Protokoll der Sitzung vom 01.07.2010

[Beifall bei der FDP]

Durchlässigkeit geht, wenn man es denn kann!

Meine Damen und Herren von Rot-Rot! Sie bringen zum neuen Schuljahr eine oktroyierte Schulstrukturreform auf den Weg – ich glaube, es ist die Vierundzwanzigste seit fünf Jahren. – Herr Senator! Vergessen Sie dabei nicht das Wesentliche, nämlich den Berliner Schulkindern, den Berliner Jugendlichen die Kompetenzen zu vermitteln, die sie brauchen, um ihre Zukunft eigenverantwortlich meistern zu können. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Senftleben! – Für den Senat hat jetzt der Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung das Wort. – Bitte sehr, Herr Prof. Zöllner!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Für die Gesellschaft sind gut ausgebildete junge Menschen die Voraussetzung für Wohlstand. Doch Bildung ist weit mehr. Bildung ist für jeden Einzelnen und jede Einzelne die Voraussetzung dafür, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und beruflich erfolgreich zu sein.

[Mieke Senftleben (FDP): Ja!]

Deshalb ist Chancengleichheit ein zentrales oder das zentrale Anliegen jeder Bildungspolitik.

Der deutsche „PISA-Papst“, Herr Baumert, hat die Handlungsanweisung für ein chancengleiches Bildungssystem vor einigen Tagen in einer großen Berliner Tageszeitung aus meiner Sicht richtig ausgedrückt.

[Mieke Senftleben (FDP): Richtig!]

Hören Sie gut zu, Frau Senftleben!

[Mieke Senftleben (FDP): Ich habe das gelesen, Herr Senator!]

Um soziale und ethische Unterschiede zu verkleinern, brauchen wir eine konsequente Frühförderung und flexible, sehr unterschiedliche Hilfen in der Grund- und Sekundarschule.

[Beifall bei der SPD – [Mieke Senftleben (FDP): Habe ich je etwas anderes behauptet?]

Der zentrale Ansatzpunkt für Chancengleichheit ist mit anderen Worten die Trias: möglichst früh mehr Zeit – sprich: ganztags – und zusätzlich Ressourcen zur individuellen Förderung.

[Mieke Senftleben (FDP): Hat keiner etwas dagegen!]

Daran muss man sich messen lassen, wenn man tatsächlich Chancengleichheit ernst nimmt.

Berlin hat hier – deswegen, Herr Mutlu, könnten Sie ruhig einmal von sich aus eine solche Aktuelle Stunde beantragen – im Vergleich zu anderen Bundesländern die Weichen objektiv belegbar richtig gestellt.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Chancengleichheit muss eben von Anfang an gewährt werden. Ich will nicht alles ausführlich noch einmal aufzählen. Beleg dafür, dass wir es in Berlin gemacht haben, ist das Bildungsprogramm seit 2005, sind die Sprachlerntagebücher.

Nun hat uns die Bertelsmann-Studie im Ländervergleich – objektiv belegt – bescheinigt, dass wir bundesweit quantitativ und qualitativ Vorreiter sind.

[Mieke Senftleben (FDP): Nein! Genau nicht!]

Als Grundlagen wurden Daten aus den Jahren 2007 bis 2009 ausgewertet. Das heißt, die Verbesserungen, die gerade noch stattgefunden haben, sind darin noch nicht einmal enthalten.

Dabei ist die Höhe der Investitionen mit 4 158 Euro pro Kind die prägnanteste Zahl, aber hinter der Zahl stehen Inhalte. Wenn Sie, Frau Senftleben und Herr Mutlu, jetzt sagen, diese Zahl spielt keine Rolle mehr, dann verstehe ich Sie nicht. Denn Sie sind es doch, die sonst bei jedem anderen Thema quasi in einem pawlowschen Reflex sagen: mehr Stellen, mehr Geld! Das heißt, das ist das Symptom dafür, dass man es ernst nimmt. Am Ende der Skala bewegen sich Länder wie Schleswig-Holstein oder Niedersachsen in der Größenordnung um 2 000 Euro.

Die spannende Frage ist doch: Was verbirgt sich hinter dieser Zahl 4 100? – Es verbergen sich die objektiven inhaltlichen Belege für Chancengleichheit dahinter. 41,6 Prozent der unter Dreijährigen – das ist eine andere Situation als im Bundesgebiet mit nur 27 Prozent, das ist mehr Chancengleichheit!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Es verbirgt sich dahinter, dass der Betreuungsumfang mit über sieben Stunden weitaus größer ist als im Bundesdurchschnitt.

[Mirco Dragowski (FDP): In den letzten Jahren!]

Nein! In den letzen Jahren sind wir auch noch weiter vorn als die anderen Bundesländer, allerdings sind die auch schon in einer größeren Größenordnung, sodass es nicht wie bei den unter Dreijährigen ist.

[Christoph Meyer (FDP): Sie leiden zunehmend an Realitätsverlust!]

Berlin ist auch eines der wenigen Länder – das wird in der Diskussion vergessen, verbirgt sich aber auch hinter der Zahl 4 100 –, in dem die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Kitabereich zu 99,5 Prozent realisiert wird. Das ist gelebte Inklusion, über die andere nur sprechen!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Aber nicht nur der quantitative Ausbau spielt eine Rolle, sondern auch der qualitative. Woran, meine Damen und Herren von der Opposition, messen Sie sonst die Bemühungen einer Landesregierung? – An der Qualität, der Ausbildung und den Fähigkeiten derjenigen, die in der Kita arbeiten! Die nackten Zahlen der Studie belegen, dass wir 87,3 Prozent pädagogisches Fachpersonal haben, während es bundesweit nur 15 Prozent sind. Das ist nicht eine Größenordnung, das sind Äonen, in denen wir voran sind!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Mit den Veränderungen der Personalausstattung aus der Kitagesetzänderung sind weitere qualitative Veränderungen zu erwarten.

Dieselbe Weichenstellung findet in der Schule statt. Die größte Herausforderung im Schulsystem ist und bleibt der Zusammenhang von sozialem Hintergrund und Lernerfolg. Weil wir diese Botschaft gehört haben, gibt dieser Senat für die frühe Schulbildung mehr Geld aus als andere Bundesländer. Für jede Grundschülerin und jeden Grundschüler investieren wir 4 800 Euro gegenüber bundesweit 4 100 Euro – 20 Prozent mehr! Das ist gelebte und gehandelte Ressourcenzugabe für individuelle Förderung.

Entschuldigung, Herr Senator! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herr Abgeordneten Mutlu?

Ja, gern!

Herr Prof. Zöllner! Sie haben es selbst gesagt: Quantität ist nicht alles – unabhängig davon die Frage: Wenn denn dies alles so ist, womit erklären Sie dann die permanente Unzufriedenheit in den Kitas, bei den Erzieherinnen und Erziehern, in den Schulen, bei den Lehrerinnen und Lehrern und bei den Eltern, die sich immer wieder gezwungen sehen, sich um eine bessere Bildungspolitik in dieser Stadt zu bemühen?

[Beifall bei den Grünen]

Ich erkläre sie mir nicht zuletzt damit, dass eine sachliche Diskussion, auch über Parteigrenzen, Regierung und Opposition hinweg, offensichtlich nicht möglich ist, sondern dass man in Berlin, wenn man keine Verantwortung hat, der Versuchung erliegt zu sagen, durch mehr Ressourcen würde alles automatisch besser werden. Das ist ein großer Fehler!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Zuruf von Özcan Mutlu (Grüne)]

Inzwischen haben wir ein flächendeckendes Angebot – und zwar zu 100 Prozent – von Ganztagsschulen im Grundschulbereich. Das ist Chancengleichheit. Wir wissen alle, dass die Aufgabe, Menschen – nicht nur nichtdeutscher Herkunftssprache – in die Gesellschaft zu integrieren, nur durch mehr Zeit möglich ist. Bundesweit sind es 37 Prozent. Das ist das Dreifache. Auch bei der gebundenen Ganztagsschule im Grundschulbereich liegt das bundesweite Verhältnis bei 10 Prozent zu 1 Prozent. Das zeigt, dass wir gehandelt haben.

Mit der alternativlosen Schulstrukturreform bauen wir zudem alle integrierten Sekundarschulen zu Ganztagsschulen aus. Und das geht – anders als es die unsachliche Mär der CDU besagt – nicht auf Kosten des Gymnasiums, sondern wir geben als erste den Gymnasien wieder eine Entwicklungsperspektive, indem wir zum Beispiel auch dort ein Ganztagsangebot anbieten wollen.

Die Schulstrukturreform gibt endlich eine Antwort auf die Probleme der Hauptschulen. Das selektive Schulsystem wird zugunsten zweier gleichwertiger, aber nicht identischer Schularten umgestellt, die beide das Erreichen aller Schulabschlüsse bis hin zum Abitur ermöglichen. Das ist Chancengleichheit. Das bisherige Schulsystem erzeugt Ungerechtigkeiten und persönliche Misserfolge für die Kinder und ihre Eltern. Die neue Schulstruktur hingegen unterstützt die optimale individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Die neue Schulstruktur gewährleistet Chancengleichheit und ist ohne Zweifel das durchlässigste Schulsystem Deutschlands.

Aber auch wenn wir die Weichen richtig gestellt haben, können wir mit den Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler nicht zufrieden sein. Das hat uns der letzte Ländervergleich – orientiert an den Bildungsstandards der KMK – in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch gezeigt. Auch wenn wir in Englisch bei genauerer Betrachtung im Mittelfeld und im Französischen sogar an der Spitze der Bundesländer liegen, lohnt sich ein Blick auf die Details. Berlin hat – im Gegensatz zu dem, was gesagt wurde – keine Probleme mit den Leistungen der Gymnasien. Hier stehen wir bundesweit gut da. Das ist umso bemerkenswerter, als in Berlin rund 40 Prozent eines Jahrgangs das Gymnasium besuchen, während es in Bayern beispielsweise nur 30 Prozent sind. Es bedarf keiner besonderen mathematischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass das letztlich die Leistungen maßgeblich beeinflussen muss. Berlin macht genau das Gegenteil: Wir haben den gerechtesten Zugang zum Gymnasium. Das wurde bereits mehrfach ausgeführt. Weil gesagt wurde, Berlin habe nur schlechte Noten erhalten, will ich aus der Untersuchung zitieren:

Einzig in Berlin lässt sich nach Kontrolle der Lesekompetenz kein signifikanter Effekt der sozialen Herkunft auf den Gymnasialbesuch mehr zeigen.

Das sind Erfolge, die Sie in dem Bericht nachlesen können.

Herr Prof. Zöllner! Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Senftleben?

Ja!

Mir geht es um die Durchlässigkeit, Herr Senator! Ich brachte gerade das Beispiel Baden-Württemberg. Sie sagten, dass in Berlin 40 Prozent Abitur machen. Ist es nicht aber egal, auf welchem Weg man das Abitur erreicht und die Hochschulreife erlangt? In Baden-Württemberg liegt die Studienberechtigtenquote bei 48 Prozent, die nicht ausschließlich auf dem Gymnasium erlangt wird – das ist mir klar –, sondern auch an den Berufsoberschulen. Dort führt also noch ein anderer weg zur Hochschulreife. Das ist zu respektieren. Ich halte das für einen guten Weg, den Baden-Württemberg da geht.