Protokoll der Sitzung vom 29.06.2006

Mit dieser Forderung steht die CDU nicht allein da. Sie sieht sich in Übereinstimmung mit vielen gesellschaftlichen Gruppen, übrigens auch mit vielen einzelnen Menschen in unserer Stadt, die die Familienpolitik des Senats für völlig unzureichend halten.

[Beifall bei der CDU]

Doch im Gegensatz zur Selbstzufriedenheit der rot-roten Koalition wollen und können wir uns nicht damit zufrieden geben, dass Berlin neulich als ein Bundesland bewertet wurde, in dem, ich zitiere, „Familien keine Perspektiven haben“. Wir mahnen deshalb die Verantwortlichen im Senat an und wollen, dass endlich aktive Familienpolitik in Berlin betrieben wird.

Obwohl Sie es sicherlich wieder als Wahlkampfgetöse abtun werden, sehr verehrte Frau Dr. Barth,

[Frau Dr. Barth (Linkspartei.PDS): Genau!]

haben wir Ihnen heute erneut einen Antrag vorgelegt, der die Lage von Familien in Berlin verbessern soll. Aber auch unsere Anträge wie z. B. zur Familienbildung, zur Stärkung der Erziehungskompetenz, zu mehr Informationen für Familien, zum Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen, zur Rettung der Tagesgroßpflegestellen, unsere haushaltspolitischen Ansätze bezüglich der Hilfen zur Erziehung oder zur Umsetzung der Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt zeigen deutlich, wo wir die Defizite sehen.

Die dazu im Plenum und im Ausschuss erfolgten Diskussionen haben jedoch gezeigt, dass die rot-rote Koalition immer noch reale Umsetzung und Absichtserklärungen ganz offensichtlich miteinander verwechselt. Da Sie wenig Neigung zu Selbstkritik zeigen, wundert es nicht, dass Wort und Tat weit auseinander klaffen. Ein Blick in Ihre Koalitionsvereinbarung zeigt das deutlich, denn Rot-Rot hat kaum einen der in der Familienpolitik angeführten Punkte verwirklicht, sondern ruht sich bei den meisten auf den Ergebnissen der Vorgängerkoalition aus – wie z. B. bei dem Familienpass. Wo sind denn Ihre vielfältigen Angebote der Familienförderung? Wo sind Ihre Maßnahmen, um die Bedeutung der Familien in dieser Stadt zu

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Das Berliner Bündnis für Familie, das sich vor einigen Monaten gegründet hat, versucht gerade, mittels eines Fragebogens festzustellen, wie familienfreundlich Berlin eigentlich ist. Dabei werden all die Punkte aufgelistet, die bei Familienfreundlichkeit eine Rolle spielen, an erster Stelle steht da die Kinderbetreuung. Dass Berlin hier einen Spitzenplatz einnimmt, haben wir schon Dutzend Mal gesagt, das muss ich nicht wiederholen. Gerade in diesem Bereich haben wir die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verbessert. Ab 2007 ist für das letzte Kitajahr vor der Einschulung kein Entgelt mehr zu bezahlen. Das ist in erster Linie eine Bildungsmaßnahme, und gleichzeitig ist es eine finanzielle Entlastung für die Familien mit kleinen Kindern. Auch mit der verlässlichen Halbtagsgrundschule und dem Ausbau der Ganztagsschulen erleichtern wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – wiederum in erster Linie Bildungspolitik, aber zugleich praktische Familienpolitik, die Eltern und Kindern den Alltag erleichtert.

stärken? Wo sind die flexiblen Betreuungsangebote für den außergewöhnlichen Betreuungsbedarf von Kindern? Wo sind die Projekte der Rund-um-die-Uhr-Kinderbetreuung? – Alles Zitate aus Ihrer Koalitionsvereinbarung. Sie werden an dieser Stelle wieder die Ganztagsschulen aus dem Hut ziehen. Aber, verehrte Damen und Herren, das allein löst die Probleme der Familien in dieser Stadt nicht. Ehrlich gesagt lässt die Qualität der Ganztagsbetreuung noch sehr stark zu wünschen übrig.

[Beifall bei der CDU – Beifall der Frau Abg. Senftleben (FDP)]

Und nun ein Blick auf den Kalender, Herr Senator. Wo bleibt denn der aktuelle Familienbericht? Wir haben heute den 29. Juni, und Sie haben ihn uns zum 30. Juni versprochen. Aber Sie haben ja noch 24 Stunden Zeit.

Von einer familienfreundlichen Politik kann bei Ihnen nicht die Rede sein. Statt dessen wurde die Familienpolitik unter Rot-Rot als Sparschwein zur Sanierung des Haushalts benutzt, die Bürokratie erhöht, wie z. B. beim Kitaanmeldeverfahren – sehr familienfreundlich! Klammheimlich wurde mancherorts auch die Geschwisterregelung abgeschafft, damit Familien es noch ein bisschen schwerer haben, Kinder in dieser Stadt großzuziehen. Fragen Sie doch mal die Eltern, die können Ihnen davon ein Lied singen!

Gerade in den letzten Wochen und Monaten war die Familienpolitik in aller Munde. Der CDU wird dabei immer wieder untergeschoben, sie habe gerade erst die Bedeutung dieser Frage entdeckt. Ganz falsch und bewusst irreführend, nicht wahr, Herr Nolte? Oder erinnern Sie sich nicht mehr daran, wie wir in den Koalitionsrunden mit der SPD um den Familienpass gerungen haben oder um das Kitagesetz oder um die Einführung eines Wettbewerbs „Der familienfreundliche Betrieb“ auf Landesebene? Die CDU hat in dieser wie auch in der vergangenen Legislaturperiode bewiesen, dass es ihr mit der Familienpolitik im Land Berlin ernst ist und sie auf die Bedürfnisse der Familien, in welcher Zusammensetzung sie auch immer füreinander Verantwortung tragen, Rücksicht nimmt. Wir wollen, dass es Kindern und ihren Eltern in Berlin gut geht, denn schon Novalis sagte: „Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter.“ Die CDU nimmt diese Herausforderung an. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank, Frau Kollegin Richter-Kotowski! – Wir fahren fort mit der Fraktion der SPD, das Wort hat die Frau Kollegin Harant – bitte!

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Familie ist wirklich ein schönes Thema, und Familienpolitik ist auch ein wichtiges Thema. Ich finde es gut, dass die Parteien die Familie entdeckt haben, wenn auch die CDU natürlich schon wieder viel früher dran war, angeblich. Die Familien leisten für unsere Gesellschaft Entscheidendes, und sie brauchen die Solidarität der Gesellschaft, da sind wir uns einig. Dass allerdings die pauschalen Forderungen, die in diesem An

trag zum Ausdruck kommen, die Familien nun wirklich wirksam unterstützen, wage ich zu bezweifeln.

Keiner bestreitet, dass Familienpolitik Querschnittsaufgabe ist, das müssen wir nicht extra beschließen. Ob wir aber mit eigenständigen familienpolitischen Leitlinien weiterkommen, ob wir einen Landesfamilienbeauftragten brauchen, das scheint mir doch sehr theoretisch und widerspricht Ihrer eigenen Forderung nach mehr praktischer Anstrengung – so schreiben Sie es jedenfalls in Ihrer Begründung. In der Tat, wir brauchen eine praktische Politik für Familien, da bin ich Ihrer Meinung. Die haben wir gemacht, das werde ich Ihnen gleich nachweisen.

[Beifall bei der SPD]

Familienfreundlichkeit zeigt sich auch darin, welche Angebote Kinder und Familien in der Freizeit finden. So werden in Berlin z. B. Sportvereine, die sich sehr stark um Kinder und Jugendliche kümmern, stärker gefördert. Bibliotheken sind für Kinder kostenfrei, Kindertheater und andere Kulturangebote richten sich an Familien. Es gibt einen Familienpass, es gibt einen Ferienpass, es gibt ermäßigte Familieneintrittskarten. Familien brauchen sichere Verkehrswege, ein gutes Radwegenetz, sichere Schulwege, Spielplätze – das alles sind Themen, die vor Ort entschieden werden müssen. Was soll da ein Landesfamilienbeauftragter eigentlich bewegen?

[Beifall bei der SPD – Beifall der Frau Abg. Senftleben (FDP)]

Danke, Frau Senftleben! –

[Frau Senftleben (FDP): Gerne!]

Wir wissen also längst, wo Familien Unterstützung brauchen. Die Kunst besteht nicht darin, schöne Worte zu machen, sondern die Kunst besteht darin, praktische Rahmenbedingungen zu setzen. Dazu leistet Ihr Antrag leider keinen Beitrag.

Zweitens möchte ich mit Ihrem Vorurteil aufräumen, dass wir angeblich Familien- und Kinderpolitik machen, damit die Menschen mehr Kinder bekommen. Wir machen Familien- und Kinderpolitik für die Familien und Kinder von heute, um ihnen das Leben zu erleichtern.

Die Überschrift Ihres Antrags „Familienpolitik muss im Land Berlin einen höheren Stellenwert bekommen“ finde ich gut und richtig. Ich teile dieses Anliegen auch. Denn dieser rot-rote Senat erhöht Kitagebühren, schafft die Lernmittelfreiheit ab, kürzt drastisch die Hilfen für Kinder und Familien, und hätte das Parlament nicht eingegriffen, wäre noch Schlimmeres in den letzten Haushaltsberatungen passiert, wo weitere Kürzungen bei den Familienverbänden und Familienbildungsstätten im Haushaltsplanentwurf enthalten waren. Das ist Ihre rotrote Familienpolitik. Das ist Ihre Bilanz, Herr Böger. Im schlimmsten Fall wird gekürzt, im besten Fall interessiert Familienpolitik den Senat nicht die Bohne. Da ist es nur folgerichtig, dass der zuständige Senator schamvoll verschweigt, dass er eigentlich auch Familiensenator ist. In dem Namen Ihrer Senatsverwaltung taucht dies jedenfalls nicht auf.

Zum zweiten Antrag bezüglich der Geschwisterregelung: Sie stellen den Antrag, einen Anspruch auf eine Geschwisterregelung einzuführen. Einführen muss man sagen, denn diesen Anspruch gab es bisher nicht, es gab ihn auch in dem alten Schulgesetz nicht. Dieser Vorschlag hat auch wenig Sinn, denn bezogen auf die Grundschule ist es momentan bereits geregelt.

[Frau Senftleben (FDP): Ja, da ist es ein Muss!]

Genau! – Alle Kinder, deren Wohnsitz in einem Einschulbereich liegt, werden in der zuständigen Grundschule eingeschult. Darauf besteht ein Anspruch, und die Geschwister, die in der Regel in demselben Haushalt wohnen, haben automatisch den Anspruch, an derselben Grundschule eingeschult zu werden. Im Normalfall gibt es also gar kein Problem.

Sollten aber Eltern ganz bewusst eine andere Grundschule für ihr Kind wählen, können die Geschwister dort nur aufgenommen werden, wenn ausreichend freie Plätze vorhanden sind. Ein Aufnahmeanspruch besteht dann nicht. Anspruch haben immer zuerst die Kinder, die dort wohnen. Wollen Sie diese Regelung wirklich ändern, Frau Richter-Kotowski? Halten Sie es für familienfreundlich, wenn Kinder aus anderen Einzugsbereichen die ansässigen Kinder verdrängen können?

Wie sieht es in der Sekundarstufe aus? – Da gibt es keinen Schulsprengel. Da kann sich jeder an jeder Schule bewerben. Da ist geregelt, nach bestimmten Kriterien zu verfahren, wenn die Zahl der Anmeldungen die Kapazität der Schule überschreitet. Es geht um Fachkriterien, es geht um Leistungskriterien. Das Kriterium Geschwister spielt doch wohl in dieser Altersgruppe der Über-12Jährigen nur noch eine untergeordnete Rolle!

Frau Kollegin! Kommen Sie bitte zum Ende!

Fazit: Eine Ausführungsvorschrift, die etwas anderes vorschreibt als das Gesetz, ist rechtlich nicht zulässig. Damit ist der Antrag erledigt. Wie sagt man in WM-Zeiten: Sie haben sich verdribbelt, Frau Richter-Kotowski!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS]

Vielen Dank, Frau Kollegin Harant! – Die Grünen kommen jetzt zu Wort. Das Wort hat die Frau Kollegin Pop. – Bitte schön!

[Pewestorff (Linkspartei.PDS): Den Ball schön flach halten!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Frau Richter-Kotowski, zwei Anmerkungen: Es wäre schön gewesen, wenn Sie zu Ihren Anträgen gesprochen und nicht Allgemeinpolitisches geredet hätten.

[Vereinzelter Beifall bei der Linkspartei.PDS]

[Beifall bei den Grünen und der SPD]

Der Familienatlas der Bundesregierung, den die CDU zitiert, stellt Berlin kein besonders gutes Zeugnis in der Familienpolitik aus. Berlin gehört nämlich zu den Regionen mit geringen Perspektiven für Familien, heißt es dort. Insbesondere die wirtschaftliche Situation der Stadt und die hohe Arbeitslosigkeit tragen zu dieser Perspektivlosigkeit bei. Dieses Problem lässt sich aber leider nicht von heute auf morgen und schon gar nicht mit familienpolitischen Maßnahmen lösen. Der CDU-Antrag ist insofern mehr als Appell zu verstehen, Familienpolitik einen höheren Stellenwert einzuräumen, denn ein zukunftsfähiges Berlin braucht Perspektiven für Kinder, Jugendliche und Familien.

Konkrete Maßnahmen schlagen Sie allerdings nicht vor, Frau Richter-Kotowski. Die einzelnen Ideen sind richtig, werden aber sehr oberflächlich angerissen. Zum Beispiel fordern Sie eine Verbesserung der Zusammenarbeit von Eltern und Schule und Eltern und Kita, aber wie das geschehen soll, bleibt Ihr Geheimnis. Hierzu haben wir in das Parlament schon einige Initiativen eingebracht. Zum Beispiel wollen wir die Kindertagesstätten zu Kinder- und Familienzentren weiterentwickeln – wie in England – und mit Kinderbetreuung, mit Angebot der Familienbildung, Familienberatung und Familienförderung verbinden, denn wo erreichen wir die Eltern besser als in der Kita. Dies ist ein konkreter Vorschlag, Frau RichterKotowski.

[Beifall bei den Grünen]

Wir wollen Bildungs- und Erziehungspartnerschaften in Kitas und Schulen initiieren, denn wir brauchen neue Formen der Zusammenarbeit von Eltern und Erzieherinnen sowie Lehrerinnen, die über die bekannte Elternarbeit

hinausgehen. Eltern brauchen auch Unterstützung. Das sage ich in Richtung Senat und Koalition. Wir brauchen auch in Zukunft die Beratungsinfrastruktur für Familien in dieser Stadt und die vielen guten Projekte vom Kinderschutzbund bis hin zum Arbeitskreis Neue Erziehung.

Politik für Familien heißt für uns aber auch, Kinder stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Familie ist dort, wo Kinder sind. Inzwischen ist dies Konsens in der Politik. Doch Berlin ist von einer kinderfreundlichen Stadt noch weit entfernt. Die Belange der Jüngsten finden leider häufig zu wenig Gehör und Aufmerksamkeit in Gesellschaft und Politik. Alle Kinder haben insbesondere in der Großstadt das Recht auf lebenswerte Verhältnisse, die ihre Entwicklung fördern und ihnen Zukunftsperspektiven eröffnen.

Wir wollen, dass Kinderrechte in der Berliner Verfassung aufgenommen werden. Wir wollen, dass Kinder die gleichen Rechte haben wie Erwachsene, dass ihre Rechte gleichberechtigt neben denen von Erwachsenen stehen. Hier erwarten wir Ihre Unterstützung ganz im Sinne einer kinder- und familienfreundlichen Stadt. – Danke!

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Frau Kollegin Pop! – Die Linkspartei.PDS schließt sich an. Das Wort hat die Frau Kollegin Dr. Barth. – Bitte schön!