Protokoll der Sitzung vom 28.06.2018

in Verbindung mit

lfd. Nr. 52:

Tempo 30 nicht planlos ausweiten – Testergebnisse und Wirksamkeit abwarten

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 18/1154

Den Dringlichkeiten zu Tagesordnungspunkt 6 hatten Sie bereits eingangs zugestimmt.

Ich eröffne die zweite Lesung zur Gesetzesvorlage auf Drucksache 18/0878 und schlage vor, die Einzelberatung der vier Artikel miteinander zu verbinden – und höre hierzu keinen Widerspruch. Ich rufe also auf die Überschrift und die Einleitung sowie die Artikel 1 bis 4 – Drucksache 18/0878.

Ich eröffne weiter die zweite Lesung zum Gesetzesantrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 18/1125 und schlage auch hier vor, die Einzelberatung der drei Artikel miteinander zu verbinden – und höre auch dazu keinen Widerspruch. Ich rufe also auf die Überschrift und die Einleitung sowie die Artikel I bis III – Drucksache 18/1125.

Für die Besprechung der Aktuellen Stunde und für die Beratung des Tagesordnungspunktes 6 sowie der Tagesordnungspunkte 25, 47 und 52 steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. In der Runde der Fraktionen beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und Frau Kollegin Kapek, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute legen wir den Grundstein für die Mobilität der Zukunft.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Lachen von Frank-Christian Hansel (AfD)]

Unser Mobilitätsgesetz ist nicht nur das erste deutschlandweit, sondern es ist etwas Besonderes, denn es setzt einen neuen Standard für die Berliner Verkehrsplanung. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Standard auch anderen Städten in Deutschland als Blaupause dienen wird.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Hoffentlich nicht!]

Damit ist Berlin ab heute Avantgarde,

[Lachen bei der AfD]

und dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten bedanken und hoffentlich später auch bei einem Radler gemeinsam feiern.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Seit Kriegsende wurde Berlin vor allem für das Auto geplant, deshalb trägt es heute auch den Titel „Autofreundlichste Stadt Europas“ –, völlig absurd, wenn man bedenkt, dass der Großteil der Berlinerinnen und Berliner sich eigentlich zu Fuß, mit dem Rad, Bus oder Bahn fortbewegt. Und wenn die CDU eine Gleichbehandlung der Verkehrsträger einfordert, kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Genau das tun wir hier und heute.

[Lachen bei der CDU und der AfD]

Also springen Sie über Ihren ideologischen Schatten und stimmen Sie unserem Gesetz zu!

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Erstmals denkt ein Gesetz Rad-, Fußverkehr, öffentlichen Personennahverkehr und den Wirtschaftsverkehr zusammen statt in Konkurrenz zueinander. Der öffentliche Raum wird gerecht verteilt unter Fußgängern, Radfahrern, Bus und Bahn und all denen, denen der Platz zusteht. Eine klare Verkehrsführung sorgt dafür, dass Konflikte gelöst werden, und schafft Ordnung, wo bislang Chaos herrschte.

[Zuruf von Frank-Christian Hansel (AfD)]

Berlin wird damit nicht nur lebenswerter, sondern auch sicherer, und das ist doch, was wir alle wollen.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Die Berlinerinnen und Berliner leben die Verkehrswende bereits. Deshalb haben auch 100 000 Menschen den Radentscheid unterschrieben. Sie mussten allerdings sehr lange auf Rückenwind warten. Und den geben wir Ihnen jetzt

[Frank-Christian Hansel (AfD): Im Gegensatz zu Tegel!]

mit rund 100 Millionen im Haushalt und viel mehr Personal für die Radinfrastruktur von zwei Stellen auf heute

(Präsident Ralf Wieland)

60 und bald 80 plus zwei zusätzliche Stellen für jeden Bezirk. Und finally vollendet der heutige Beschluss den Dreiklang, den wir für die Verkehrswende brauchen: Geld, Personal, rechtliche Grundlage. Jetzt liegt das Fundament für eine Verkehrspolitik, die an alle denkt, überall.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Und auf diesem Fundament müssen wir Berlin umbauen, und zwar so schnell wie möglich. Alles andere geht auf Kosten der Schwächsten. Jeden Tag werden im Berliner Straßenverkehr drei Kinder verletzt. Die tragischen Verkehrsunfälle der letzten Wochen haben erneut gezeigt: Eine falsche Verkehrspolitik kann Leben kosten.

[Stefan Evers (CDU): Da braucht ihr kein Gesetz!]

Das hat auf besonders grausame Art der Tod eines achtjährigen Jungen vor genau zwei Wochen in Spandau vor Augen geführt. Mich hat dieser Unfall nachhaltig verstört, denn exakt um dieselbe Uhrzeit bin auch ich mit meinem achtjährigen Jungen auf dem Fahrrad zur Schule gefahren. Und auch uns ist genau in dem Moment, in dem dieser andere Junge von einem tonnenschweren Lastwagen überfahren wurde, ein riesiger Laster gefährlich entgegengekommen. Und auch die Mutter des Jungen fuhr genau wie ich hinter ihrem Sohn und musste alles mit ansehen. Als kurze Zeit später diese Unfallmeldung kam, hatte ich – und nicht nur ich – sofort das Bild meines eigenen Kindes vor Augen. Auch wenn das jetzt sehr persönlich ist, aber für mich ist seitdem kein Tag vergangen, an dem ich nicht an diese Familie denken muss und an dem es mir nicht Tränen in die Augen treibt, und ich weiß, es geht hier vielen sehr ähnlich. Nichts, was wir tun, kann dieses Kind zurückbringen, und nichts, was wir sagen, kann den Schmerz lindern, aber es gibt etwas, das wir tun können und als Politik tun müssen, nämlich hier und heute das Versprechen abgeben, dass wir alles, was in unserer Macht steht, dafür tun werden, dass Berlins Straßen sicherer umgebaut werden, damit so etwas nie wieder passieren kann.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Und all denjenigen, die vielleicht heute über den Kulturkampf gegen das Auto, Klientelpolitik oder gar ideologische Verblendung sprechen wollen, denen kann ich nur empfehlen, noch einmal tief in sich zu gehen, denn ich finde es geradezu zynisch, wie man sich einen Tag nach so einem tragischen Unfall hier im Plenum hinstellen und eine Frage nach Maßnahmen gegen sogenannte Kampfradler stellen kann. Mich machen solche Fragen wütend, denn sie sind im besten Fall gedankenlos, im schlimmsten Fall sind sie herzlos, aber sie sind vor allem eines, nämlich populistisch.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Die Verwendung des Begriffs „Kampfradler“ bedient das Bild eines bösen Radfahrers, der selbst schuld ist. Das verharmlost nicht nur, dass Radfahrer im Verkehr besonders gefährdet sind, ebenso wie Fußgänger übrigens, sondern auch, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Blechschaden und einem Knochenbruch oder schlimmerem gibt. Solche Fragen können dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schaden, weil sie nämlich ein Klima fördern, in dem man mit dem Finger aufeinander zeigt

[Zuruf von Stefan Evers (CDU)]

und die Stimmung auf der Straße noch rücksichtsloser wird.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Das ist blanker Populismus, was Sie da machen! Instrumentalisierung von Opfern! Unmöglich!]

Will man das nicht, dann sollte man solche Fragen gefälligst unterlassen.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Ich sage Ihnen eines: Dieser kleine Junge war unter Garantie kein sogenannter Kampfradler, weder Helm- noch Kennzeichnungspflicht und auch keine Videokamera der Welt hätten sein Leben retten können.

[Zuruf von Heiko Melzer (CDU)]

Das hätten nur ein sicherer Radweg, eine separate Ampelschaltung und vor allem ein Abbiegeassistent vermocht.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Hypermoral ersetzt keine Politik!]

Die meisten Verkehrsopfer sind Kinder oder ältere Menschen, die zu Fuß gehen oder Rad fahren. Genau für diese Menschen ist das Berliner Mobilitätsgesetz. Es ist ein Gesetz zum Schutz der Berliner Kinder und von Menschen, die schlecht hören, sehen und laufen können, ein Gesetz für die Schwächsten auf dieser Straße. Und wenn das Klientelpolitik ist, dann bitte schön, dann mache ich aus voller Überzeugung Klientelpolitik für die Kinder in dieser Stadt.

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Frau Kollegin! Gestatten Sie zwei Zwischenfragen der Kollegen Buchholz von der AfD und Czaja von der FDP?

Nein! – Es ist nicht nur unsere Pflicht und Verantwortung, die schwächsten Verkehrsteilnehmer besser zu schützen, es ist auch Ihre, liebe Opposition! Deshalb

erwarte ich dabei auch Ihre Unterstützung. Wir alle müssen dafür sorgen, dass in Berlin jedes Kind sicher zur Schule fahren kann, auch mit dem Fahrrad.