Protokoll der Sitzung vom 12.11.2015

Ich verschließe nicht die Augen vor den Problemen, vor denen wir stehen. Von Tag zu Tag wird es schwieriger, und ich glaube, die Sorgen vieler Menschen nehmen auch deshalb zu, weil sie eben auch die Veränderung spüren, die es inzwischen durch den Flüchtlingszustrom in unserer Stadt gibt. Aber ich glaube, wir müssen an dieser Stelle deutlich und ehrlich sagen: Dieser Zustrom wird in den nächsten Monaten mindestens anhalten, und es wird

keine schnellen Lösungen geben. – Ich will an dieser Stelle für mich ganz klar sagen, dass ich es inzwischen beinah unerträglich finde, wenn Politiker, vielleicht kann man sagen aller Parteien, den Eindruck erwecken, sie hätten die schnelle Lösung – und das dann natürlich auch ganz schnell kommunizieren. Und wenn dann die gleichen Politiker 48 Stunden später sagen, na ja, Sie haben über ihren eigenen Vorschlag noch mal nachgedacht, und es ist jetzt deutlich geworden, der lässt sich doch nicht so umsetzen –, dann ist es dieses politische Handeln, das zu Politikverdrossenheit führt.

[Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU, der LINKEN und den PIRATEN]

Und ich glaube, wir müssen aufräumen mit einigen Dingen, die da immer wieder diskutiert und vorangestellt werden: Welche Grenzen will man eigentlich zumachen? Es gibt keine Grenzen um Deutschland, die man zumachen kann, und keine Schlagbäume, die man runterlassen kann.

[Beifall von Martin Delius (PIRATEN)]

Wie kann man sich eigentlich in der Situation, in der wir uns befinden, besoffen reden am Instrument der Abschiebung? Nur damit das klar ist: Es muss und es wird Abschiebungen geben. Ja, natürlich, das gehört auch mit dazu.

[Heidi Kosche (GRÜNE): 30 Prozent?]

Aber wenn wir die Zahl der Abschiebungen z. B. verdreifachen würden in Berlin, von 100 auf 300, dann können wir damit immer noch nicht die Probleme lösen, vor denen wir hier stehen, weil dann immer noch 14 700 Menschen pro Monat gekommen sind. Und ich glaube, das muss man deutlich sagen, dass das kein Instrument ist, was uns in unserer Situation weiterhilft.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Vielleicht sollte man, was ja auch diskutiert wird, viel stärker über die Rückkehrhilfen nachdenken: Wie man dieses Instrument schärfen kann, damit Menschen, die hier nicht dauerhaft eine Perspektive haben, auch in ihr Land zurückkehren. – Oder es wird über die Balkanstaaten geredet, für die man jetzt schnelle Lösungen braucht. Im Mai dieses Jahres waren 40 Prozent der Asylsuchenden in unserer Stadt aus den Balkanstaaten. Jetzt sind es 4 Prozent. Auch an dieser Stelle muss man klar sagen, dass das nicht unser großes Problem ist. Man muss auch darüber reden, aber man muss es einordnen – den Stellenwert, den diese Frage hat. Das ist mir wichtig.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Und ich will an dieser Stelle zumindest für mich noch etwas klarstellen: Ja, wir sind in einer schwierigen Situation! Aber nur, weil wir sechs Monate jetzt in einer schwierigen Situation sind, bin ich nicht bereit, alles

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

aufzugeben, wofür wir Jahrzehnte gekämpft haben: nämlich z. B. offene Grenzen in Europa oder das individuelle Asylrecht.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es werden weiterhin viele Tausend Menschen in unser Land und in unsere Stadt kommen, und ich sage es klar: Ich will auch weiterhin helfen. Damit da keine Missverständnisse aufkommen – auch das will ich dann aussprechen: Wenn wir helfen wollen, wenn wir vor allen Dingen denjenigen helfen wollen, die aus Kriegsgebieten zu uns kommen, dann muss man eben auch helfen können, und man muss dann auch sagen: Wir werden nicht allen helfen können. Und es ist auch nötig, dass es natürlich weitere Gespräche hin zu einer echten internationalen Solidarität gibt. Es ist nicht hinzunehmen, dass einige europäische Staaten sagen: Europa ist gut und schön in den Zeiten, wo es etwas zu verteilen gibt – nämlich europäische Hilfen –, und in den Zeiten, wo es um Solidarität geht, in schwierigen Zeiten, haben wir mit Europa nichts zu tun.

[Allgemeiner Beifall]

Darüber muss gesprochen werden, genauso wie über schnelle Verfahren oder eben auch das Instrument der Abschiebung in der richtigen Einordnung – schon im Interesse auch der Menschen, die zu uns kommen, denen man klar sagen muss, welche Perspektive sie haben. Es ist doch für die Betroffenen selbst unerträglich, wenn sie möglicherweise über Jahre hier sind und dann erst erfahren, dass sie nicht dauerhaft hier sein werden. Deswegen allein sind schon schnelle Verfahren und schnelle Entscheidungen nötig.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Und ich sage auch, dass es hier richtig ist, dass wir in Bezug auf Registrierungen eindeutige Verfahren haben und dass nur derjenige, der auch bereit ist, sich registrieren zu lassen, eine Leistung in Anspruch nehmen kann.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Hier gibt es nach wie vor viel Verantwortung, die der Bund übernehmen muss, und ich rede ausdrücklich nicht nur über Geld und Personal, sondern eben auch über Strukturen und Verfahren. Aber ich sage auch: Auch wir müssen besser werden. – Ich kenne die Rollen im Parlament; ich bin 20 Jahre Abgeordneter, und ich weiß, was wahrscheinlich heute auch wieder passieren wird, dass einige von Ihnen nach vorne gehen und sagen: Das ist ja alles gut und schön. Aber Sie sind doch die Regierung; Sie sind doch gewählt! Nun machen Sie doch!

[Zuruf von den PIRATEN: Ja!]

Genau! Sie haben recht: Wir sind die gewählte Regierung, und wir sind in einer besonderen Verantwortung. Ich sage aber noch etwas dazu: Ich glaube, dass viele

Menschen sagen, hier ist die Politik gefordert. Wir gemeinsam sind gefordert, mit dieser schwierigen Situation umzugehen, und deswegen bitte ich Sie um etwas: Ich bitte Sie – alle Fraktionen in diesem Haus – um die politische Unterstützung für einen weiteren Mentalitätswechsel.

[Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Wir hatten vor einigen Jahren den Mentalitätswechsel für Berlin in finanzpolitischen Fragen formuliert, und der war dringend nötig. Es war nötig, dass Berlin Verantwortung übernimmt und sieht, dass es sich selbst aus einer schwierigen Situation befreien kann. Ich glaube, wir sind in der Situation, wo wir einen zweiten Mentalitätswechsel brauchen, einen Mentalitätswechsel, der verbunden ist mit dem Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, der verbunden ist mit der Übernahme von mehr Verantwortung füreinander, ein Mentalitätswechsel, der auch die Verwaltung unkonventionelle Lösungen finden lässt. Wer als Erstes versucht, Verantwortung innerhalb einer Verwaltung immer nur nach unten auf den letzten Mitarbeiter in der Hierarchiekette zu delegieren, wer immer nur danach fragt, wie denn Haftungsfragen zu beantworten sind, ohne sich damit auseinanderzusetzen, wie Dinge auch mal möglich gemacht werden können, der sitzt womöglich an der falschen Stelle.

[Allgemeiner Beifall – Christopher Lauer (PIRATEN): Sagen Sie doch mal, wen Sie meinen!]

Ich glaube, es geht hier auch um Haltung und Mut, und es geht nur so, die Gegenwart zu bewältigen und die Zukunft zu gestalten.

An Aufgaben haben wir dafür keinen Mangel. Wir haben bis vor wenigen Wochen hier im Abgeordnetenhaus erbittert gestritten und gerungen um den richtigen Weg im Zusammenhang mit der sich verändernden und wachsenden Stadt. Diese Aufgaben sind alle geblieben. Dass wir für die 40 000 Menschen, die pro Jahr in unsere Stadt kommen, weitere Wohnungen brauchen, Arbeitsplätze schaffen müssen, Investitionen in unsere Stadt tätigen müssen, Mobilitäts- und Gesundheitsangebote – alles das hat weiterhin seinen Stellenwert und seine Bedeutung. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass aktuelle Probleme mit der Flüchtlingsunterbringung in Zusammenhang gebracht werden mit den Aufgaben, die zu bewältigen sind, oder dass sie sogar gegeneinander ausgespielt werden. Nein, es bleibt richtig und wichtig, in unsere Stadt zu investieren, das Personal aufzustocken, zu sehen, dass wir mit dem Wohnungsbau vorankommen!

Aber es gibt eben etwas – und das muss man jetzt klar benennen –, was uns besonders fordern wird: Denn Ende dieses Jahres werden wir 100 000 Menschen mehr in dieser Stadt sein als zu Beginn des Jahres – durch den normalen Zuzug und durch die Flüchtlinge, die gekommen sind. Es fordert uns ganz besonders, wie wir die Unterbringung für die Menschen, die zu uns kommen,

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

sicherstellen. Wir werden uns, glaube ich, auch verabschieden müssen von einigen Standards, die uns – ich vermute sogar, gemeinsam – bisher wichtig waren. Ich sage das wiederum nur ganz persönlich und für mich: Ich habe mich in den letzten Monaten einige Male korrigieren müssen. Ich habe in Senatspressekonferenzen gesessen und gesagt: Ich möchte keine Großunterbringung, sondern kleine, dezentrale Standorte, und ich möchte keine Zeltstädte! – Das finde ich im Übrigen nach wie vor richtig. Ich glaube, dass das nach wie vor der richtige Anspruch ist. Aber ich sage Ihnen heute auch: Ich habe es nicht durchhalten können, weil zu viele Menschen gekommen sind und zu viele Menschen zu schnell untergebracht werden mussten. Deswegen mussten wir uns gemeinsam korrigieren.

Ich glaube, wir sind jetzt wieder in einer Situation, wo wir deutlich machen müssen, was wir im Bereich der Unterbringung in den nächsten Monaten zu bewältigen haben. Um es klar zu sagen: Auch ich möchte keine Turnhallen in den Bezirken belegen – wer von uns will das schon? Wir wissen alle, was das für die Schulen, für die Kinder, für die Quartiere, für die Nachbarschaften bedeutet; ich will es nicht. Aber ich will Ihnen sagen, vor welchen Problemen wir stehen: Gestern waren Bezirksbürgermeister bei mir, und die haben gesagt: Hör doch auf mit dem Quatsch mit den Turnhallen! Nutz doch erst mal alle anderen Möglichkeiten! Wir haben euch auf der Landesebene gemeinsam, alle 12 Bezirke, 48 Unterbringungsmöglichkeiten genannt. Nutzt doch erst mal die! – Wenn wir die 48 Unterbringungsmöglichkeiten, wohlwollend gerechnet, ab sofort, ab morgen mit jeweils 500 Menschen belegen – was nicht möglich sein wird; auch die Größenordnung im Übrigen nicht –, hätten wir Unterbringungsmöglichkeiten für 24 000 Menschen, eine große Hilfe. – Das ist die Größenordnung von anderthalb Monaten; innerhalb von anderthalb Monaten kommen 24 000 Menschen zu uns.

Deswegen sage ich: Es gibt kein Ausspielen mehr von Maßnahmen und Unterbringungsmöglichkeiten gegeneinander, sondern wir werden alles nutzen müssen. Ja, wir werden die großen und die kleinen Hallen nutzen müssen! Wir werden Zelte nutzen und das ICC und die Messe und im Übrigen auch Selchow. Wenn die ILA im Juni da durch ist, wird es die nächste Maßnahme sein, dass die Hallen in Selchow auch genutzt werden. Es wird so kommen, und ich kann und werde heute hier nicht versprechen, dass wir in absehbarer Zeit alle Turnhallen wieder freibekommen. Wir haben eine deutlich bessere Situation als in vielen anderen Bundesländern, wo es über Monate die Hallenbelegungen oder Zeltstädte in Hunderten-Größenordnungen schon gibt. Das haben wir bisher im Wesentlichen vermeiden können, und ich hoffe, wir können es weiterhin lange vermeiden. Ich kann nicht zusichern, dass wir nicht auch diese Möglichkeiten in den nächsten Monaten brauchen werden.

In Bezug auf Tempelhof will ich gleich sagen – weil das ja die nächste engagierte Diskussion ist, wie es denn da nun vorangeht und ob das dann alle unsere Probleme löst: Nein, es löst nicht alle unsere Probleme! Aber wir werden auch Tempelhof nutzen. Ich sage heute: Wir werden Tempelhof komplett nutzen. Nicht zwei oder drei, sondern sechs oder sieben Hangars.

[Beifall von Ole Kreins (SPD)]

Ich bin mir nicht sicher, dass es da etwas zu klatschen gibt, weil das dann eine Unterbringung für 5 000 Menschen ist. Aber wir werden sie brauchen. Wir werden sie genauso brauchen wie die mobilen, die temporären Einrichtungen am Rande des Tempelhofer Feldes. Wir werden das genauso brauchen. Alle, die da rumschwadronieren, dass das irgendein Revanchefoul ist wegen des Volksentscheids, die haben noch nicht verstanden, worum es hier geht. Wir brauchen diese Einrichtungen!

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Ich will nicht glauben, dass es tatsächlich nicht schon gute und konstruktive Gespräche mit der Initiative 100 Prozent Tempelhofer Feld gibt, die sagt, sie könne sich eine Menge vorstellen und wolle mit uns gemeinsam dieses temporäre Bauen ermöglichen, diese mobilen Einrichtungen am Rande des Feldes. Ich will nicht glauben, dass es uns nicht fraktionsübergreifend gelingt, das hier im Parlament auch einstimmig zu unterstützen, dass so etwas möglich ist.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Es muss möglich sein, dass wir auch solche Instrumente nutzen.

Natürlich kann man das eine oder andere auch noch besser organisieren und erst die eine und dann die andere Einrichtung nehmen. Aber ich sage Ihnen auch: Wir stehen vor Herausforderungen, wo auch in Zukunft nicht immer alles reibungslos klappen wird. Jeden Abend sehe ich die Meldungen, die in die Richtung gehen: Warum sind wir nicht früher informiert worden? – Ja, das frage ich mich auch, weshalb wir nicht früher informiert werden. Ich bekomme meine letzte SMS nachts um 2 Uhr und lese, dass ein Zug mit 500 Flüchtlingen Richtung Berlin gestartet ist. Wenn ich um 7 Uhr das nächste Mal draufgucke, gibt es zwei Varianten: entweder sind 320 Menschen angekommen oder 780. Das ist die Wirklichkeit, mit der wir uns auseinandersetzen: Dass sich die Situation über Nacht verändert, dass es nicht Bösartigkeit oder Unfähigkeit ist, mitunter vor Ort nicht detailliert und sofort sagen zu können, mit welcher Situation wir uns auseinandersetzen müssen. Auch wir sind getrieben von dem Zustrom, der sich über Nacht in die eine oder andere Richtung entwickelt, auf den wir reagieren müssen. Auch deswegen brauchen wir mehr und andere Möglichkeiten, flexible Kapazitäten, mit denen wir dann reagieren können.

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

Ich glaube, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung ist vieles möglich, weil wir es im Übrigen auch schaffen müssen. Wir müssen Betroffenheit überwinden. Wir haben auch schon gezeigt, dass vieles vorangeht, wenn man es will. Die Hilfe, die wir 58 000 Menschen gewähren konnten, ist nicht von allein gekommen, sondern wir haben sie gemeinsam organisiert, ausgehend von einer Klausurtagung des Senats im Januar. Wir haben dann den Koordinierungsstab eingerichtet, der als zusätzliches Instrument wichtig war, um Maßnahmen bündeln zu können, um Entscheidungssituationen herstellen zu können. Dieter Glietsch ist mit an Bord gekommen und gemeinsam mit Dirk Gerstle bildet er, glaube ich, eine gute Führungsspitze in diesen Gremien, in denen es um konkrete Umsetzung geht.

Wir haben darum gebeten, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Verwaltung freiwillig melden, um zu unterstützen. 100 wollten wir haben, 450 haben sich gemeldet, knapp 300 sind inzwischen eingesetzt. Die Immobilie in der Bundesallee ist beschlagnahmt worden,

[Steffen Zillich (LINKE): Die ist nicht beschlagnahmt worden!]

eine Immobilie, die uns hilft, die wichtig ist als Entlastung für das LAGeSo in der Turmstraße.

Ich selbst habe mit den Chefs von Charité und Vivantes gesprochen, damit wir endlich dauerhaft und in allen Unterkünften eine adäquate medizinische Versorgung haben.

Auch die Situation am LAGeSo hat sich schrittweise verbessert. Aber ich sage an dieser Stelle auch: Das, was wir im Moment erreicht haben, haben wir erreicht, weil alle zusammengearbeitet und weil alle Verwaltungen in ihrer Verantwortung mitgeholfen haben. Ich erwarte jetzt auch, dass es von der Spitze der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ausgehend endlich eine schnelle, personelle und strukturelle Veränderung im LAGeSo in der Turmstraße gibt.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]