Protokoll der Sitzung vom 01.10.2020

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 64. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich begrüße Sie, unsere Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Bildschirmen, die Zuhörerinnen und Zuhörer sowie die Medienvertreterinnen und Medienvertreter sehr herzlich. Zum Ablauf der Plenarsitzung darf ich darauf hinweisen, dass nach etwa fünf Stunden eine halbstündige Sitzungsunterbrechung zum Lüften vorgesehen ist.

Am Montag sind folgende sechs Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „30 Jahre

deutsche Einheit“

− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „30 Jahre

deutsche Einheit – unsere Geschichte ist Auftrag an den Senat: Einen statt spalten“

− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „30 Jahre

deutsche Einheit“

− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum

Thema: „30 Jahre deutsche Einheit“

− Antrag der AfD-Fraktion zum Thema: „Klarer Kurs

gegen Corona statt rot-rot-grünem Rumgeeier“

− Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Einigkeit

und Recht und Freiheit – 30 Jahre deutsche Einheit – 30 Jahre ein wiedervereintes Berlin – Zukunftschancen und Herausforderungen“

Die Fraktionen haben sich auf das Thema der CDUFraktion „30 Jahre deutsche Einheit – unsere Geschichte ist Auftrag an den Senat: Einen statt spalten“ verständigt. Somit werde ich gleich dieses Thema für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen. Die anderen Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.

Sodann verweise ich auf die Ihnen zur Verfügung gestellte Dringlichkeitsliste. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die dort verzeichneten Vorgänge unter den Tagesordnungspunkten 8, 8 A, 25 bis 27, 33 und 42 A in der heutigen Sitzung zu behandeln. Ich gehe davon aus, dass diesen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. – Widerspruch dazu höre ich nicht. Damit ist die dringliche Behandlung dieser Vorgänge beschlossen. Auch unsere heutige Tagesordnung ist damit so beschlossen.

Auf die Ihnen zur Verfügung gestellte Konsensliste darf ich ebenfalls hinweisen – und stelle fest, dass dazu kein Widerspruch erfolgt. Auch die Konsensliste ist damit so angenommen.

Ich komme dann zu den Entschuldigungen des Senats: Frau Senatorin Breitenbach ist zwischen 15 und

16.30 Uhr verhindert, da sie auf dem Bundesseniorenkongress ein Grußwort halten wird. Der Regierende Bürgermeister, Frau Bürgermeisterin Pop und Herr Bürgermeister Dr. Lederer sind ab 18.30 Uhr wegen der Verleihung des Verdienstordens des Landes Berlin abwesend. Frau Senatorin Günther kann heute gesundheitsbedingt nicht teilnehmen.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

30 Jahre deutsche Einheit – unsere Geschichte ist Auftrag an den Senat: Einen statt spalten

(auf Antrag der Fraktion der CDU)

Für die gemeinsame Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung. In der Runde der Fraktionen beginnt die Fraktion der CDU. – Herr Kollege Dregger, Sie haben das Wort!

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 30 Jahre deutsche Einheit in Freiheit erfüllen uns auch heute mit großer Dankbarkeit. Als wir beide, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, als Sie und ich im Jahre 1964 geboren wurden, – –

[Heiterkeit – Zurufe von Paul Fresdorf (FDP) und Stefan Förster (FDP)]

Ja, das haben wir gemeinsam. Ist doch schön, Gemeinsamkeiten festzustellen. Mir war es wichtig, das zu sagen. – Als wir beide geboren wurden und natürlich viele andere dieses geburtenstärksten Jahrganges der Nachkriegszeit, teilte die Berliner Mauer unsere Stadt. Es schien fast unvorstellbar, dass ein frei gewählter Abgeordneter, so wie ich jetzt hier an diesem Ort, in diesem wundervollen Parlamentsgebäude wieder reden könnte. Als ich dann am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag stand und die Glückseligkeit der Menschen in mich aufsog, habe ich dem Herrgott gedankt und gesagt: Die Geschichte hat es wirklich gut mit uns Deutschen gemeint. Ich werde dieses Erlebnis, dieses überwältigende Gefühl von Freiheit und Glückseligkeit niemals vergessen.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Vereinzelter Beifall bei der AfD]

Erinnern wir uns: Noch bis kurz vor dem Fall der Berliner Mauer wurden Menschen, die von Deutschland nach Deutschland strebten – aus der Unterdrückung in die Freiheit –, erschossen. Peter Fechter starb 1962 mit 18 Jahren, Chris Gueffroy starb 1989 mit 20 Jahren: junge Menschen mit Sehnsüchten und Zielen jäh aus dem Leben gerissen. Wir dürfen sie nicht vergessen.

[Allgemeiner Beifall]

Keine Mauer und kein Stacheldraht, kein Minenfeld und kein Schießbefehl konnten die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Gerechtigkeit dauerhaft aufhalten. Freiheit und Gerechtigkeit waren nicht nur die Sehnsüchte von Peter Fechter und Chris Gueffroy, sie waren auch die Sehnsucht der allermeisten Menschen im Berlin der Berlin-Blockade.

Am 10. Oktober, also in wenigen Tagen wird Gail Halvorsen, der legendäre Rosinenbomberpilot, 100 Jahre alt. Im letzten Jahr noch konnte ich ihn hier in Berlin in die Arme schließen. Er ist einer der Helden, die die BerlinBlockade überwanden, die Freiheit Berlins retteten und so auf wunderbare Weise ihr Herz für die Kinder unserer Stadt zeigten. Ich hoffe, im Namen von Ihnen allen sprechen zu dürfen, wenn ich Gail Halvorsen von hier aus zurufe: Danke, Gail Halvorsen, wir werden dich niemals vergessen!

[Beifall bei der CDU, der SPD, der LINKEN, der AfD und der FDP – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Erinnern wir uns an den Ruf: „Wir sind das Volk!“ – Kann man die Forderung nach demokratischer Legitimation und Rechtsstaatlichkeit besser und klarer zum Ausdruck bringen? – Dann, kurze Zeit später, der Ruf: „Wir sind ein Volk!“ – Auch dieser Ruf hat sich in uns eingebrannt; er drückte die Sehnsucht aller nach der Einheit Deutschlands aus. Dies zeigt: Die Sehnsucht der Menschen nach Einigkeit, nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist Grundlage einer menschenwürdigen Zivilisation.

Die Hunderttausenden, ja Millionen Deutsche in der DDR haben mit ihrem Mut, ihrer Friedfertigkeit und ihrer Entschlossenheit etwas geschafft, was in der gesamten Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht: Sie haben ohne Blutvergießen die Mauer, dieses Symbol der Unterdrückung, das Berlin, Deutschland, Europa, ja, die ganze Welt geteilt hat, zum Einsturz gebracht – zusammen mit den mutigen Polen um Lech Wałęsa, den mutigen Tschechen um Václav Havel, den mutigen Balten und den mutigen Ungarn, die zuerst den Eisernen Vorhang ein Stückchen geöffnet haben. Wir verneigen uns vor diesen mutigen Menschen.

[Beifall bei der CDU, der SPD, der LINKEN und der FDP – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der AfD]

Es gab noch einen Mann, den wir nicht vergessen dürfen: Er hat das Streben der Menschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit zum Ziel geführt, und das ist der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl. Er hat es gegen alle Widerstände geschafft, die deutsche Frage innenpolitisch und außenpolitisch offenzuhalten. Er hat es zudem vollbracht, die Wiedervereinigung außenpolitisch in Ost wie in West abzusichern und das Einverständnis Moskaus zu

erwirken, dass das wiedervereinigte Deutschland Teil der Europäischen Union und Teil der NATO bleiben wird. Und er hat die Wiedervereinigung Deutschlands in die Vereinigung Europas eingebettet. Das war Staatskunst und verdient höchste Anerkennung.

[Beifall bei der CDU]

Noch gibt es keinen würdigen Platz oder keine würdige Straße im Herzen der deutschen Hauptstadt, die an den Kanzler der Einheit erinnert. – Angesichts seiner unbestreitbaren Verdienste möchte ich Sie, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,

[Zuruf von Stefan Förster (FDP)]

und Sie alle, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses, herzlich bitten, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gemeinsam mit uns hierfür eine würdige Lösung zu finden.

[Beifall bei der CDU]

Die Anpassungsprozesse in den 30 Jahren nach der Wiedervereinigung waren für viele Menschen in den neuen Bundesländern und den östlichen Bezirken Berlins nicht immer einfach. Nicht selten handelte es sich um dieselben Menschen, die zuvor die Wiedervereinigung erstritten hatten, ohne zu wissen, was danach kam. Nicht immer konnten sie die Möglichkeiten der neuen Freiheiten als Verbesserung ihrer persönlichen Lebenssituation wahrnehmen. Deswegen ist es mir wichtig, dass wir auch die Leistung dieser Menschen würdigen, für die sich in ihrem Leben alles geändert hat und die bereit waren, dieses Risiko einzugehen.

So, wie wir mit Dankbarkeit auf die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zurückblicken, so müssen wir auch die Gegenwart und die Zukunft in den Blick nehmen. Nach dem einzigartigen Siegeszug von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, der in der deutschen Wiedervereinigung vor 30 Jahren gipfelte, machen sich hier in Berlin Ängste und Konflikte breit. Der gesellschaftliche Ton wird rauer: In den sozialen Netzwerken, aber auch auf unseren Straßen verbreiten sich Aggressionen und Hetze. Die gesellschaftlichen Fliehkräfte nehmen zu. Für einige dieser Konflikte gibt es politische Verantwortlichkeiten. Viele fragen sich, warum die Menschen in unserer Stadt mehr und mehr in Minderheiten kategorisiert werden und warum gegen alle Fakten Misstrauen gegen unsere rechtsstaatlichen Institutionen durch einen gesetzlich geregelten Pauschalverdacht begründet wird.

[Silke Gebel (GRÜNE): Was?]

Viele Menschen fragen sich, warum nicht stattdessen der Zusammenhalt der Menschen gestärkt wird. Viele fragen sich, warum mit unsinnigen Gesetzesinitiativen Konflikte zwischen Mietern und Vermietern erzeugt werden, anstatt mit allen Beteiligten nach gemeinsamen Wegen zu suchen. Viele Menschen fragen sich, warum das Vorgehen gegen linksextremistische Auswüchse in der Rigaer Straße 94 weit weniger konsequent ausfällt als das zurecht

klare und konsequente Vorgehen gegen rechtsextremistische Auswüchse.

Meine Damen und Herren von der Koalition! Ich möchte in den Mittelpunkt der heutigen Aktuellen Stunde nicht meine Kritik an einigen Ihrer politischen Projekte stellen,