann es nicht geben. Gleichzeitig heißt es aber auch, dass sich Armut auch nicht bekämpfen lässt, indem man stupide die sozialen Leistungen erhöht. Im Wahlkampf ist das besonders verführerisch.
Wir werden die Armut beispielsweise nicht bekämpfen, wenn wir das Arbeitslosengeld II in Ost und West angleichen. Wir werden sie auch nicht bekämpfen können, wenn wir das Kindergeld erhöhen oder staatliche Programme zur Kinderbetreuung auflegen. Solche Programme können zwar oberflächlich helfen, aber die Symptome nur lindern. Die Ursachen werden dadurch aber nicht bekämpft. Wer die Ursachen von Armut bekämpfen will, muss strukturelle Veränderungen einführen.
Genau hier setzt meine Kritik am Senat und an der Bundesregierung an. Ausgerechnet Rot-Rot-Grün trägt die Hauptverantwortung für die steigende Armut in unserem Land. Die Reformen seit 1989 bzw. 2002 konnten nicht greifen, weil sie Stückwerk bleiben. Der große Wurf blieb aus, ein Systemwechsel fand nicht statt.
Sie haben ja vorhin die Zahlen gehört, die ich genannt habe, Frau Schulze. Die können Sie doch nicht verleugnen! Sie haben doch gesehen, dass die Zahlen niedergeschrieben sind. – An Hartz IV – ich komme noch dem, was ich meine – lässt sich das systematisch analysieren. Wer sich in erster Linie mit sich selbst beschäftigt und lediglich Akten verwaltet und noch mehr Bürokratie einführt, anstatt Menschen Arbeit zu vermitteln, der wird das Armutproblem nicht lösen.
Zu allem Überfluss musste ich jetzt noch in der Presse lesen, dass in einigen Sozialämtern Akten unbearbeitet geblieben sind, so dass hier weiterhin zu Lasten der Betroffenen viel Geld aus dem Fenster geworfen wurde. Sie können die Freibeträge erhöhen, das Arbeitslosengeld II erhöhen oder das Schonvermögen erhöhen. Sie bekämpfen damit nur die Symptome, nicht mehr und nicht weniger.
In dieser Beziehung bin ich kein Postmaterialist. Ich stehe auf dem eindeutigen Standpunkt, dass Armut nur durch eine Gesellschaft bekämpft werden kann, die wirtschaftlich auf gesunden Füßen steht. Das bedeutet für mich in aller Klarheit, dass Arbeit in den nächsten Jahren Vorfahrt hat!
Es ist die größte Herausforderung für uns alle, Menschen mit niedriger Bildung, ohne Schulabschluss oder geringer Ausbildung wieder in Arbeit zu bringen. Das wird uns nur dann gelingen, wenn wir anstatt über Mindestlohnträume von linken Gruppierungen über einen Systemwechsel in der Arbeits- und Wirtschaftspolitik nachdenken. Wenn wir es schaffen, dass sich über einen Niedriglohnsektor Menschen wieder ein eigenständiges Leben aufbauen können, dann lässt sich auch teilweise Armut bekämpfen. So ist auch die Große Anfrage angelegt. Nur ein Arbeitsplatz kann Armut bekämpfen.
Armutsbekämpfung heißt deshalb für mich: 1. Die Verwaltungsebenen und landeseigenen Betriebe sind zu verschlanken und zu entbürokratisieren. Das dadurch eingesparte Geld kann zu einem Teil für Projekte zur Armutsbekämpfung ausgegeben werden, wenn sie Erfolg versprechend sind.
2. In der Arbeitsmarktpolitik darf es keine Tabus mehr geben. Auch der Wirtschaftssenator hält sei neuestem viel vom Niedriglohnsektor. Das können Sie ihm dann noch einmal sagen. Ich sehe ihn gerade nicht. Ein schlechter bezahlter Job ist besser als gar kein Job. Die Fesseln des Arbeitsmarktrechtes müssen endlich beseitigt werden.
3. Armutsbekämpfung fängt in den Kitas an und hört mit einem vernünftigen Berufsabschluss auf. Bildung muss daher endlich zum Schwerpunkt des Senats werden. Dazu bedarf es endlich einer Eigenständigkeit von Schu
len und Universitäten, um passgenaue und international wettbewerbsfähige Abschlüsse zu gewährleisten.
4. Wir brauchen eine Änderung der Migrationspolitik in Berlin. Dabei muss besonders der Schwerpunkt auf die Erlernung der deutschen Sprache gelegt werden. Sie ist der Schlüssel zu einem eigenständigen Leben in unserer Gesellschaft. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diesbezüglich das Fordern mehr in den Vordergrund gestellt werden würde.
Ich komme zum letzten Satz: Der Senat hatte sich geweigert, unsere Große Anfrage schriftlich zu beantworten. Das war früher einmal Usus in diesem Haus.
[Gaebler (SPD): Stimmt überhaupt nicht! Doering (Linkspartei.PDS): Der Senat kann, muss aber nicht!]
Das zeigt nur, wie erfolg- und planlos er mit diesem Thema während der Legislaturperiode umgegangen ist. Wenn unsere Große Anfrage nur ein wenig dem Senat auf die Sprünge helfen könnte, wäre Berlin ein ganzes Stück geholfen. Vielen Dank!
Danke schön, Herr Kollege Lehmann! – Jetzt hat für die SPD die Kollegin Radziwill das Wort. – Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herrn! – Es ist schon erstaunlich, dass sich die selbst ernannte Partei der Besserverdienenden, von jeher als Lobby der Gutverdiener und Unternehmer auftretend, überhaupt mit diesem Thema befasst. Ich stelle aber fest, dass die FDP keinerlei sinnvolle und umsetzbare Vorschläge unterbreitet hat.
Sie haben keine Konzepte zur Bekämpfung von Armut, nutzen aber dieses sensible Thema für den Wahlkampf aus.
Dass sie als Partei der Besserverdienenden, als so genannte Wirtschaftspartei, so etwas wie ein soziales Gewissen entdeckt hat? Oder ist es vielmehr das Bemühen eines Mitglieds dieser Fraktion, des Herrn Lehmann – dem ich noch einmal zum Geburtstag gratuliere –, der FDPFraktion ein soziales Gewissen zu geben? Weder wir in diesem Hause noch die Bürger und Bürgerinnen draußen nehmen es Ihnen ab.
Herr Lehmann, wenn wir die Sparvorschläge der FDP umgesetzt hätten, dann erst wäre es sozialer Kahlschlag geworden.
Wir alle wissen, dass bei der Armutsbekämpfung das Hauptproblem die hohe Arbeitslosigkeit ist. Lassen Sie uns in Gedanken einen Ausflug in die jüngere Berliner Geschichte machen – die Entwicklung seit dem Mauerfall: Das viel zu schnelle Herunterfahren der BerlinZulage und das damit verbundene radikale Absenken der Zuschüsse für Berlins Industrie haben den Abbau von vielen wichtigen Vollzeitarbeitsplätzen bewirkt. Viele Beschäftigungsverhältnisse gingen für immer verloren. Dieser Trend wurde noch verstärkt durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Berlin zum Beispiel in die neuen Bundesländer, weil ihnen dort die neuen Zulagen winkten. Wir alle wissen, dass sich neue Arbeitsplätze nicht über Nacht einrichten lassen, aber sie können sehr schnell vernichtet werden. Das hat Berlin nach der Wende leidvoll erfahren.
Wer waren die Verantwortlichen für diese verfehlte Politik an Berlins Wirtschaft? – Die damalige CDUgeführte Bundesregierung und der Koalitionspartner FDP. Sie waren es, meine Damen und Herren,
Altbundeskanzler Kohl und Co., aber auch Herr Diepgen in Berlin. Diese damalige Politik hat erst die Armut in Berlin bewirkt.
Da wir uns unbestritten im Wahlkampf befinden, schauen wir uns einmal einen Punkt aus den Programmen der CDU und der FDP an. Die CDU will die Mehrwertsteuer erhöhen. Man kann auch sagen, sie will einen „Merkelsteuerzuschlag“ einführen. Das belastet überproportional Menschen mit geringem Einkommen. Sie sollen für die alltäglichen Güter prozentual mehr von ihrem schon geringen Einkommen zahlen als Einkommensstärkere.
Das ist aus meiner Sicht hochgradig unsozial. Und was macht die FDP? – Die Liberalen nehmen sich die Freiheit heraus – nun, als Partei der Freiheit vielleicht möglich – und legen einen schönen Eiertanz auf das politische Parkett – eigentlich gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer sein, aber im Schmusekurs mit der CDU eventuell doch dafür sein können, wollen oder sollen. Nun noch eins von der FDP: Sie setzt sich dafür ein, dass der Spitzensteuersatz gesenkt wird. Wie soll das finanziert werden, frage ich mich? – Kein Wort darüber, dass Sie die kleinen Einkommen im Prinzip damit wieder mehr belasten. Das ist nicht nur unsozial, das ist auch kein Weg zur Armutsbekämpfung.
Das Thema Armut ist der Bundesregierung, dem Berliner Senat und uns Abgeordneten, zumindest Rot-Rot, sehr wichtig.