Ich habe immer gesehen und es für richtig gehalten – auch da sind wir vielleicht Bruder und Schwester im Geiste –, dass Ideologisierung Unfug ist. Es ist einerseits richtig, zu versuchen, viele Kinder in den normalen Unterricht zu integrieren, dafür auch Personalressourcen zur Verfügung zu stellen. Es ist und bleibt andererseits aber auch notwendig, Sonderschulen aufrecht zu erhalten. Das ist eben so, und ich glaube, das ist vernünftig und richtig.
Alle Begabungen fördern – ohne Eltern geht es nicht I – Kitas zu Kinder- und Familienzentren entwickeln
Alle Begabungen fördern – ohne Eltern geht es nicht II – Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kitas und Schulen aktiv fördern
Jeder Fraktion steht eine Redezeit von bis zu 15 Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner frei aufgeteilt werden kann. In der ersten Runde beginnt Herr Mutlu von den Grünen. – Bitte schön, Herr Mutlu, Sie haben das Wort!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenige Tage vor der Veröffentlichung der PISAStudie gelang der dpa ein journalistisches Meisterstück. Einem dpa-Journalisten ist es gelungen, unter welchen Umständen auch immer, vorab an die PISA-Ergebnisse heranzukommen. Die entsprechenden Schlagzeilen haben Sie alle gelesen. Demnach hatte sich die soziale Schere in der Bildung weiter geöffnet. Als dann die PISAErgebnisse offiziell vorgestellt wurden, waren die Vertreter der KMK sowie die PISA-Wissenschaftler unisono damit beschäftigt, die dpa-Meldung zu widerlegen. Ihr Hauptargument: die soziale Schere habe sich nicht weiter geöffnet, sie sei seit dem Jahr 2000, dem Jahr des ersten PISA-Schocks, unverändert.
Stagnation ist kein Erfolg. Es ist nicht hinnehmbar, wenn in unserem Schulsystem Kinder aus Akademikerfamilien eine viermal höhere Chance haben, aufs Gymnasium zu kommen, als Arbeiterkinder und Kinder aus sozialen Verhältnissen. Das ist ein Skandal für das deutsche Bildungswesen.
Berlin belegt in nahezu allen signifikanten Bereichen den vorletzten Platz. In der Berliner Schule werden weder leistungsstarke noch leistungsschwache Schülerinnen und Schüler gefördert. Das Abschneiden unserer Hauptschulen ist katastrophal und führt zu der Frage, warum Haupt- und Realschulen nicht längst zu integrativen Schulen zusammengefasst worden sind. Im Übrigen, das schlechte Berliner Ergebnis hat auch nichts mit dem Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund zu tun. Wenn diese herausgerechnet werden – diese Mühe
Die vergangenen PISA-Studien haben im Grunde nur wissenschaftlich belegt, was spätestens seit den Siebzigern klar ist, dass nämlich in der Bundesrepublik Deutschland, die sich in ihrer Verfassung zum Grundsatz der sozialen Verantwortung bekennt, der familiäre Hintergrund nach wie vor inakzeptabel stark über die realen Bildungschancen eines Kindes entscheidet. Das kann und darf nicht so weitergehen.
Früher war es das katholische Mädchen vom Lande, heute ist es Ayshe aus Neukölln oder Ali aus Kreuzberg, deren Begabungen umfassend zu fördern unser Schulsystem immer noch für unnötig hält oder nicht in der Lage ist. Das trifft für Deutschland im Allgemeinen und für Berlin im Besonderen zu. Dabei geht es nicht bloß um veränderte Durchführungsbestimmungen oder um richtige Ansätze und Weichen in einem neuen Schulgesetz, sondern vor allem um ein grundsätzlich anderes Denken und Handeln im Bildungsbereich. Wir sagen das seit Jahren, und genau darauf baut unsere aktuelle Bildungskampagne auf.
Wir alle stehen in der Pflicht, den Kindern und Jugendlichen das breit gefächerte soziale, mentale und intellektuelle Rüstzeug mitzugeben, das sie brauchen werden, um künftigen Problemen konstruktiv begegnen zu können. Es geht letztlich um zwei zentrale Dinge: erstens die Förderung und Entwicklung aller Begabungen eines Kindes, der kognitiven und gleichermaßen auch der musischen, der künstlerischen, der sozialen und der kommunikativen Fähigkeiten; zweitens die Förderung und Entwicklung aller Kinder, gerade wenn ihr sozialer Hintergrund eine besondere Förderung notwendig macht. Wir haben dabei nicht Gleichmacherei vor Augen, sondern im Gegenteil die volle Entfaltung der individuellen Fähigkeiten eines jeden einzelnen Kindes. Das genau steht für uns im Mittelpunkt.
Wir sehen diese beiden zentralen Ziele mit mindestens vier bildungspolitischen Schwerpunkten verknüpft: der Wichtigkeit der frühkindlichen Erziehung, der Befähigung der Schule für ihren eigentlichen Auftrag, der Einbindung und Ermutigung der Eltern und der Berücksichtigung und Integration unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Hintergründe. Alle diese Bereiche stehen in enger Wechselwirkung miteinander, keiner kann isoliert betrachtet werden. Den Kindertagesstätten muss endlich die Aufmerksamkeit zuteil werden, die sie als Fundament aller späteren Bildung brauchen.
Unabdingbar ist dabei, dass Kitas und Grundschulen Hand in Hand arbeiten. Ebenso soll die Schule Freude am Lernen vermitteln. Das kann sie aber nur, wenn sie ein Ort ist, der Bildung mit den Lebenswirklichkeiten vor Ort verbindet, und wenn sie in ihrer didaktischen Grundausrichtung auf die persönliche und ganzheitliche Förderung des einzelnen Schülers setzt. Schule soll eine Werkstatt
des konstruktiven, vernetzten Lernens, eine Quelle der sozialen Integration und des interkulturellen Respekts und ein Ort sein, an dem Brücken zur Nachbarschaft aufgebaut werden, und zwar zu allen gesellschaftlichen Bereichen. Deshalb muss sich die Schule öffnen und sich zu einem Stadtteilzentrum entwickeln.
Wir wollen in diesem Zusammenhang auch die Eltern als Partner gewinnen, sie stärker als bisher an Entscheidungen beteiligen und ihre Verantwortung zum integralen Bestanteil einer notwendigen Schulreform machen. Nur so kann Identifikation entstehen. Wenn sich Eltern, Schülerinnen und Schüler mit ihrer Schule identifizieren, wird Schule erfolgreicher.
In der Schule müssen Kinder und Jugendliche unterrichtet werden und nicht Fächer. Wir müssen wegkommen von der überholten Osterhasenpädagogik, bei der die Lehrerinnen und Lehrer das Wissen verstecken und die Schülerinnen und Schüler danach suchen sollen.
Die Lern- und Unterrichtskultur muss sich grundlegend ändern. Schule muss durch ihren eigenen pädagogischen und finanziellen Entscheidungsspielraum ein lebendiges Beispiel für Eigenverantwortung werden, anstatt lediglich Vollzugsorgan einer Zentralbehörde zu sein.
Wir werden zudem nicht umhin kommen, unser extrem selektives und ineffektives Schulsystem mit der frühzeitigen Aufspaltung in drei Schultypen durch eine 10-jährige gemeinsame Schulzeit für alle Schülerinnen und Schüler zu ersetzen.