Protokoll der Sitzung vom 24.11.2005

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 77. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, unsere Zuhörer sowie die Medienvertreter ganz herzlich.

Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen und bitte Sie, sich zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

Am 15. November ist unser früherer langjähriger Kollege Joachim Palm im Alter von 70 Jahren verstorben. Joachim Palm gehörte von 1975 bis 1999 – also fast 25 Jahre lang – der CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin an.

Mit Joachim Palm verliert Berlin einen profilierten Wirtschaftspolitiker, der sich über die Fraktionsgrenzen hinweg hohes Ansehen erworben hat. Er war von 1991 bis 1995 Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Wirtschaft und Technologie und trug in dieser Funktion besondere Verantwortung für die Stadt. Denn in jenen Jahren war Berlin – ganz besonders in der Wirtschaftspolitik – mit schwierigen Problemen konfrontiert, die aus dem Zusammenwachsen der beiden Stadthälften resultierten und die die persönliche Situation vieler Menschen fundamental veränderten. Das war eine Zeit, in der unsere Stadt und die Berlinerinnen und Berliner finanziell, wirtschaftlich und natürlich auch mental bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gefordert wurden.

Joachim Palm hat neben seiner parlamentarischen Arbeit, die sich durch große Kompetenz, Sachorientierung und Besonnenheit auszeichnete und durch die ich ihn – auch persönlich – schätzen gelernt habe, immer auch seine berufliche Tätigkeit als Ingenieur und Leitender Angestellter eines großen deutschen Unternehmens beibehalten. Das sicherte ihm einerseits die eigene Unabhängigkeit und andererseits den Kontakt zur Arbeitswelt und ihren Problemen ganz hautnah. Im Umgang mit den Bürgern zeichnete er sich durch zupackende Freundlichkeit aus. Auch in die Politik hat er mit seiner Fähigkeit zum Ausgleich und seiner persönlichen Ausstrahlung viel Menschlichkeit und vor allen Dingen Sachlichkeit eingebracht.

Vor sechs Jahren hat sich Joachim Palm mit seiner Ehefrau nach Baden-Württemberg zurückgezogen, sich aber auch dort wieder politisch in der örtlichen CDU engagiert.

Wir trauern um Joachim Palm und gedenken seiner mit Hochachtung und Dankbarkeit.

Sie haben sich zu Ehren von Joachim Palm erhoben. Ich danke Ihnen.

Wir kommen nun zum Geschäftlichen. Die Fraktion

der FDP hat ihren Antrag über „Errichtung eines Gustav

Noske-Denkmals statt eines weiteren Rosa-LuxemburgDenkmals“ – Drucksache 15/136, in der vierten Sitzung am 31. Januar 2002 an den Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten überwiesen, jetzt zurückgezogen.

[Schade! von der Linkspartei.PDS]

Am Montag sind vier Anträge auf Durchführung einer

Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der Linkspartei.PDS und der SPD zum Thema: „Internationaler Tag gegen Gewalt gegen Frauen – Berlin bekämpft Zwangsverheiratungen!“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Unterlassene Schulanmeldungen, verwahrloste Kinder, spät entdeckte Misshandlungen – stehen Bürokratie und Datenschutz vor einer lebenswerten Kindheit?“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Moratorium für Palastgebäude statt Sofortabriss!“,

4. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Maßlose Steuer- und Abgabenerhöhungen in Berlin und im Bund kosten Arbeitsplätze der Berliner!“.

Im Ältestenrat konnten wir ein Einvernehmen über die Aktualität der jeweiligen Themen der eingereichten Anträge nicht herstellen. Ich rufe daher zur Begründung der Aktualität auf. Bitte denken Sie daran, nur die Aktualität zu begründen! Für die Linkspartei.PDS spricht Frau Baba. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Für die Aktualität unseres Antrags sprechen zwei wichtige Gründe: Weltweit finden am 25. November Aktionen statt, um darauf aufmerksam zu machen, dass Gewalt an Frauen zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen gehört. Auch in Berlin ist eine Vielzahl von Veranstaltungen angekündigt. Da ist auch das Abgeordnetenhaus in der Pflicht.

Körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt gegen Frauen rangiert auf Platz eins – auch in Deutschland. Patriarchale Strukturen, die tief in der Gesellschaft verankert sind, wirken auch bei uns, und sie lassen sich nur langsam und mühevoll aufbrechen. In allen Bereichen des Lebens sind Frauen brutaler und subtiler Männergewalt ausgesetzt. Viele Frauen werden systematisch bedroht, eingeschüchtert und isoliert. Männergewalt beruht auf ihrem Herrschaftsanspruch und der ungleichen Verteilung von Rechten und Pflichten, von Besitz und Einkommen, von Arbeitsteilung und Zeit.

Gewalt ist nie privat, es ist nicht das individuelle Problem von Frauen, sich gegen Gewalt zur Wehr zu setzen.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD]

Um den Kreislauf von Gewalt zu durchbrechen und sich aus ihrer Abhängigkeit zu befreien, brauchen betroffene Frauen und Mädchen eine Perspektive, garantierte Rechte auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Bildung und eigenständige Existenzsicherung. Es ist Aufgabe der ganzen

Gesellschaft, Gewalt an Frauen zu ächten, die Opfer zu schützen und die Ursachen zu bekämpfen.

Zwei von fünf Frauen in Deutschland haben in ihrem Leben sexuelle und körperliche Gewalt erlebt. Gewalt gegen Frauen wird überwiegend durch Männer – und dabei oft durch den Partner im häuslichen Bereich – verübt.

Die Zahlen und Fakten belegen, wie wichtig ein solcher Tag ist, um öffentlich auf die Not der Frauen aufmerksam zu machen. Auch wenn es in den letzten 30 Jahren – von der Gründung der Frauenhäuser bis zum Gewaltschutzgesetz – verstärkte Anstrengungen zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt gegeben hat, bleibt es ein Problem. Jeder Fall einer geschlagenen und vergewaltigten Frau ist ein Fall zu viel – abgesehen davon, dass es auch immer wieder zu Mordtaten an Frauen kommt.

Zweitens: Die Betroffenheit nach dem Mord an Hatun Sürücü war groß, und zwar auch hier im Hause. Dem Entschließungsantrag: „Menschenrechte sind unteilbar – gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ haben alle Fraktionen zugestimmt. Wir waren uns im März darüber einig, dass der Mord an Hatun Sürücü für uns Verpflichtung bleiben muss. Wir haben mit dem Antrag „Berlin bekämpft Zwangsverheiratung“ dem Senat einiges abverlangt. Heute sollte Gelegenheit sein, uns über die Maßnahmen auseinander zu setzen. Dabei geht es z. B. um die Frage, wie betroffenen Frauen und Mädchen geholfen werden konnte. Ist es gelungen, ressortübergreifend zu einem koordinierten Vorgehen des Senats zu kommen, und wie sind NGOs und die Vertretungen und Verbände von Migranten und Migrantinnen bislang einbezogen worden? Was ist mit den Gesetzesänderungen und dem Aufenthaltsrecht?

Das alles sind Fragen, die wir heute diskutieren sollten, damit wir den Frauen und Mädchen, die unterdrückt, geschlagen und misshandelt werden, Schutz bieten können. Die Grausamkeiten von Zwangsverheiratungen und die Mordtaten im Namen der so genannten Ehre müssen ein Ende haben.

[Beifall bei der Linkspartei.PDS – Beifall der Frau Abg. Radziwill (SPD)]

Denn dort, wo Gewalt anfängt, endet jede kulturelle Toleranz. Das genannte Ziel werden wir nur erreichen, wenn wir uns daran machen, die Ursachen zu beseitigen, und den betroffenen Frauen und Mädchen Schutz und eine echte Perspektive für ein gleichberechtigtes, unabhängiges Leben bieten können. Wir sollten uns damit nicht nur beschäftigen, wenn sich die Medienöffentlichkeit auf einen Fall stürzt, sondern den internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen nutzen, um uns hier im Hause mit den Konzepten und Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen auseinander zu setzen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. – Vielen Dank!

[Beifall bei der Linkspartei.PDS und der SPD]

Bevor ich dem Kollegen Steuer das Wort für die Begründung der Aktuellen Stunde der CDU erteile, nutze ich die Gelegenheit, auf unserer Tribüne einige Stipendiaten der Studienstiftung des Berliner Abgeordnetenhauses zu begrüßen. – Herzlich willkommen! Wir freuen uns, dass Sie unserer Sitzung folgen.

[Allgemeiner Beifall]

Nun hat aber Kollege Steuer das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist ein schrecklicher Tag. Irgendwo in dieser 3,5-Millionenstadt sitzt ein Kind in einer Wohnung – verlassen, unterernährt, verängstigt und verstört. Vielleicht heißt es Jennifer, Marie oder Jonas. Ja, es hat einen Namen, wenn sich auch niemand mehr daran erinnert. Wöchentlich erreichen uns die Nachrichten von Kindern, deren Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Wie viele es sind, deren Schicksal uns nicht erreicht, wissen wir nicht. Es werden viele sein – zu viele. Für das unsägliche Leid, das diese Kinder erfahren, gibt es keine Entschuldigung, denn es wird sie, ihren Charakter und ihre Fähigkeiten ihr Leben lang prägen.

Um es deutlich zu sagen: Eltern sind für die Erziehung ihres Kindes verantwortlich. Sie tragen die alleinige Verantwortung für das Wohl des Kindes. Davon kann und darf sie niemand befreien.

[Beifall bei der CDU]

Die Jugendämter sind bisher eher zurückhaltend mit Eingriffen in Familienstrukturen umgegangen. Solange keine alarmierenden Informationen über Vernachlässigung und Misshandlung vorliegen, wird das Jugendamt offenbar nur durch Telefonanrufe aktiv. Kooperieren die Eltern nicht, geschieht häufig nichts mehr. Aber es scheint auch klare Versäumnisse in einigen Jugendämtern zu geben. Es kann nicht sein, dass ein Jugendamt mehrmals erfolglos Kontakt zu einer Familie aufzunehmen versucht und nicht mit der Polizei kooperiert. Es kann nicht sein, dass mangelnde Ämterkooperation dazu führt, dass in Berlin Kinder monatelang vergessen werden.

[Beifall bei der CDU – Frau Senftleben (FDP): Richtig!]

Angesichts der weiteren massiven Kürzungen bei den Hilfen zur Erziehung muss befürchtet werden, dass die Jugendämter in der Zukunft nur noch auf schlimmste Fälle von Kindesmisshandlung reagieren werden, dass Kinder nur noch aus der Familie herausgenommen werden, wenn es gar nicht mehr anders geht, und dass die Prävention auf der Strecke bleibt. Dies ist in vielen Jugendämtern bereits jetzt Realität. Die Kürzungen betreffen besonders die Bezirke, deren Sozialstruktur sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat. Es ist doch völlig klar: umso mehr soziale Verwerfungen, desto weniger geordnete Verhältnisse in Elternhäusern und desto mehr Gefahr von Kindesvernachlässigungen!

Es ist deshalb nicht richtig, dass mit diesem Hausalt erneut 33 Millionen € bei der Jugendhilfe eingespart wer

den sollen. Sie, Herr Regierender Bürgermeister, haben deshalb vor wenigen Tagen einen gemeinsamen Brief der beiden großen Kirchen erhalten. Kardinal Sterzinsky und Bischof Huber warnen Sie eindringlich, noch weniger Geld für Familienhilfen auszugeben. Sie warnen davor, dass die Kürzungen zu einer Funktionsunfähigkeit des Jugendhilfesystems in Berlin führen könnten. Über 40 % hat dieser Senat bereits bei den Hilfen zur Erziehung gekürzt – mehr als in jedem anderen Haushaltstitel. 7 000 Jugendliche sind bereits aus der Jugendhilfe herausgefallen. Sie erhalten keine Familienhilfe mehr, sie werden aus Heimen geworfen, und niemand unterstützt sie bei der Suche nach ihrem ersten Job. Viele von ihnen haben keine Chance. Wir fordern Sie deshalb auf: Lassen Sie ab vom Zahlenfetischismus des Finanzsenators, und rücken Sie wieder die Menschen und ihre Probleme in den Mittelpunkt Ihrer Politik!

[Beifall bei der CDU]

Aber es geht nicht nur um die Sicherung der Finanzmittel für die Kinder und Familien in dieser Stadt. Wir müssen uns auch die folgende Frage stellen: Was machen wir als verantwortliche Politiker aus der Erkenntnis, dass es offensichtlich immer mehr Eltern gibt, die ihrer Erziehungsverantwortung nicht mehr gerecht werden? Wie reagieren wir auf eine Gesellschaft, in der immer weniger Menschen in der Lage sind, für sich selbst oder für ihre Kinder zu sorgen? – Es gibt nur eine Antwort darauf: Wir müssen die Kinder schützen.

[Brauer (Linkspartei.PDS): Sie? – Doering (Linkspartei.PDS): Persönlich?]

Deshalb hat die CDU-Fraktion bereits vor Monaten den Antrag eingebracht, die Vorsorgeuntersuchungen von Kleinkindern zur Pflicht zu machen. Es reicht nicht, wenn 90 % der Eltern mit ihren Kindern an Untersuchungen teilnehmen würden, denn es geht genau um die 10 % der Eltern, die niemals freiwillig an einer solchen Untersuchung teilnähmen. Selbstverständlich gehen die Eltern, die etwas zu verbergen haben, nicht zu einer freiwilligen Untersuchung. Deshalb kann lediglich Werbung für eine Teilnahme keine Antwort sein. Sie ist bestenfalls eine Übersprungshandlung.

Insofern ist es völlig unverständlich, dass die Koalition unseren Antrag hierzu abgelehnt hat. SPD und PDS argumentieren mit dem Datenschutz und dem Erziehungsauftrag der Eltern. Das stünde einer Pflichtuntersuchung im Weg. Ich habe mich damals schon gefragt, wie Sie darauf kommen, dass dies dem im Wege stehen sollte. Es ist doch unsere Aufgabe als Abgeordnete, Wege zu finden und nicht zu zaudern – auf Grund bloßer Vermutungen – und notwendige Neuerungen zu blockieren.

[Beifall bei der CDU]

Aber die schrecklichen Nachrichten der letzten Wochen scheinen immerhin zu einem Prozess des Nachdenkens geführt zu haben, denn heute erklärt überraschend der Jugendsenator, dass er genau dies, nämlich Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen, für richtig halte. Ich freue mich darüber, dass diese Erkenntnis nun da ist,