Protokoll der Sitzung vom 08.06.2006

Wird der Dringlichkeit der zuletzt genannten drei Beschlussempfehlungen widersprochen? – Ich höre, das ist nicht der Fall.

Jeder Fraktion steht eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner aufgeteilt werden kann. Ich eröffne dabei die I. Lesung der Änderung des Lehrerbildungsgesetzes und beginne in der Reihenfolge der Wortmeldungen. Zunächst hat der Abgeordnete Mutlu von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. – Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie ich es vorhin schon sagte: Schulnamen wie Rütli- oder Pommernschule sind ein Kennzeichen für die Bildungspolitik des rot-roten Senats. Die Namen stehen für die desaströse Jugend- und Bildungspolitik dieses Senats und haben es leider zu einer traurigen Berühmtheit in der ganzen Republik gebracht.

[Zuruf des Abg. Pewestorff (Linkspartei.PDS)]

Nichtsdestotrotz muss gesagt werden, dass Gewalt nicht das einzige Problem der Berliner Schulen ist, dieses Thema darf nicht isoliert betrachtet werden. Fakt ist, dass an den Berliner Schulen weder leistungsstarke noch leistungsschwache Schülerinnen und Schüler adäquat gefördert werden. Das ist mittlerweile durch mehrere internationale Studien belegt worden. Berlin kann es sich auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung nicht leisten, dass ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen schlecht ausgebildet wird. Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind nicht für Flickschusterei und für das Herumdoktern an Symptomen zu haben. Wir stehen für eine grundlegend andere, innovative Bildungspolitik.

[Beifall bei den Grünen – Frau Senftleben (FDP): Ah ja!]

Wir alle – und damit meine ich das ganze Haus – stehen in der Pflicht, den Kindern und Jugendlichen das breitgefächerte soziale, mentale und intellektuelle Rüstzeug mitzugeben, das sie brauchen werden, um die Zukunft zu meistern. Für uns ist die bestmögliche und nachhaltige Förderung aller Schülerinnen und Schüler letztendlich der zuverlässige, vielleicht sogar der einzige Weg, zu Spitzenleistungen und zu Exzellenz zu kommen. Wir haben dabei nicht Gleichmacherei vor Augen, vielmehr steht für uns die volle Entfaltung der individuellen Fähigkeiten jedes einzelnen Kindes im Mittelpunkt. Wir sehen dieses zentrale Ziel mit mindestens vier bildungspolitischen Schwerpunkten verknüpft: erstens der Wichtigkeit der frühkindlichen Bildung, zweitens der Befähigung der Schule für ihren Auftrag, drittens der Einbindung und Ermutigung der Eltern zur Teilhabe am Bildungsprozess und viertens der Berücksichtigung und Integration unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Hintergründe.

alle Begabungen fördern. Wir wollen eine Qualitätsoffensive, eine andere Lernkultur und die Abschaffung von uneffektiven Selektionsmechanismen. Wir setzen auf individuelle Förderung anstelle des Sitzenbleibens. Wir wollen die Schulabbrecherquote halbieren und die Abiturientenquote sukzessive auf 40 % steigern. Wir brauchen Schulen, die selbstständig handeln und entscheiden können; die Schulen brauchen ihr eigenes Budget und eine eigene pädagogische Entscheidungskompetenz.

[Beifall bei den Grünen]

All diese notwendigen Reformen haben wir in den letzten fünf Jahren immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt und im Parlament thematisiert. Unsere zahlreichen Anträge dazu haben Sie wider besseres Wissen abgelehnt.

Wie schaut dagegen die rot-rote Bildungspolitik aus, wie schaut Ihre Bilanz aus?

[Brauer (Linkspartei.PDS): Gut!]

Abwarten, Herr Kollege! – Was hat sich seit dem Amtsantritt von Rot-Rot in der Bildungspolitik getan? – Der Unterrichtsausfall sollte auf weniger als 1 % sinken – das hat Herr Böger zu seinem Amtsantritt vollmundig angekündigt. Heute beklagen wir einen Unterrichtsausfall von 11 %, und diese Quote sinkt nicht. Eigenverantwortung artet in Mangelverwaltung aus, weil den Schulen die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen vorenthalten werden. Lehrerinnen und Lehrer, die wir für viel Geld in Berlin ausgebildet haben, verlassen die Stadt, weil sie hier keine Zukunftsperspektive sehen, und das, obwohl wir in den nächsten Jahren einen immensen Lehrermangel haben werden. Damit aber nicht genug: Erhöhung der Lehrerarbeitszeit, Erhöhung der Kitagebühren, Personalkürzungen im Kitabereich, Abschaffung der Förderklassen für Schüler mit Sprachdefiziten in Klasse 1 und 2, Abschaffung der Lernmittelfreiheit, Kürzungen bei Schulen in freier Trägerschaft usw. – Das ist Ihre Bilanz!

Aber immerhin, ein Anfang ist gemacht, und notwendige Reformschritte sind eingeleitet, Reformschritte, für die wir immer wieder gestritten haben, wie z. B. frühe Einschulung, flexible Schulanfangsphase, Ausbau der Ganztagsschulen oder Verlagerungen der Horte an die Schulen. Diese Reformschritte wurden allerdings durch die chaotische und zeitlich viel zu enge Umsetzung durch die Senatsschulverwaltung konterkariert und müssen dringend nachjustiert werden.

[Beifall bei den Grünen]

Sie werden nur dann positiv wirken, wenn sie tatkräftig begleitet und unterstützt werden und wenn die notwendigen finanziellen Mittel dafür bereitgestellt werden. Deshalb sagen wir: Haushaltskonsolidierung und Investitionen in die Zukunftsfähigkeit Berlins müssen Hand in Hand gehen. Bildung muss eindeutige Priorität haben.

Bildungsgerechtigkeit und Bildungsqualität müssen bei allen Reformen im Mittelpunkt stehen. Es geht letzt

lich um zwei zentrale Dinge: um die Förderung und Entwicklung aller Begabungen eines Kindes und um die Förderung und Entwicklung aller Kinder, gerade wenn ihr sozialer Hintergrund eine besondere Förderung notwendig macht. Die Befähigung der Schule für ihren Auftrag, die Einbindung und Ermutigung der Eltern und die Berücksichtigung sowie Integration unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Hintergründe sind dafür unverzichtbar.

Die Berliner Schule braucht eine Bildungsoffensive statt einer organisierten Verantwortungslosigkeit, die wir jetzt zu beklagen haben.

[Beifall bei den Grünen – Zuruf von der Linkspartei.PDS: Das ist ja eine leichte Lösung!]

Die Berliner Schule braucht individuelle Förderung und eine fortschrittliche Lernkultur statt eines antiquierten Frontalunterrichts. Die Berliner Schule braucht echte Eigenverantwortung statt einer gängelnden Zentralbürokratie, die auch mit Maulkörben und Ähnlichem hantiert. Die Berliner Schule braucht zudem neue und junge Lehrerinnen und Lehrer, die für die Realität des Schulalltages gewappnet sind.

[Beifall bei den Grünen]

Gute Bildungspolitik ist eine Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit, für Gleichheit der Chancen und für die Integration von Minderheiten. Dafür müssen wir hier in diesem Hause gemeinsam kämpfen.

[Beifall bei den Grünen]

Nachhaltige pädagogische Erfolge setzen motivierte und hervorragend ausgebildete Lehrkräfte voraus. Ich sage nicht, dass sie das gegenwärtig nicht wären, aber unsere Lehrerinnen und Lehrer, die trotz all der Schwierigkeiten und schlechten Bedingungen erstaunlich gute Ergebnisse erreichen, brauchen unsere Hilfe. Sie müssen kontinuierlich fortgebildet werden, und diese Fortbildung muss gewährleistet sein. Wir brauchen auch flexible und gerechte Arbeitszeitmodelle mit festen Präsenzzeiten einerseits und variablen Einsatzmöglichkeiten andererseits.

[Vereinzelter Beifall bei den Grünen – Frau Dr. Hiller (Linkspartei.PDS): Präsenzpflicht!]

Schülerinnen und Schüler müssen auch zukünftig von Lehrkräften angeleitet und unterrichtet werden, die keine Pauker mehr sind, sondern sich als Lernberater und Lernförderer verstehen. In dieser Richtung muss die Lehrer- und Lehrerinnenausbildung auch inhaltlich reformiert werden – und nicht nur organisatorisch, wie das in den letzten Jahren passiert ist und was auch nicht gerade positive Auswirkungen auf die Ausbildung hatte.

[Vereinzelter Beifall bei den Grünen – Frau Dr. Hiller (Linkspartei.PDS): Das ist Quatsch! Sie ist doch inhaltlich reformiert worden!]

Junge Menschen sind kein genormtes Obst, das noch unreif auf verschiedene Paletten verteilt wird. Genau dazu zwingt das gegenwärtige dreigliedrige Schulsystem. Die

ses dreigliedrige Schulsystem ist nicht nur extrem selektiv, sondern auch sehr ineffektiv und leistungsschwach. Unsere Schulen müssen soziale Disparitäten ausgleichen helfen, anstatt sie zu vertiefen.

[Beifall bei den Grünen]

Tatsächlich bilden aber unsere Schulen die Einkommenshierarchien der Gesellschaft und der Elternhäuser ab und zementieren Chancenungerechtigkeit von Generation zu Generation. In dieser grundsätzlichen Ungerechtigkeit steckt ein enormer sozialer Sprengstoff, und deshalb sage ich an dieser Stelle: Die Bilder aus Frankreich vom letzten Herbst sollten uns eine Warnung sein.

Wir werden zudem auch nicht umhin kommen, unser Schulsystem mit der frühzeitigen Aufspaltung in drei Schultypen zu überwinden. PISA hat nachgewiesen, dass wir daran nicht vorbeikommen.

[Frau Senftleben (FDP): Nachgewiesen wurde das nun wirklich nicht!]

Eine innere Schulreform ohne eine entsprechende äußere Schulreform wird nicht gelingen. Wir brauchen ein integratives Schulsystem, in dem Demokratie und soziales Verhalten gelernt und gelebt werden. Wir brauchen keine Einheitsschule, sondern eine Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild, in der alle Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen und individuell gefördert werden. Die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule zu einer neuen integrativen Schulform ist ein erster richtiger Schritt dorthin.

[Beifall bei den Grünen]

Reformen kosten Geld. Gute und zukunftsfähige Bildung hat ihren Preis. Wir sind der Auffassung, dass Berlin mit den Mehreinnahmen, die es durch Subventionsabbau und durch die Steuerreformen bekommt, hier Prioritäten setzen muss. Wir wollen jeden fünften Euro aus diesen Mehreinnahmen in die Bildung investieren, und darüber hinaus wollen wir auch durch intelligente Umstrukturierungen im Schulwesen einen wesentlich effizienteren Mitteleinsatz als bisher ermöglichen. Wir als Grüne haben uns klar für die Priorität der Bildung entschieden. Wir sind der Auffassung, dass Investitionen in die Bildung Zukunftsinvestitionen sind und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen. Ich hoffe, Sie teilen in diesem Punkt unsere Meinung.

[Beifall bei den Grünen]

Das Wort hat nun Frau Kollegin Dr. Tesch. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst bin ich froh, dass zum wiederholten Mal ein bildungspolitisches Thema für die Aktuelle Stunde gewählt wurde. Lässt man diese Legislaturperiode, die sich ihrem Ende zuneigt, Revue passieren, so stellt man fest, dass nie so viel über Bildung diskutiert wurde wie jetzt.

Herr Mutlu! Zunächst hat mich der erste Teil in Ihrer der Überschrift für die Aktuelle Stunde – „Bildung braucht Verantwortung!“ – positiv gestimmt – im Unterschied zu dem unsäglichen Untertitel. Aber in Ihrer Begründung haben Sie dann doch wieder auf die populistische Gewaltglocke gehauen, und in den ersten Sätzen Ihres Redebeitrags ist das erneut geschehen.

[Frau Senftleben (FDP): Ob das nun unbedingt etwas Gutes bedeutet!]

Aber es wurde nicht nur diskutiert. Keine andere Koalition hat in der Bildungspolitik so viel bewirkt wie die rotrote Koalition. Die Bilanz sieht also sehr gut aus, Herr Mutlu!

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Das zeigt, dass wir uns der Verantwortung für Bildung durchaus bewusst sind, meine Damen und Herren von den Grünen! Verantwortung aber müssen wir alle tragen – nicht nur wir Politikerinnen und Politiker oder der von Ihnen völlig zu Unrecht ermahnte Senat, sondern vor allem auch alle, die an der Schule beteiligt sind: die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler und nicht zuletzt – das sage ich hier auch schon zum wiederholten Male – die Eltern. Wir wollen niemanden aus der Verantwortung entlassen, sondern geben vielmehr mit dem neuen Schulgesetz der Einzelschule mehr Verantwortung, ohne die Schulen im Stich zu lassen – geschweige denn, sie aus dem Ruder laufen zu lassen, wie Sie zu formulieren belieben.

Diese Aktuelle Stunde ist ein großer Komplex, da sie mit sechs Anträgen und drei Beschlussempfehlungen verbunden ist, die wir bereits ausführlich im Schulausschuss diskutiert haben. Ich möchte nicht erneut die Gewaltproblematik in den Vordergrund stellen, da wir dazu bereits ausführlich in der Aktuellen Stunde vom 6. April 2006 Stellung bezogen haben und heute unter der Priorität der CDU eine weitere Debatte folgen wird. Außerdem ist zu Anfang dieser Sitzung meine Mündliche Anfrage ausführlich beantwortet worden.

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Na dann!]

Gestatten Sie mir dennoch ein paar Worte zu den Begründungen, die vorher zu der Aktuellen Stunde abgegeben wurden, weil ich diese so unsäglich fand. Herr Steuer ist jetzt leider nicht anwesend. Was er dazu abgesondert hat, ist nicht nur populistisch und schwarzmalerisch, sondern es ist teilweise sogar falsch. Er hat sich über Kitagebühren beschwert, aber wir sind diejenigen, die ab dem 1. Januar 2007 das letzte Kitajahr beitragsfrei stellen.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS – Frau Schultze-Berndt (CDU): Sie haben sie erhöht! – Zimmer (CDU): Das ist ja lächerlich!]