Dieser Senat hat aber auch lange nichts mehr richtig gemacht. Klaus Wowereit ist 2001 mit dem Anspruch angetreten, Antworten auf die Fragen zu haben, die sich damals stellten. So offensiv, wie er sich zu der Zeit gegeben hat, so ratlos erleben wir ihn heute. Es gibt neue Fragen,
mit denen sich dieser Regierende Bürgermeister nicht beschäftigt, es gibt neue Fragen, mit denen er nicht Schritt halten kann.
Wie stemmt sich Berlin gegen die zunehmende Verwahrlosung? Wie begegnen wir der brutalen Gewalt im öffentlichen Nahverkehr? Wie begegnen wir der wachsenden Lebensstildiktatur in einigen Kiezen?
Hinzu kommt die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass unsere Schulen endlich wieder funktionieren. Wie können wir dafür sorgen, dass Infrastruktur endlich wieder als Chance wahrgenommen wird und nicht als Problem? – Das sind Themen, die heute im Jahr 2011 anstehen, das sind die Themen, auf die Sie keine Antwort haben, und das ist letztlich ein Problem für unsere Stadt. Darüber sollten wir reden, am besten im Rahmen einer Aktuellen Stunde. – Herzlichen Dank!
Danke schön, Herr Kollege Henkel! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nunmehr der Kollege Esser das Wort. – Bitte schön, Herr Esser!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir schlagen Ihnen heute vor, über den HOWOGE-Skandal zu sprechen,
Es sollte aber unser aller Anliegen sein zu diskutieren, wie Berlin den schädlichen Ruf als Hauptstadt von Filz und Korruption los wird.
Davon ist leider viel öfter die Rede als von Ihrem Titel „Hauptstadt der Integration“, der schön wäre, den wir uns aber erst noch erwerben müssen.
Den Titel „Hauptstadt von Filz und Korruption“ wären wir gerne los, denn dieser Ruf ist leider nicht ganz unbegründet, Herr Brauer! Die Ursachen abzustellen, schafft man nur durch rückhaltlose Aufklärung und daraus folgende Konsequenzen in der Regierungspraxis.
Dieser fragwürdige Titel einer Filzhauptstadt verfolgt unsere Stadt schon ungefähr so lange, wie Sie, Meine Damen und Herren von der SPD, hier in Berlin regieren, und das sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs alles in allem fast 58 Jahre.
Und 58 Jahre, das ist eine sehr lange Zeit, in der Berlin wunderschöne, aber auch äußerst schlimme Jahre erlebt hat. Die Zeitläufe waren immer verschieden, aber eines blieb sich immer gleich, eine Konstante gab es leider in der ganzen Zeit: die Bauskandale. Und der Genossenfilz bei der HOWOGE ist im Augenblick nur das letzte Ereignis in dieser Kette, die einfach nicht abreißen will, seit Sie hier regieren, Meine Damen und Herren von der SPD!
Letzte Woche ist der Persilschein geplatzt, den sich die verantwortliche Bausenatorin Junge-Reyer selbst ausgestellt hatte. Frau Junge-Reyer – so stellen wir fest – hat uns verschwiegen, dass ihr schon damals bekannt war, dass der Vorstand der HOWOGE die Fragen von Vergaberecht und Vergabepraxis ganz anders sah als sie und dass er ihr das auch deutlich gemacht hat. Sie hat uns verschwiegen, dass der Vorstand der HOWOGE auch in den Folgejahren immer wieder die Rechtsauffassung der Senatorin nicht geteilt hat und an seiner eigenwilligen Vergabepraxis festzuhalten gedachte.
Und welche Konsequenzen hat Frau Junge-Reyer aus ihrer Kontroverse mit dem Vorstand der HOWOGE gezogen?
Wurden die unbotmäßigen Geschäftsführer ausgewechselt? – Wieder nein! – Das alles geschah erst vor einigen Monaten, als es unvermeidlich wurde, als herauskam, dass die SPD-Genossen Adam und Kirschner in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführer der HOWOGE dem SPDAbgeordneten Hillenberg in seiner Eigenschaft als Bauplaner jahrelang die Aufträge unter Umgehung von Recht und Gesetz zugeschanzt haben. Heute will auf der Regierungsseite davon keiner mehr etwas gewusst oder gemerkt haben. Da werden Erinnerungslücken reklamiert, wohin man schaut, als sei das gesamte Regierungslager von Helmut Kohls sprichwörtlich gewordenem BlackoutSyndrom heimgesucht worden. Einzig der frühere Finanzsenator Sarrazin macht keinen Hehl daraus, dass er von der intensiven Geschäftsbeziehung zwischen HOWOGE und dem SPD-Abgeordneten Hillenberg gewusst hat, die rechtswidrige Vergabepraxis der HOWOGE gekannt und gebilligt hat. Und zur Ahnungslosigkeit seiner Senatskol
legin Junge-Reyer stellt er lakonisch fest – ich zitiere aus der Zeitung –: Jeder verfügte über einen dicken Ordner. Den konnte er lesen oder auch nicht.
Wem soll man also in Sachen HOWOGE heute glauben? – Ehrlich gesagt: Ich glaube am ehesten Herrn Sarrazin, denn der hat, anders als die anderen Beteiligten, am 18. September hier in Berlin keine Wahl zu verlieren.
Der Fall HOWOGE mit seiner Vetternwirtschaft bis in den Senat belegt nur aufs Neue, dass die Dauerherrschaft einer Partei höchst ungesund ist. Die Gewöhnung an Macht sorgt allzu leicht dafür, dass Einzelne, die lange in hohen Positionen sind, die Maßstäbe verlieren und glauben, über dem Recht zu stehen. Der Fall HOWOGE bestätigt das jetzt nur. Herr Wowereit ist jetzt nicht da, aber ich frage ihn trotzdem: Gilt Ihr Versprechen von 2002 noch, in der Stadt und in den eigenen Reihen einen Mentalitätswechsel durchzusetzen? – Wir bitten hier um Zustimmung zu unserem Vorschlag zur Aktuellen Stunde,
damit Herr Wowereit und die SPD ihrerseits Gelegenheit erhalten, diese Frage zu beantworten. – Danke schön!
Danke schön, Herr Kollege Esser! – Für die Linksfraktion hat nunmehr Frau Baba-Sommer das Wort zur Begründung der Aktuellen Stunde. – Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 50 Jahren begann ein neues Kapitel in der Geschichte dieses Landes. 1961 wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland unterzeichnet.
Heute leben vier Generationen Einwanderer aus der Türkei, Türken wie Kurden, in Deutschland. Sie bauten die bundesdeutsche Wirtschaft mit auf, und sie prägen heute unseren Alltag. Am Anfang stand die Forderung der bundesdeutschen Wirtschaft nach Arbeitskräften. Die Bundesregierung beschloss 1955 als vorübergehende Maßnahme die Anwerbung von Italienern. Seit 1961 kamen Menschen aus der Türkei, zumeist aus ärmeren Regionen. Viele hofften, der eigenen Not und Armut in der Türkei zu entfliehen. In ihren Augen war Deutschland ein Pa
radies, in dem Milch und Honig fließen würden. Die Realität sah jedoch anders aus. Die Arbeit, welche die sogenannten Gastarbeiter verrichten mussten, war Schwerstarbeit. Sie arbeiteten in Eisenstahlwerken oder in der Chemieindustrie. Es fehlte die Vertrautheit der Familie. Sie kannten die Sprache nicht. Sie lebten oft in Isolation. 1973 begann die Diskussion über Vor- und Nachteile der Ausländerbeschäftigung. Dies führte zu einem Anwerbestopp. 1982 beschloss die damalige rot-gelbe Bundesregierung Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr ausländischer Arbeitnehmer. Helmut Kohl verkündete offen: Die Zahl der Türken in Deutschland muss verringert werden. – Man versprach arbeitslosen Menschen aus der Türkei eine Rückkehrprämie von 10 000 DM.