Protokoll der Sitzung vom 10.09.2015

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 68. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich begrüße Sie, unsere Gäste und unsere Zuhörerinnen und Zuhörer sowie die Medienvertreter recht herzlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor Beginn der Beratungen habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen. Ich bitte Sie, sich von den Plätzen zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

Am 14. August verstarb unsere ehemalige Kollegin Ilse Roschanski. Ilse Roschanski war von 1959 bis 1971 Abgeordnete in unserem Parlament. Als Mitglied der SPDFraktion gehörte sie in den Jahren 1961 bis 1971 dem Präsidium des Abgeordnetenhauses als Schriftführerin an. Ihre politisch-parlamentarische Arbeit konzentrierte sich ansonsten auf die Gesundheitspolitik und die Haushaltspolitik.

Geboren wurde Ilse Roschanski am 5. August 1925 in Berlin. Sie absolvierte nach der Handelsschule eine Ausbildung als Verwaltungsangestellte und war nach dem Krieg als Stadtoberinspektorin in der Bezirksverwaltung des Bezirkes Schöneberg tätig. Dort – im Bezirk Schöneberg – trat sie 1946 in die SPD ein und war ab 1954 Mitglied im Kreisvorstand. 1958 nominierte sie die SPDSchöneberg als Kandidatin für das Abgeordnetenhaus im Wahlkreis 7, den sie stets direkt gewann.

Wir werden Ilse Roschanski in Ehren halten.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ein großer Berliner, der eigentlich aus Thüringen stammte, ist von uns gegangen. Am 19. August starb der Berliner Ehrenbürger Egon Bahr im Alter von 93 Jahren.

Wo stünde Berlin, wo stünde Deutschland und wo stünde Europa ohne diesen Sicherheitspolitiker, der die Macht und den Geist so virtuos und zielgerichtet für den Frieden in Europa einsetzte? Die von ihm konzipierte neue Deutschland- und Ostpolitik bildete seit den sechziger Jahren die Basis für die Entspannungspolitik in Europa. Schlussendlich hat seine Politik des „Wandels durch Annäherung“ dazu geführt, dass auch die Berliner Mauer durchlässiger wurde. Das war eine der Voraussetzungen für die friedliche Revolution im November 1989. Deutschland konnte sich wieder friedlich vereinigen.

Ursprünglich wollte Egon Bahr Musiker werden. Doch nach dem Krieg wurde er Journalist. Bekannt wurde Bahr als Chefkommentator beim RIAS Berlin von 1950 bis 1960. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt wurde

auf ihn aufmerksam und machte ihn 1960 zu seinem Senatssprecher.

Der Bau der Mauer 1961 war der Auslöser für eine lebenslange Freundschaft zwischen Willy Brandt und Egon Bahr. Aber der Bau der Mauer war ebenso der Auslöser für Gedanken über eine neue Ostpolitik, die den Kalten Krieg überwinden sollte. Grenzen sollten zunächst akzeptiert werden, um sie später abschaffen zu können.

Willy Brandt und Egon Bahr verfolgten diese neue Ostpolitik nicht nur in Berlin, sondern später auch auf der Ebene der Bundesregierung. Zunächst im Außenministerium von 1966 bis 1969, dann im Bundeskanzleramt seit 1969. Als Staatssekretär im Bundeskanzleramt führte Bahr Verhandlungen über einen Gewaltverzichtsvertrag mit der UdSSR, die als Grundlage für den 1970 abgeschlossenen „Moskauer Vertrag“ dienten.

Als Willy Brandt 1974 als Bundeskanzler zurücktrat, da hatte Egon Bahr bereits ganze Arbeit geleistet und die neue Ostpolitik vertraglich fixiert: Das Viermächteabkommen über Berlin, der Grundlagenvertrag mit der DDR, die Ostverträge mit Polen und der Tschechoslowakei waren unter Dach und Fach. Nun konnte konkret mit der DDR über Verbesserungen im deutsch-deutschen Verhältnis gesprochen werden, um die absurde Situation der deutschen Teilung für die Menschen beiderseits der Grenze abzumildern.

Die politische Arbeit Egon Bahrs wird dauerhaft mit Berlin verbunden bleiben. Bis zuletzt ist er zu uns ins Abgeordnetenhaus gekommen, um über die Ostpolitik im geteilten Deutschland zu referieren. Und auch sein persönliches Verhältnis zu Willy Brandt sprach er gerne immer wieder an.

Egon Bahr wird für uns in Berlin unvergesslich bleiben. Unsere Anteilnahme gilt seiner Ehefrau und den erwachsenen Kindern.

[Gedenkminute]

Ich danke Ihnen, dass Sie sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben haben.

Ich habe wieder Geschäftliches mitzuteilen. Am Montag ist folgender Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke und der Piratenfraktion zum Thema: „Berlin hilft den Flüchtlingen: Für ein menschliches, weltoffenes und demokratisches Berlin“

Ich werde dieses Thema für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen.

Dann möchte ich auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im Einzelfall nicht Ihre Zustimmung finden, so bitte ich um entsprechende Mitteilung.

Herr Senator Dr. Kollatz-Ahnen ist zurzeit noch entschuldigt. Er trifft gegen 13.00 Uhr ein. Grund ist die Teilnahme an der Finanzministerkonferenz. Die Entschuldigung wurde bereits im Ältestenrat zur Kenntnis gegeben.

Heute erreichte mich noch folgende zusätzliche Entschuldigung: Frau Senatorin Scheeres wird ab ca. 18.00 Uhr abwesend sein. Grund ist die Teilnahme an der Koordinierungssitzung der SPD-Minister und Ministerinnen sowie der SPD-Bundestagsfraktion zu den Themen „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ sowie „Sachstand Betreuungsgeld“.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

„Berlin hilft den Flüchtlingen: Für ein menschliches, weltoffenes und demokratisches Berlin“

(auf Antrag aller Fraktionen)

in Verbindung mit

a) Flüchtlinge willkommen heißen – Für eine nachhaltige humane Flüchtlingspolitik (I)

Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/2434

b) Flüchtlinge willkommen heißen – Für eine nachhaltige humane Flüchtlingspolitik (II)

Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/2435

c) Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Der Senat muss Versorgung, Betreuung und Unterstützung unverzüglich sicherstellen und das Kindeswohl schützen!

Dringlicher Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/2436

d) Berlin hilft – gemeinsam schaffen wir das

Dringlicher Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/2437

e) Wohnungen für Geflüchtete sichern – berlinovo in die Pflicht nehmen

Dringlicher Antrag der Piratenfraktion Drucksache 17/2438

Wird den Dringlichkeiten widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Für die Besprechung der Aktuellen Stunde bzw. die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Fraktion der SPD. – Herr Kollege Saleh, bitte schön! Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Realität überholt gerade jede Prognose der Vergangenheit. Angesichts der Herausforderung und des Umfangs der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe fallen kleinliche Kritik und Parteienprofilierung nicht mehr ins Gewicht. Das Parlament hat in der Sommerpause fraktionsübergreifend zusammengewirkt und Verantwortung übernommen. Die Demokraten sind zusammengerückt. Wir stehen zusammen bei den vordringlichen Aufgaben, Menschen, so gut es geht, unterzubringen, sie zu versorgen und die Kinder und Jugendlichen zu beschulen.

Die Berlinerinnen und Berliner haben geholfen, und sie helfen weiter. Von der deutschen Hauptstadt geht das Signal aus: Wir nehmen die Herausforderung an, wir haben den Mut zur Menschlichkeit, und deshalb bin ich stolz auf Deutschland und auf Berlin.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Aber die Herausforderung, von der ich rede, ist die Integration der neu ankommenden Menschen und deren nachkommenden Familien. Machen wir uns nichts vor, und seien wir weiter mutig! Deshalb sage ich: Deutschland wird sich verändern. Europa steht vor einer echten Bewährungsprobe.

Der Senat und vor allem der Regierende Bürgermeister Michael Müller haben auf die neue Flüchtlingssituation der letzten Tage entschlossen reagiert, und das verdient unseren Dank.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Und das Parlament ist seiner Verantwortung nachgekommen, indem es nicht auf manchen Kontroll- und Steuerungsrechten bestanden hat und besteht.

Die SPD-Fraktion ist offen für zeitlich befristete und parlamentarisch kontrollierte Durchgriffsrechte, z. B. gegenüber den Bezirken. Wir lassen zu, verschiedene Vergabenormen nicht durchgreifen zu lassen. Und wir werden mit niemandem mehr kurzsichtige Unterbringungsdebatten führen – ob nun im Bezirk A oder im Bezirk B, ob nun im ICC, Flughafen Tempelhof, Rathaus

(Präsident Ralf Wieland)

Friedenau oder der alten Landesbankzentrale. Wir werden sie alle brauchen und alle voll ziehen.