Protokoll der Sitzung vom 14.01.2010

Antrag der FDP Drs 16/2908

Der zuletzt genannten Dringlichkeit wird nicht widersprochen.

Den Antrag der FPD-Fraktion Drucksache 16/2837 hatte ich bereits vorab an den Ausschuss für Stadtentwicklung und Verkehr sowie an den Hauptausschuss überwiesen. Ihre nachträgliche Zustimmung dazu stelle ich fest.

Für die gemeinsame Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu 10 Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt der Kollege Meyer von der Fraktion der FPD. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über einem Jahr erlebt Berlin die größte Krise eines kommunalen Verkehrsträgers seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit über einen Jahr sind wir Zeugen eines politischen Trauerspiels.

Ich gebe Ihnen einen kurzen Rückblick. Vor zwölf Monaten formulierte die zuständige Senatorin Junge-Reyer hier im Abgeordnetenhaus:

Wir befinden uns seit Monaten in Gesprächen mit der Geschäftsführung der S-Bahn, die ich durchaus als konstruktiv bezeichnen kann, weil wir wesentliche Verabredungen miteinander getroffen haben, die die Qualität betreffen.

Vor sechs Monaten dann versuchte Herr Wowereit das erste Mal, auf dem S-Bahngipfel Grube-Wowereit die Angelegenheit S-Bahn zur Chefsache zu machen. Er formulierte:

Wir wollen, dass das Leistungsangebot der S-Bahn funktioniert.

Vor vier Monaten – im September des letzten Jahres – stellte Frau Junge-Reyer fest:

Wir können anerkennen, dass die S-Bahn auf dem richtigen Weg ist und auf dem Weg zum Normalbetrieb Fortschritte erzielt wurden.

Und vorgestern kam ein gut erholter Regierender Bürgermeister aus seinem Winterurlaub und erklärte wieder das S-Bahnchaos zur Chefsache – mit den Worten: „Die Berliner haben die Schnauze voll.“

Richtig, Herr Wowereit! Die Berlinerinnen und Berliner haben die Schnauze voll, und zwar sowohl von der verkehrstechnischen Inkompetenz der S-Bahn, aber insbesondere auch von der verkehrspolitischen Inkompetenz und Unglaubwürdigkeit des rot-roten Senats und der mit der Situation offensichtlich vollkommen überforderten Senatorin Junge-Reyer.

[Beifall bei der FDP – Uwe Doering (Linksfraktion): Was ist eigentlich mit der Bundesregierung? – Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Absurd! Kam da nicht etwas von der Bundesregierung?]

Deswegen ist es wichtig, dass das von der FDP beantragte Thema heute in der Aktuellen Stunde diskutiert wird. Denn trotz aller Positionspapiere, Pressekonferenzen, geheimen Verhandlungstermine und unzähliger Bahngipfel gibt es nach 12 Monaten immer noch keine klare Position und Strategie des Senats in allen entscheidenden Fragen zur S-Bahnkrise.

[Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Sie wollen weiter den Börsengang!]

S-Bahnchaos ohne Ende! Herr Wowereit! Ich frage Sie: Wann bezieht der Senat endlich klare Position zum katastrophalen Verkehrsvertrag, zur alternativlosen Ausschrei

bung des S-Bahnbetriebs und zur fairen Entschädigungsregelung für alle Berlinerinnen und Berliner?

Die Ausgangssituation: Seit 12 Monaten andauerndes Sicherheits- und Beförderungschaos, kein belastbarer Notfallfahrplan, wechselnde tagesaktuelle Information, täglich neue Panne – vorgestern, gestern! Aktuell sind nur ca. 50 Prozent der Züge in Betrieb. Wir haben einen immensen volkswirtschaftlichen Verlust und Imageschaden für die Region Berlin-Brandenburg und einen massiven Vertrauensverlust in die Attraktivität und Leistungsfähigkeit des öffentlichen Personennahverkehrs zu beklagen.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Die Bahn gehört dem Bund, Herr Meyer!]

Wer auch immer vom Senat jetzt zum S-Bahnchaos sprechen wird – eigentlich müsste Herr Wowereit, der das Ganze zur Chefsache gemacht hat, sprechen –, wir werden heute wieder einen weiteren Beitrag zum Thema Mythenbildung bekommen: dass die Privatisierungspläne auf der Bundesebene Schuld am S-Bahnchaos sind

[Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Natürlich!]

und dass jetzt Schwarz-Gelb in der Verantwortung sei!

[Uwe Doering (Linksfraktion): Aber genau! – Zurufe von der SPD: Bravo!]

Die politische Verantwortung im Bund für das S-Bahnchaos hat drei Buchstaben: SPD!

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Das Verkehrsministerium im Bund ist von 1998 bis zum Jahr 2009 ausschließlich von SPD-Ministern geführt worden. Die politischen Vorgaben für den Umbau der Deutschen Bahn AG stammen aus der Zeit der Regierung Schröder. Damals sollte der Konzern anfangen, Monopolrenditen im Stadtbahnbereich zu erwirtschaften, und die unmittelbare Folge davon waren die überzogenen Renditeanforderungen an die S-Bahn. Schuld am S-Bahnchaos ist nicht die geplante Teilprivatisierung der Bahn, sondern mangelnder Wettbewerb.

[Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Sie reden sich die Welt schön, Herr Meyer!]

Nur als Monopolist ohne Wettbewerber und Kontrolle lässt sich ein Tochterunternehmen so leicht finanziell auspressen und kaputtoptimieren, wie es hier geschehen ist. Nur weil die SPD-Verantwortlichen im Bund weder Ahnung von Privatisierung noch von Wettbewerb hatten, konnten solche Vorgaben entstehen. Die Verantwortung für die Umsetzung dieser sklavischen Fokussierung auf den Staatsmonopolisten Deutsche Bahn AG in Berlin trägt die rot-rote Koalition.

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Die langfristige Direktvergabe des Verkehrsvertrages an die S-Bahn bis 2017 und der freiwillige Verzicht auf eine mögliche Ausschreibung der Nord-Süd-Verbindung 2008 sind klare politische Fehlentscheidungen des Senats.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Der vom Land Berlin verhandelte und mit der Deutschen Bahn AG 2004 abgeschlossene mangelhafte Verkehrsvertrag ermöglichte erst die Umsetzung der überzogenen Rendite- und Optimierungserwartungen der Deutschen Bahn zulasten von Sicherheit und Qualität der S-Bahn.

[Beifall von Klaus-Peter von Lüdeke (FDP)]

Die außerordentlich lange Laufzeit des Verkehrsvertrages mit unverhältnismäßig hohen Trassenentgelten an die Deutsche Bahn und ohne ausreichend definierte Qualitätsanforderungen und Sanktionsmöglichkeiten ging eindeutig und einseitig zulasten des Landes Berlin. Spätestens nach den Vorkommnissen des Jahres 2008 und des Januar 2009 hätte der Senat den Verkehrsvertrag fristlos kündigen müssen und mit der unmittelbaren Vorbereitung der Ausschreibung des S-Bahnnetzes in Teilstrecken beginnen müssen.

[Beifall bei der FDP]

Dass darüber in der rot-roten Koalition nachgedacht wurde und wird, hat der verkehrspolitische Sprecher Christian Gaebler am 8. Januar 2009 gegenüber der „Morgenpost“ ebenfalls bestätigt, indem er damals formulierte:

Die S-Bahn erfüllt seit Monaten die vertraglich vereinbarten Leistungen nicht. Das wird sich das Land Berlin nicht länger bieten lassen. Wenn die S-Bahn auch weiterhin den Verkehrsvertrag mit dem Land Berlin nicht erfüllt, muss man darüber nachdenken, den Vertrag zu kündigen und einen neuen Betreiber zu suchen.

[Beifall bei der FDP – Björn Jotzo (FDP): Ja!]

Richtig, Herr Gaebler – damals! Dass der Senat und die rot-rote Koalition relativ langsam arbeiten, wissen wir alle seit Jahren. Dass Sie aber über ein Jahr brauchen, um einen Erkenntnisprozess endlich zum Abschluss zu bringen, ist schon erschreckend, Herr Gaebler!

Jetzt im Januar 2010 präsentiert uns die Senatorin ihre Alternativen oder Prüfoptionen. Die erste Option – die Vergabe eines Teilnetzes im Wettbewerb ab 2017 – geht nach unserer Auffassung grundsätzlich den richtigen Weg. Aber die Vorbereitung und die Vergabeankündigung erfolgen viel zu spät. Mindestens in den letzten 12 Monaten hätten Sie hierbei schon einiges auf den Weg bringen können. Und wenn die Senatorin sagt, eine mögliche Antwort laute Wettbewerb, dann sagen wir: Nein, das ist falsch. Nicht eine mögliche Antwort ist der Wettbewerb, sondern die Antwort lautet: Wettbewerb – und zwar konsequent!

[Beifall bei der FDP]

Das heißt, nicht nur ein Teilnetz, sondern das gesamte Netz in einer geregelten Ausschreibung in sinnvollen Streckenbündeln.

Die Optionen 2 und 3 – Betrieb durch die BVG oder Erwerb der S-Bahn durch das Land Berlin – gehen wiederum in die falsche Richtung und zeigen deutlich, dass Sie nichts verstanden haben, denn Sie würden nur einen Monopolisten – die S-Bahn GmbH – durch einen anderen Monopolisten austauschen. Sie hätten dieselben Probleme und dieselben Qualitätsmängel. Gerade die BVG ist in den letzten Jahren kein Garant dafür gewesen, dass sie betriebswirtschaftlich sinnvoll funktioniert und einen zufriedenstellenden öffentlichen Personennahverkehr in Berlin bereitstellt.

[Beifall bei der FDP]

Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass der Senat immer noch lediglich Prüfoptionen vorstellt, statt eine konkrete Entscheidung zu verkünden. Der Umstand, dass Herr Wowereit die S-Bahn jetzt zu Chefsache macht, deutet zumindest darauf hin, dass die SPD selbst ebenfalls unzufrieden mit den bisherigen Leistungen von Frau Junge-Reyer ist. Herr Wowereit! Ich frage Sie: Wie lange wollen Sie noch warten? Was muss passieren, bevor Sie endlich personelle Konsequenzen ziehen? Wer soll die politische Verantwortung für dieses Desaster tragen?

[Uwe Doering (Linksfraktion): Die Bundesregierung!]

Wenn Frau Junge-Reyer nicht in der Lage ist, selbst die Konsequenz zu ziehen, Herr Wowereit, dann fordere ich Sie auf: Schicken Sie Frau Junge-Reyer endlich auf das Abstellgleis!

[Beifall bei der FDP und der CDU – Ah! von der Linksfraktion]

Neben all den Diskussionen über die Aufsicht und die eindeutige politische Verantwortung für die Fehler ist es uns heute aber ein besonderes Anliegen, mit dem vorliegenden dringlichen Antrag allen Geschädigten des S-Bahnchaos ein faires und mittelfristiges Entschädigungskonzept zu präsentieren. Da alle Berlinerinnen und Berliner und alle Besucher Berlins vom S-Bahnchaos und dessen Auswirkungen auf die ganze Stadt permanent massiv betroffen sind, muss der Senat sicherstellen, dass Entschädigungsregelungen nicht nur auf die S-Bahnkunden im engeren Sinn beschränkt bleiben. Es ist notwendig und überfällig, mit einem klaren Signal das verlorene Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Attraktivität des Berliner öffentlichen Personennahverkehrs schnell zurückzugewinnen.

Die Kernpunkte unseres Antrags sind daher zum einen, allen Dauerkarteninhabern im Tarifbereich nochmals einen weiteren Freimonat zu gewähren, und zum anderen, im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg an mindestens zwölf Wochenenden im Jahr 2010 Freifahrten für alle Berlinerinnen und Berliner zu ermöglichen. Die anfallenden Kosten hierfür hat die S-Bahn zu tragen, und der Berliner Senat hat als Vertragspartner der S-Bahn dafür Sorge zu tragen, dass diese Maßnahmen umgesetzt werden.