Protocol of the Session on June 23, 2011

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Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 85. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie alle, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Mir ist gesagt worden, dass heute Mütter der Kita Waldemar aus Kreuzberg auf der Tribüne sind, die ich ganz herzlich begrüße. – Herzlich willkommen im Berliner Abgeordnetenhaus!

[Beifall]

Dann habe ich Geschäftliches mitzuteilen. Die Fraktion der FDP zieht den Antrag „Das Promotionsrecht muss bei den Universitäten verbleiben“ Drucksache 16/1156 zurück. Der Antrag wurde in der 24. Sitzung am 14. Februar 2008 an den Ausschuss für Wissenschaft und Forschung überwiesen.

Herr Zeitz! Sie werden heute zum letzten Mal in dem bisherigen Amt als Beauftragter der Evangelischen Kirche bei den Ländern Berlin und Brandenburg an dieser Sitzung teilnehmen. Ich hoffe, Sie werden sonst auch noch kommen! Sie sind dazu herzlich eingeladen. Aber Sie haben heute zum letzten Mal die Andacht vor der Plenarsitzung gefeiert. Über viele Jahre haben Sie den Kontakt zwischen der Evangelischen Kirche – den Kirchen generell – und unserem Haus und der Politik gehalten. Sie waren in vielem Rat- und Hinweisgeber. Manchmal haben wir auch miteinander gestritten, das hat es auch gegeben. Die Andachten haben unsere Sitzungen immer bereichert, und Sie haben bei der Enthüllung des Weihnachtsbaumes vor dem Abgeordnetenhaus mit dem evangelischen Posaunenchor für die richtige Umrahmung gesorgt. In der Adventszeit, bei der letzten Plenarsitzung eines jeden Jahres, haben Sie in unserem Foyer ein vorweihnachtliches Konzert geben, was auch sehr eindrucksvoll war und uns bereichert hat. In den letzten beiden Jahren haben Sie sogar mit einem Stand am „Tag der offenen Tür“ teilgenommen und dort erklärt, was im Andachtsraum stattfindet.

Lieber Herr Zeitz! Für die intensive Arbeit und den guten Kontakt, den wir wechselseitig hatten, danken wir Ihnen! Im Namen der Kolleginnen und Kollegen möchte ich Ihnen alles Gute für den Ruhestand wünschen, aber wir wissen, wie das bei den Pfarrern ist: Hinterher machst du vielleicht nicht ganz die gleiche Arbeit, aber für die Hälfte oder drei Viertel des Geldes. In diesem Sinne alle Gute für den Ruhestand! Vielen herzlichen Dank für die geleistete Arbeit! Alles Gute! Gute Gesundheit!

[Anhaltender allgemeiner Beifall]

Dann geht es weiter mit den vorliegenden fünf Anträgen auf Durchführung einer Aktuellen Stunde:

1. Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Berlin ist Hauptstadt der Integration – 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „10 Jahre Rot-Rot – es reicht! Damit Berlin seine Kraft endlich voll entfalten kann, muss sich vieles ändern!“,

3. Antrag der Fraktion der Grünen zum Thema: „Aktenzeichen XY Junge-Reyer – Transparenz und Kontrolle wieder einmal Fehlanzeige“,

4. Antrag der Linksfraktion zum Thema: „Berlin ist Hauptstadt der Integration – 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“,

5. Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Hurra, die Touristen kommen! Einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren Berlins darf nicht durch Anti-Gentrifizierungsdebatten, intolerante Veränderungsfeindlichkeit und zusätzliche Übernachtungssteuern gefährdet werden.“.

Zur Begründung der Aktualität erteile ich zunächst einem Mitglied der Fraktion der SPD das Wort. – Frau Kollegin Radziwill hat das Wort zur Begründung der Aktualität. – Bitte schön, Frau Radziwill!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen – dieser Satz von Max Frisch prägte wie kein anderer die Migrationsgeschichte in Berlin und Deutschland. Seit 1955 haben wir angeworbene Gastarbeiter. Zuerst kamen Italiener, dann Spanier, Griechen, 1961 kamen sie aus der Türkei, und aus anderen Ländern folgen weitere Gastarbeiter. Sie, ihre Kinder und Kindeskinder haben mit ihrer Arbeitskraft, ihrer Lebensleistung Berlin und Deutschland weitergebracht, die Wirtschaft in diesem Land gestärkt, sie mit aufgebaut. Gerade die Gastarbeitergeneration hat körperlich schwere Arbeit geleistet und dieses Land mitgestaltet und aufgebaut. Dafür wollen wir heute danken!

[Beifall bei der SPD, den Grünen und der Linksfraktion]

Berlins Stärke ist seine Vielfalt, seine Weltoffenheit, seine Internationalität.

[Thomas Birk (Grüne): Siehe Sarrazin!]

Zurzeit leben in Berlin 870 000 Menschen mit Migrationshintergrund. Millionenfach ist also Integration gelungen. Auch das muss gewürdigt werden. Die Kinder der Bauern aus Anatolien und anderen Regionen der Welt haben hier eine Mittelschicht aufgebaut. Sie sind vielfach Unternehmer, Arbeitgeber, bilden aus, sind Leistungsträger in dieser Gesellschaft. Sie tragen Verantwortung. Auch das wollen wir heute würdigen.

In der Integration läuft sicherlich nicht alles ganz rund. Wir haben gemeinsam noch einiges an diesen Problemen zu arbeiten, und gemeinsam – das ist mir sehr wichtig – gelingt es, daran zu arbeiten und Lösungen zu finden. Soziale Integration ist daher wichtig. Das bedeutet, dass

wir Hilfestellung allen Berlinern und Berlinerinnen anbieten, die sie brauchen, und das egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

Berlin setzt in der Integration Maßstäbe. Auch das wollen wir heute würdigen und betrachten. Anschließend an die beiden Integrationskonzepte der Kampagne „Berlin braucht dich“ haben wir als erstes Bundesland seit Januar dieses Jahres das Integrations- und Partizipationsgesetz und auch – ganz wichtig – eine Schulstrukturreform zur Unterstützung der Integration vorangebracht. Das muss auch gewürdigt werden!

Im Einwanderungsland Deutschland müssen wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Darüber können wir heute debattieren. Der Weg, Zuwanderung allein den Wünschen der Wirtschaft folgend zu organisieren, ist ein falscher, das haben wir aus den Erfahrungen der vergangenen Jahren lernen können. Daher müssen wir uns Gedanken machen, wie wir zukünftige Migration in diesem Land organisieren wollen. Gerade integrierte und gut ausgebildete Kinder von Gastarbeitern verlassen in den letzten Jahren dieses Land. Wir müssen uns fragen, warum. Ein Grund liegt in der mangelhaften Anerkennungskultur, und auch die Anerkennung mitgebrachter Abschlüsse dauert viel zu lange. Viele sind aus rechtlichen Gründen gehindert, am Arbeitsmarkt teilzunehmen. Die Umsetzung läuft halbherzig und braucht zu lange – auch das müssen wir kritisieren und ändern.

Eine Willkommenskultur müssen wir ernsthaft, aus vollem Herzen und glaubwürdig vermitteln. Ohne diese werden wir zukünftige Integrationsprobleme nicht lösen und auch aus weiteren Teilen der Welt keine hochqualifizierten Fachkräfte anwerben können.

Im Vorfeld der Wahlen möchte ich einen Appell an Sie richten: Unser Einwanderungsland braucht Zuwanderung, unser Einwanderungsland hat sehr gut ausgebildete Gastarbeiter, und sie tragen hier Verantwortung. Es steht uns nicht gut zu Gesicht, populistische Töne anzuschlagen und Ängste – wie Überfremdungsängste – zu schüren und hochzuspielen.

[Beifall bei der SPD, den Grünen und der Linksfraktion]

Es steht uns aber gut zu Gesicht, die Lebensleistungen der Gastarbeiter anzuerkennen, gemeinsam an dem Problem zu arbeiten und anzuerkennen, dass sie zur Wirtschaftskraft in Deutschland viel beigetragen haben.

Zum Schluss möchte ich Ihnen einen Gruß übermitteln. Mein Großvater väterlicherseits, der Deutschland leider nie gesehen hat, hat seine Briefe immer mit folgendem Satz beendet: „Und grüßt mir bitte meine deutschen Freunde.“ Die Verbundenheit zwischen Deutschland und der Türkei ist historisch, und sie währt länger als die 50 Jahre Gastarbeitergeschichte. Diese Gastarbeitergeschichte aber hat dieses Land geprägt, sie hat es stark gemacht, und wer will sich schon den Onkel-AhmetGemüseladen aus seinem Viertel wegdenken – Tante

Emma-Läden haben wir kaum noch. Daran zeigt sich, dass die Gastarbeitergeneration viele gute Spuren hinterlassen hat. Aus Arbeitskräften sind Berlinerinnen und Berliner geworden. Dafür sagen wir heute Dank, und auf Türkisch heißt das: Berlin birinci nesile, sizlere teşekkür ediyor. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der SPD, den Grünen und der Linksfraktion]

Danke schön, Frau Kollegin Radziwill! – Für die CDUFraktion hat nunmehr der Kollege Henkel, der Fraktionsvorsitzende, das Wort. – Bitte schön, Herr Henkel!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Donnerstag hat sich der Regierende Bürgermeister im Berliner Abgeordnetenhaus von alten Weggefährten für seine Amtszeit feiern lassen. Es sei ihm gegönnt, dass er diese Anlässe mitnimmt, solange es noch geht. Meine Fraktion und ich sind aber der festen Überzeugung, dass die Bilanz seiner Arbeit nicht in den Festsaal gehört, sondern in den Plenarsaal.

[Beifall bei der CDU, den Grünen und der FDP]

Wir wollen darüber debattieren, warum Berlin in den vergangenen Jahren unter seinen Möglichkeiten geblieben ist – bei der Wirtschaft, bei der Bildung, bei der Sicherheit und auch bei der sozialen Entwicklung. Lassen Sie uns darüber reden, warum Berlin in den letzten zehn Jahren bei der Arbeitslosenquote vom 12. auf den 16. und damit letzten Platz abgerutscht ist. Rot-Rot kann die Entwicklung in Berlin noch so oft als Jobwunder bezeichnen, die Realität ist, dass andere Länder härter und besser gearbeitet haben, auch die, die eine schlechtere Ausgangssituation hatten.

[Beifall bei der CDU]

Deshalb geht es uns auch nicht um die Jobs, die trotz Ihrer Politik in Berlin entstanden sind, sondern um die vielen Arbeitsplätze, die nicht hier entstanden sind wegen einer langjährigen Abkehr von neuen Industrie- und Zukunftstechnologien, wegen schlechter Rahmenbedingungen und vor allem wegen einer Investorenfeindlichkeit. Lassen Sie uns darüber reden, was vom Mentalitätswechsel, dem zentralen Rechtfertigungsprojekt dieser rot-roten Koalition, übrig geblieben ist. Die Wahrheit ist, dass die Schulden in Ihrer Regierungszeit von knapp 40 Milliarden Euro auf über 60 Milliarden Euro angestiegen sind. Das ist kein Mentalitätswechsel, das ist keine Haushaltssanierung, das ist schlicht und einfach eine Schuldenexplosion durch Rot-Rot!

[Beifall bei der CDU]

Es gehört auch zur Wahrheit, dass wir im Parlament seit Jahren über Filz und Parteibuchwirtschaft reden, über Treberhilfe, HOWOGATE und Tempodromaffäre. Das alles ist Ausdruck einer Regierungspartei, die mental vor

zehn Jahren stehen geblieben ist und sich kein bisschen verändert hat.

[Beifall bei der CDU – Uwe Doering (Linksfraktion): Wer spricht da gerade?]

Lassen Sie uns auch darüber reden, warum in Berlin die Chancen junger Menschen konsequent verspielt werden, warum der wichtigste Rohstoff, den wir haben, einfach nicht gefördert wird.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Rohstoff!]

Über 20 Bildungsreformen, die auf Zwang gesetzt haben, auf einen ständigen Umbau der Strukturen, haben die Schulen überfordert. Lehrermangel, Unterrichtsausfall und Notstundenpläne – das bestimmt heute den Bildungsalltag an Berlins Schulen!

[Beifall bei der CDU]

Angesichts dieser Bilanz ist es kein Wunder, dass die SPD im Wahlkampf bei der Auswahl ihrer Schwerpunkte von Bildung nichts mehr wissen will. Die Lehrer aber, die Brandbriefe schreiben und auf die Straße gehen, die Eltern und Schüler, die diese Zustände zum Verzweifeln bringen, die wollen sehr wohl etwas davon wissen, und vor diesen Menschen werden Sie sich und Ihre Politik verantworten müssen.

Vielleicht fragt sich Herr Wowereit selbst gelegentlich, was von seiner Amtszeit überdauern wird, was bleiben wird. In der ersten Legislaturperiode hat er der Stadt durchaus seinen Stempel aufgedrückt – wie immer man auch dazu stehen mag. Nach 2006 haben wir ein völliges Desinteresse an den Zuständen unserer Stadt erlebt, eine Taten- und Ideenlosigkeit, die ihresgleichen sucht.

[Beifall bei der CDU]

Ja, es ist dem Regierenden Bürgermeister nicht gelungen, die Attraktivität unserer Stadt zu verspielen, aber er hat es versäumt, dazu beizutragen, dass diese Attraktivität künftig bewahrt werden kann.

[Zuruf von Dr. Andreas Köhler (SPD)]

Viele Dinge funktionieren heute nicht mehr, die Normalität ist an vielen Stellen verloren gegangen, an den Schulen, bei der S-Bahn, in Kiezen, die mit steigenden Mieten, Verwahrlosung, Gewalt und zunehmender linker Intoleranz zu kämpfen haben. Diese Vernachlässigung werden wir mit jedem Tag, an dem wir nicht gegensteuern, immer teurer bezahlen müssen. Es muss sich vieles ändern, damit Berlin so attraktiv bleiben kann wie heute.