Protokoll der Sitzung vom 19.05.2022

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Unser Anspruch als Berlin steht da: „Einwanderungs- und Zufluchtshauptstadt mit Herz.“ – Diese Worte geben unser Leitbild als Koalition wieder. Berlin macht sehr viel, aber auch in Berlin passieren Fehler, und es kommt zu Ungleichbehandlung und strukturellem Rassismus, auch durch Behördenhandeln. Daher müssen diese Worte auch Ansporn für uns alle hier sein, unseren Anspruch jeden Tag tatsächlich zu leben und für seine Umsetzung alles Erdenkliche zu tun. – Danke!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Das waren auf die Sekunde genau 10 Minuten, die erste absolute Punktlandung, seitdem ich hier oben sitze. – Als Nächstes hat für die FDP-Fraktion der Kollege Czaja das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

[Zuruf von der AfD: Berliner Ampel!]

Zu Ihnen komme ich direkt.

[Beifall von Orkan Özdemir (SPD) – Karsten Woldeit (AfD): Das ist schön!]

Denn, Frau Brinker, Sie resümieren immer gerne so schön die Geschichte dieser Stadt,

[Dr. Kristin Brinker (AfD): Ja!]

aber wissen Sie, was zur Geschichte dieser Stadt auch dazugehört? Dass in diesem Haus und in der Politik niemals mehr jemand, der Hass, Angst und Ausgrenzung auf seine politischen Fahnen schreibt, in dieser Stadt politische Verantwortung oder desgleichen hier übernehmen sollte. Niemand!

[Beifall bei der FDP, bei der SPD, den GRÜNEN, der CDU und der LINKEN – Lachen bei der AfD – Zurufe von der AfD]

Auch das ist eine Lehre aus der Geschichte unserer Stadt.

[Thorsten Weiß (AfD): Sie haben die Rede doch gar nicht gehört, Sie sind ja geflohen!]

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben alle im letzten Jahr die Einladung vom Silbertelefon bekommen und hatten die Gelegenheit, bei dem Silbertelefon, beim Silbernetz e.V. einmal vor Ort zu sein, und viele

(Elif Eralp)

von Ihnen haben das gemacht, haben Gespräche geführt, haben sich an das Telefon gesetzt und den einsamen, älteren Menschen zugehört, und es sind genau diese Menschen in unserer Stadt, die dort anrufen, wenn sie einfach mal jemand zum Reden brauchen, wenn sie einfach mal reden wollen. Diese Gespräche waren geprägt von Sorgen – damals noch Sorgen der Pandemie. Heute vermelden die engagierten Helferinnen und Helfer vom Silbertelefon, dass inzwischen jeder zweite Anruf den Krieg in der Ukraine thematisiert, und ich glaube, dass viele von Ihnen diese Gespräche kennen, aus dem Freundeskreis, aus der Familie, von den Großeltern, von den Angehörigen.

Die Bilder von Flucht und Krieg machen etwas mit den Menschen hier im Land, und es kommen vor allem alte Traumata wieder hoch. Erinnerungen an Krieg, Flucht, Vertreibung und Bombenalarm, an brutale Vergewaltigungen, über die man im Nachkriegsdeutschland lange schwieg, die aber eine ganze Generation von Frauen verstört und traumatisiert haben. Lange vergessen geglaubte oder verdrängte Erinnerungen kommen bei vielen älteren Menschen genau jetzt wieder zurück, und nicht nur sie fühlen in diesen Tagen mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, nur zwei Flugstunden von Berlin entfernt, fühlt sich so nah an, so nah wie kaum ein anderer Konflikt in den letzten Jahrzehnten.

Und weiterhin kommen jeden Tag Hunderte Geflüchtete aus der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof an, und sie werden dort von weit über hundert Menschen, von Freiwilligen vom Berlin Arrival Support empfangen, betreut und erstversorgt. Die Solidarität, die Hilfsbereitschaft, mit der die Berlinerinnen und Berliner im Ehrenamt Geflüchtete in unserer Stadt willkommen heißen, sind beeindruckend und dürfen von niemandem als selbstverständlich hingenommen werden.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Heiko Melzer (CDU)]

Deshalb möchte ich hier ausdrücklich den Dank aussprechen für all jene, die eine unglaubliche Leistung in diesen letzten Tagen in dieser Stadt erbracht haben, denn sie zeigen, wie man in schwierigen Zeiten in dieser Stadt zusammenstehen kann. Sie machen Berlin zur Zufluchtshauptstadt mit Herz. Herzlichen Dank!

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN]

Bei aller Wertschätzung, bei aller Anerkennung für das, was geleistet wird, wollen wir dennoch das eine oder andere reflektieren, was im Berliner Senat eigentlich mehr ins Machen kommen müsste, wo wir mehr erwarten als Applaus, als warme Worte, wo wir Taten erwarten. Wir reden ja nicht erst seit Kurzem über Einwanderungs-

und Flüchtlingspolitik, und hier sei mir der Hinweis gestattet: Ich glaube, wir sollten uns zum einen mit Einwanderungspolitik und zum anderen mit Flüchtlingspolitik auseinandersetzen,

[Beifall bei der FDP]

denn das sind zwei Aufgaben, das sind zwei Felder, zwei politische Herausforderungen, die wir hier in Berlin miteinander angehen müssen.

Berlin hat also nicht nur Herz, sondern Berlin steht wie kaum eine andere europäische Metropole für Weltoffenheit und Freiheit. Da sollte es doch auch selbstverständlich sein, dass wir beides in Berlin bieten, nämlich Schutz und Chancen. Trotzdem werden die Menschen, die hierherkommen, um hier zu leben und zu arbeiten, immer noch vor viele Herausforderungen gestellt. Es gibt extreme Hürden, um in dieser Stadt tatsächlich seinen Weg zu gehen oder anzukommen.

Einige Punkte: Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse bei reglementierten Abschlüssen gestaltet sich nach wie vor schwierig. Warum gut ausgebildete medizinische Fachkräfte in unserer Stadt fachfremde Tätigkeiten annehmen müssen, ist klar: Der Verwaltungsapparat ist etwas zu langsam, und hier muss dringend nachgesteuert werden, denn die Ausbildung muss schnell anerkannt werden.

[Beifall bei der FDP]

Während gleichzeitig das ganze Land über Fachkräftemangel redet, muss hier entschieden und vor allem noch besser gehandelt werden. Da darf ich noch einmal die Kolleginnen und Kollegen, die in der letzten Legislaturperiode im Petitionsausschuss saßen, an eine sehr eindrucksvolle Petition erinnern, als ein Arzt sehr umfassend beschrieb, dass er nunmehr – im Jahr 2019 – seit zwei Jahren gewartet hat, eine Anerkennung seines Abschlusses zu bekommen, um hier in dieser Stadt seinem Beruf nachgehen zu können. Das ist entschieden zu lang, hier muss mehr passieren, das muss schneller gehen, da muss eine Priorität drauf.

[Beifall bei der FDP]

Das heißt also auch für uns: Mehr Personal im LAGeSo für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Das wäre die Lösung, um hier an dieser Stelle schneller zu werden. Und nicht nur mehr Personal, sondern auch die Antragsverfahren endlich digitaler gestalten, damit wir hier vorankommen, und das separat aufbauen zu den Kapazitäten! Jetzt könnte man in Anbetracht des Standes der Digitalisierung der Berliner Verwaltung – ich glaube, von 575 Verwaltungsleistungen sind gerade mal 128 digitalisiert – sagen: Oh, meine Güte, ob das jemals Erfolg hat, das zu digitalisieren! – Ich schaue zu Iris Spranger: Wir machen Ihnen einen konkreten Vorschlag, nämlich den Vorschlag, dass Sie sich einfach der Initiative unserer Bundesbildungsministerin anschließen, die jetzt sehr deutlich ein Pilotprojekt zu Online-Antragsverfahren auf den Weg

bringen wird. Also schließen Sie sich der Bundesbildungsministerin an dieser Stelle an! Schließen Sie sich am besten gleich unserem Antrag an, den wir als Freie Demokraten hier im Parlament auf den Tisch gelegt haben. Zur Erinnerung: „Die Berliner Arbeitsmarktintegration konsequent liberal und weltoffen denken!“ Das ist ein sehr konkreter Vorschlag.

[Beifall bei der FDP – Anne Helm (LINKE): Dann ist das ja geklärt!]

Zu dem Thema „Zufluchtshauptstadt, Einwanderung und Herz“ gehört eben mehr, und deshalb möchte ich Ihr Augenmerk auf die heutige Priorität der Freien Demokraten lenken. Wir bringen einen sehr konkreten Vorschlag ein – unter der heutigen Priorität auf der Tagesordnung –, denn gerade in der Pflege fehlt es Berlin an vielen Fachkräften, und gleichzeitig kommen aktuell viele gut ausgebildete Ukrainerinnen und Ukrainer hierher. Eine Pflegefachschule, die sich speziell an Geflüchtete richtet mit begleitenden intensiven Sprachtrainings, wäre daher eine echte Win-Win-Situation und müsste umgehend angegangen werden. Wir werden dazu nachher weiter ausführen und laden Sie herzlich ein, sich dieser Initiative anzuschließen.

[Beifall bei der FDP]

Wenn wir gerade bei den Lösungen sind, die so dringend erforderlich sind, dann gucken wir auf die nächste große Herausforderung: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft rechnet für das kommende Schuljahr mit einem Mangel von 1 000 Lehrerinnen und Lehrern. Also in der Hauptstadt des Landes der Dichter und Denker kann bald vielleicht nicht mal mehr der Pflichtunterricht aufrechterhalten werden. Frau Busse, Sie dementieren das, ich weiß, aber Sie machen auch ein Geheimnis daraus, wie Sie es lösen wollen.

[Zuruf]

Doch, schon! – Jedenfalls ist es nicht der Weg, den man gehen könnte, wenn ich nämlich sehe, dass Sie gezielt auf ausländische Fachkräfte zugehen wollen, aber dann nicht einmal in der Lage sind, die Anerkennungsstelle der Bildungsverwaltung für ausländische Lehrerinnen und Lehrer aktuell länger zu öffnen. Ich habe mal nachgesehen: acht Stunden in der Woche erreichbar, ausschließlich telefonisch. Ich meine, was ist denn da los? Das geht wesentlich besser, auch mit Antragsformularen umfassender. Wenn das ein tatsächliches Problem ist, dann bitte doch richtig machen, aber nicht eine Erreichbarkeit von lediglich acht Stunden in der Woche herstellen.

[Beifall bei der FDP]

So könnten wir über viele Fragen sprechen. Wichtig ist, dass wir in dieser Stadt die tatsächlichen Herausforderungen angehen. Wir brauchen gezielte Anwerbungskampagnen. Hierzu sollten Role Models mit migrantisch geprägten Communitys viel stärker angesprochen und in Zusammenarbeit gebracht werden.

Berlin ist vor allem immer stark, auch gut bei symbolischen Akten wie dem Hissen der Regenbogenfahne am letzten Dienstag, dem Tag gegen Homophobie und Transphobie. Das ist richtig. Aber wir müssen mehr tun, als symbolische Solidarität zeigen. Jeden Tag müssen wir mehr miteinander tun, als nur symbolische Solidarität in dieser Stadt zu zeigen. Wir müssen auch konkret werden und noch gezielter gegen Diskriminierung, gegen Antisemitismus und gegen Hass in Berlin vorgehen.

[Beifall bei der FDP]

Egal, ob Menschen einwandern oder Zuflucht suchen, sie treffen auf eine bestehende Gesellschaft, und wir müssen auch als Gesellschaft offen sein für Menschen. Eine Vorverurteilung aufgrund ihres kulturellen, aufgrund ihres religiösen Hintergrunds passt nicht in die Freiheitsmetropole Berlin. Damit muss in dieser Stadt Schluss sein; das ist unser gemeinsamer politischer Auftrag.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der LINKEN]

Deshalb freue ich mich heute – Ein letzter Satz, Herr Präsident! – hier im Parlament sprechen zu können; genau in diesem Parlament sprechen zu können, in dem nicht jeder so aussieht wie ich, in dem nicht jeder den gleichen Glauben hat wie ich, in dem Männer oder Frauen sich oder einander lieben oder beides – ganz gleich, völlig egal. Das ist Vielfalt, die wir in Berlin haben. Das zeichnet Berlin aus, das ist eine weltoffene Metropole. Das ist eine Stadt mit Herz, das ist eine Freiheitsmetropole, in der wir alle leben dürfen, und wir haben die Verantwortung, sie hier gemeinsam zu gestalten für diejenigen, die hier waren, die hier sein wollen, und die auch in Zukunft hierherkommen werden. Auf diesen gemeinsamen Weg freuen wir uns mit Ihnen zusammen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN]

Vielen Dank! – Für den Senat spricht die Regierende Bürgermeisterin. – Bitte sehr, Frau Giffey!

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin! Ich will nach dieser sehr breiten Diskussion beginnen, mit einem Denkfehler – jetzt ist Frau Brinker nicht am Platz, aber trotzdem – aufzuräumen, den ich deutlich aus dieser Rede entnommen habe: Frau Brinker sprach davon, warum wir eigentlich alle hier sind. Wir vertreten die Berlinerinnen und Berliner, und aus ihrer Sicht nicht die ganze Welt. Ich kann sagen: Hier in Berlin leben Menschen aus 190 verschiedenen Nationen, aus der ganzen Welt.

(Sebastian Czaja)

[Beifall von Elif Eralp (LINKE)]