Protokoll der Sitzung vom 19.05.2022

Priorität der Fraktion der FDP

Tagesordnungspunkt 26

Die Berliner Pflege für die Zukunft vorbereiten!

Antrag der Fraktion der FDP Drucksache 19/0346

In der Beratung beginnt die Fraktion der FDP und hier der Kollege Bauschke. – Bitte schön!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche ist die Woche der pflegenden Angehörigen, und ich gestehe Ihnen: Bevor ich pflegepolitischer Sprecher meiner Fraktion wurde, hatte ich kein wirkliches Gefühl für diese Gruppe. – Mir war klar, dass Pflege auch zu Hause stattfindet. Aber dass die Anzahl der durch Angehörige zu pflegenden Menschen unter den zu Pflegenden in Berlin so groß ist – 80 Prozent werden durch Angehörige gepflegt –, hätte ich mir nicht vorstellen können. Das zeigt eins: Die Gruppe der pflegenden Angehörigen braucht mehr Öffentlichkeit, mehr Anerkennung und mehr Unterstützung.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Katina Schubert (LINKE) und Tobias Schulze (LINKE)]

Sie pflegen voll Hingabe und Liebe ihre Eltern, ihren Partner, ihre Partnerin oder im schlimmsten Fall sogar ihre Kinder. Nicht wenige von ihnen pflegen mehrere Angehörige. Die Angehörigen haben unterschiedliche

Ansprüche, unterschiedliche Einschränkungen und unterschiedliche Anforderungen.

Bei aller Hingabe der Angehörigen dürfen wir nicht vergessen, wie sehr es belastet. Man steht Tag und Nacht zur Verfügung. Man ist nicht mehr Herr der eigenen Zeit. An Urlaub oder Zeit für sich selbst ist kaum zu denken. Es belastet finanziell, emotional: ein permanenter Dauerlauf unter Stress, Angst und Sorge. – Mit einer Danksagung alleine ist es nicht getan. Wir brauchen eine kontinuierliche Wertschätzungskultur für die pflegenden Angehörigen, aber auch für alle, die berufstechnisch als Pflegekräfte oder angehende Pflegekräfte in Studium und Ausbildung sind.

Das hat ganz pragmatische Gründe, denn unser größter Gegner ist die Zeit. Der demografische Wandel, der Fachkräftemangel, die lähmende Bürokratie – all das macht die Situation nicht besser. Wir müssen heute Maßnahmen ergreifen, damit wir in Zukunft eine gute Pflege und eine sichere Pflegeversorgung haben. Dafür müssen wir landesweit denken, wir müssen bundesweit denken, aber vielleicht auch international.

Beim pflegepolitischen Dialog am Montag auf Einladung des Präsidenten dieses Hauses hat sich eines herauskristallisiert: Es gibt einen wirklichen Bürokratie- und Beratungsdschungel. – Deswegen fordern wir als FDP eine digitale Plattform, um bedarfsgerechte Koordinierung und ein Netzwerk anzubieten, für alle, die Information brauchen.

[Beifall bei der FDP]

Digitalisierung, aber nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die beruflichen Pflegekräfte. Wie schön ist es, wenn Sie die Zeit wirklich in die Pflege investieren können und nicht in Dokumentation. Weniger Zettel, mehr Pflege!

[Beifall bei der FDP]

Wir müssen die Angebotskultur ausbauen: Hausbesuche, die Seniorinnen und Senioren frühzeitige Orientierung und Teilhabe ermöglichen, Kurzzeitpflege ausbauen, Nacht- und Tagespflege ausbauen.

Klar, sowas geht nicht von heute auf morgen, aber die Koalition hier im Haus hat sich einen ambitionierten Plan vorgenommen. Wir appellieren nur: Legen Sie los, und vergessen Sie bitte auch nicht alle Gruppen, die im Bereich Pflege mit einbezogen werden müssen, Kinder, Jugendliche, Migranten, LGBTIQ-Community und natürlich auch Geflüchtete. – Wir müssen jetzt handeln.

[Beifall bei der FDP]

Besonders wichtig ist die Entlastung der beruflichen Pflegekräfte. Wenn wir uns anschauen, was Stress macht: Personalmangel, Burn-out, und neben Burn-out ist mittlerweile auch Cool-out – eine moralische Desensibilisierung, auch für mich ein neuer Begriff –, ein großes

(Sebastian Schlüsselburg)

Thema. Hier brauchen wir endlich Fakten. Wie ist die Situation in Berlin, mit was müssen wir uns als Politik beschäftigen, und wie können die Antworten lauten?

Neben der Stressbewältigung liegt es natürlich an den fehlenden Fachkräften. Hier müssen wir besser werden. Das ist uns allen klar, und wir brauchen wesentlich mehr Fachkräfte in allen Lebens- und Berufsphasen.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Tobias Schulze (LINKE)]

Die Koalitionsparteien haben in diesem Sinne für heute, glaube ich, eine Bundesratsinitiative zur Vergütung der Pflegestudierenden angemeldet, ein Vorhaben, das ich nur begrüßen kann. Die FDP hat es in der letzten Legislaturperiode schon im Deutschen Bundestag eingebracht. Es steht mittlerweile zum Glück auch auf Bundesebene im Ampelkoalitionsvertrag, und ich glaube, dem können wir alle zustimmen. Das ist eine Lücke, die damit geschlossen werden muss.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Katina Schubert (LINKE) und Tobias Schulze (LINKE)]

Aber wir müssen natürlich auch an die älteren Pflegekräfte denken: Flexibilisierung, vielleicht auch Möglichkeiten schaffen, dass sie in Schulen und anderen Institutionen für diesen Beruf werben können. – Wir müssen insgesamt an die Bedingungen der Pflege. Und ich glaube, wir dürfen die Geflüchteten und die migrantische Community nicht vergessen. Auch die müssen wir mehr an den Pflegeberuf heranführen, aber wir müssen auch gleichzeitig erkennen, dass es bedarfsgerechte Pflege braucht. Vielleicht wäre eine Pflegeschule mit gleichzeitiger Sprachausbildung, weiterer Qualifikation zur möglichen Akademisierung ein erster Schritt.

Unser Antrag ist ein Angebot an Sie alle, um beim Thema Pflege etwas voranzubringen, denn Pflege ist keine Frage der parteipolitischen Farbe, es ist eine Frage der Verantwortung für unsere Gesellschaft. Ich freue mich auf den Austausch. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank! – Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Düsterhöft das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Am letzten Montag haben meine pflegepolitischen Kolleginnen und Kollegen und ich an einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Woche der pflegenden Angehörigen teilgenommen. Eine Teilnehmerin hatte ihre 17 Jahre alte Tochter mitgebracht, die im Rollstuhl saß. Während wir über die De

tails der Pflegepolitik diskutiert haben, hat sich die Mutter um ihre Tochter gekümmert. Sie half ihr beim Essen und Trinken. Sie beruhigte sie, als sie unruhig wurde. Sie nahm sie auf den Schoß und schloss sie in ihre Arme. Ich habe die zwei tatsächlich eine ganze Weile beobachtet. Die Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit, die diese Mutter ihrer Tochter geschenkt hat, hat mich doch sehr bewegt. Seit 17 Jahren kümmert sie sich ganz selbstverständlich um ihre pflegebedürftige Tochter. Sie liebt sie so, wie sie ist, und ich glaube, sie ist trotz der körperlich äußerst anstrengenden und psychisch sehr belastenden Pflegearbeit am Ende doch ein sehr glücklicher Mensch.

Doch die Pflege von nahen Angehörigen ist nicht nur Liebe und Zuneigung. Es ist auch Überforderung, Verzweiflung und Entfremdung. In meinem Freundeskreis gibt es eine Familie, in der sich die Mutter zweier vierjähriger Kinder auch um ihren Mann kümmern muss, der an seiner Erkrankung sterben wird. Eine Pause hat sie nicht mehr. Ihre Auszeit ist der kurze Spaziergang zwischen Kita und Wohnung. Nur dank eines wirklich außergewöhnlichen Freundeskreises, dem Malteser Familienbegleitdienst und dem ambulanten Pflegedienst gelingt es ihr, nicht zu verzweifeln und unterzugehen. Mehr noch: Sie ist stark für ihre Kinder und gibt ihnen Halt, während der Papa sich langsam verabschiedet.

Pflegender Angehöriger zu sein, endet allerdings nicht mit dem Tode des nahen Angehörigen. Viel zu viel hat sich während dieser Zeit der Pflege verändert. Zu groß ist die Lücke, die gerissen wurde. Zu groß waren die Veränderungen.

Mein Freund Arthur verstarb im November 2021 an seiner Krebserkrankung. Bis es nicht mehr anders ging, war er zu Hause, und seine Frau half ihm durch den Alltag. Seine Kinder waren, trotzdem sie damals drei bzw. sechs Jahre alt waren, allein durch das Beobachten des Zustandes ihres Vaters in die Pflege involviert. Seine Frau und seine Kinder hadern selbstverständlich bis heute mit diesem Verlust. Die Kleine fragt noch immer, wann sie den Papa wieder im Hospiz besuchen kann.

Wenn wir über die Bedürfnisse von pflegenden Angehörigen diskutieren, dürfen wir die Zeit nach dem Verlust nicht vergessen. Die psychologische Begleitung und Unterstützung der gesamten Familie ist eine Aufgabe, die unter Umständen viele Jahre dauern kann und entscheidend ist.

[Beifall von Kurt Wansner (CDU)]

Ich bin der FDP tatsächlich sehr dankbar für diesen Antrag. Gemeinsam haben wir das Thema Pflege zum heutigen Schwerpunkt gemacht, ein Umstand, der mich sehr freut und der uns heute die Chance gibt, über die Situation der betroffenen Menschen zu diskutieren.

Meine drei Beispiele stehen dabei beispielhaft für Hunderttausende pflegende Angehörige in unserer Stadt.

(Tobias Bauschke)

Auch die professionelle Pflege hat Bedürfnisse, die mit Geld nicht aufgewogen werden können. So stehen meine drei Beispiele für alle Menschen, die sich für andere Menschen einsetzen und tagtäglich ihr Bestes geben, um ihre Liebsten oder Patientinnen und Patienten sowie Bewohnerinnen und Bewohner zu versorgen. Diese Berlinerinnen und Berliner haben es tatsächlich verdient, dass wir uns gemeinsam, unabhängig von parteipolitischen Spielchen, darüber austauschen, wie wir die Situation von pflegenden Angehörigen, professionellen Pflegekräften und nicht zuletzt den Pflegebedürftigen selbst verbessern können. Diesen Menschen signalisieren wir heute, dass wir uns um sie und ihre Bedürfnisse kümmern wollen und werden.

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und der FDP – Beifall von Kurt Wansner (CDU)]

Diese Koalition hat sich tatsächlich einiges vorgenommen. Wir wollen nicht nur die gute Arbeit der letzten Jahre fortsetzen. Wir haben uns neue Ziele gesteckt. RotGrün-Rot hat es sich beispielsweise zum Ziel genommen, bis Ende dieses Jahres einen Plan zu entwickeln, wie wir die Zahl der dringend benötigten Kurzzeitpflegeplätze dauerhaft erhöhen können. Auch werden wir dafür sorgen, dass die pflegenden Angehörigen eine Stimme im Landespflegeausschuss bekommen. Hierzu wird derzeit ein Verordnungsentwurf im Rahmen der Verbändeanhörung beraten, der uns ganz bestimmt in naher Zukunft im Ausschuss beschäftigen wird.

Auch die Rückgewinnung von Pflegefachkräften ist dieser Koalition ein großes Anliegen. Nicht ohne Grund haben sich der alte Senat, Franziska Giffey und zahlreiche Abgeordnete der Koalitionsfraktionen im Sommer 2021 für den Abschluss der bundesweit vorbildlichen Entlastungstarifverträge bei Charité und Vivantes starkgemacht. Nur durch die finanzpolitische Absicherung im Hintergrund der Verhandlungen wurden diese wichtigen Abschlüsse möglich. Unsere Hoffnung ist, dass durch die Verträge die Arbeitsbedingungen endlich wieder so verbessert werden können, dass das Fundament einer guten Pflege in unseren Krankenhäusern wieder garantiert wird.

Meine Redezeit ist zu Ende. Sie sehen, die eingeräumten fünf Minuten haben nicht ausgereicht, um das Thema ausreichend zu skizzieren und auf die zahlreichen Punkte des Antrags der FDP einzugehen. In den kommenden Monaten werden wir diesen Antrag Punkt für Punkt durchgehen und jedes Mal in unsere Diskussion einfließen lassen. Ich freue mich auf die Beratungen. – Danke!

[Beifall bei der SPD, den GRÜNEN, der LINKEN und der FDP]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat der Kollege Zander das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Lassen Sie mich damit in die Beratung einsteigen, dass Sie eine Zahl von Menschen genannt haben, die mal in einem Pflegeberuf gearbeitet haben und von denen sich sehr viele vorstellen könnten, wieder in den Pflegeberuf zurückzukehren, wenn denn die Arbeitsbedingungen verbessert würden. Das ist eine Zahl, 60 Prozent, die zuversichtlich stimmt, die sehr erfreulich ist.

Andererseits gibt es Erhebungen, die zeigen, dass eine erhebliche Anzahl von Menschen, die aktiv im Pflegeberuf arbeiten, sich vorstellen könnten, in den nächsten Jahren den Beruf zu verlassen, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht verbessern. Beide Erhebungen zeigen, dass wir einen dringlichen Handlungsbedarf haben und schnell handeln müssen, um möglichst viele Menschen in diesem Sektor behalten zu können, die sich um die zu Pflegenden kümmern und damit die Angehörigen entlasten.

Der Antrag der FDP enthält viele Punkte, aus unserer Sicht richtige Punkte, bei denen es anzusetzen gilt. Deshalb findet er unsere volle Zustimmung. Es geht um einen längeren Verbleib in der eigenen Häuslichkeit. Deshalb ist es gut, wenn Beratungsteams nach Hause kommen und zeigen, welche Möglichkeiten es gibt. Der Umbau von Dusche oder Betten erleichtert den pflegenden Angehörigen die Pflege zu Hause. Es ist immer schöner, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben.

Die Rahmenbedingungen in der Pflege müssen verbessert werden, eine allgemeine Entlastung der pflegenden Angehörigen. Vorhin ist das Wort von einem Urlaub gefallen. Es gibt einen Verein, der sich darum kümmert, was immer vernachlässigt wird, dass die Gepflegten mit ihren Angehörigen in den Urlaub fahren können, dass es passende Angebote gibt, wo sie überhaupt hinfahren können, dass die Möglichkeit besteht, mal aus ihrer Häuslichkeit rauszukommen.

Es geht um Wege, Pflegekräfte zurückzugewinnen oder neu zu gewinnen. Der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung ist uns auch ein wichtiges Anliegen. Das sieht man daran, dass wir in der zweiten Lesung einen Antrag gestellt haben, die Mittel für diesen Bereich aufzustocken. Der Antrag ist leider abgelehnt worden.