Protokoll der Sitzung vom 20.10.2022

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 18. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste, die Zuhörerinnen und Zuhörer und die Vertreterinnen und Vertreter der Medien sehr herzlich. Zu Beginn darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

Gemeinsam erinnern wir uns an den langjährigen früheren CDU-Abgeordneten Peter Gierich. Er ist am 11. Oktober im Alter von 86 Jahren verstorben. Dem Berliner Abgeordnetenhaus gehörte Peter Gierich

21 Jahre lang an. Der gebürtige Berliner absolvierte nach der Mittleren Reife die Ausbildung für künstlerische Schaufenstergestaltung und arbeitete auch eine Zeit lang in dem Beruf, bevor er Leiter einer Dekorationsabteilung, dann selbstständiger Werbegestalter und später kaufmännischer Angestellter im Großhandel wurde.

Der CDU trat Peter Gierich 1967 bei. Kurze Zeit nach seinem Beitritt wurde er stellvertretender Vorsitzender der Jungen Union Wedding, später dann Bezirksverordneter und CDU-Fraktionsvorsitzender im Wedding. 1975 wurde Peter Gierich in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Unserem Parlament gehörte er bis zum 30. November 1995 an. Peter Gierich wirkte im Ausschuss für Geschäftsordnung, für Wirtschaft, für Bau- und Wohnungswesen, für Verkehr, für Arbeit und Wirtschaft, für Kulturelle Angelegenheiten sowie im Hauptausschuss. In der 10., 11. und 12. Wahlperiode war er zudem Beisitzer im Präsidium.

Auch außerparlamentarisch war Peter Gierich in Gremien aktiv: im Vorstand der Wirtschafts- und Mittelstandsvereinigung und im Kuratorium an der Staatlichen Fachhochschule für das Hotel- und Gaststättengewerbe Berlin. Mit Peter Gierich haben wir einen beherzten und langjährig aktiven Politiker verloren, der die Berliner Landes- und Kommunalpolitik über viele Jahre mitgestaltet hat. Unsere Anteilnahme gilt seiner Familie. – Ich danke Ihnen, dass Sie sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben haben.

Als Geschäftliches habe ich Folgendes mitzuteilen: Am Montag sind folgende sechs Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Berlin

lässt niemanden zurück – Wohnen und Wohnungslosigkeit im Kältewinter“

− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum

Thema: „Berlin lässt niemanden zurück – Wohnen und Wohnungslosigkeit im Kältewinter“

− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Nach

acht Wochen Warten immer noch kein Nachtrags

haushalt des Senats – die Berliner brauchen jetzt schnelle Entlastungen und Hilfe in der Energiekrise!“

− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Berlin

lässt niemanden zurück – Wohnen und Wohnungslosigkeit im Kältewinter“

− Antrag der AfD-Fraktion zum Thema: „Verrückte

Klimakleber – wann greift der Senat endlich durch?“

− Antrag der Fraktion der FDP zum Thema: „Berlin

braucht Förderprogramme für Solar, Erdwärme und Wärmepumpen – keine Milliardenausgaben für den sinnlosen Rückkauf des Fernwärmenetzes“

Eine Verständigung über das Thema ist bislang nicht erfolgt. Ich lasse daher abstimmen, und zwar über das Thema der Fraktion Die Linke. Wer, wie die Fraktion Die Linke, eine Aktuelle Stunde zum Thema „Berlin lässt niemanden zurück – Wohnen und Wohnungslosigkeit im Kältewinter“ durchführen möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen haben wir dann das Thema der Linksfraktion angenommen. Somit werde ich das gleich als Thema für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen. Die anderen Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.

Ich darf dann auf die Ihnen zur Verfügung gestellte Dringlichkeitsliste verweisen. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die dort verzeichneten Vorgänge unter den Tagesordnungspunkten 16, 17, 17 A sowie 26 bis 29 in der heutigen Sitzung zu behandeln. Ich gehe davon aus, dass den gerade genannten Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. – Widerspruch zur Dringlichkeitsliste höre ich nicht. Damit ist die dringliche Behandlung dieser Vorgänge beschlossen.

Zum Tagesordnungspunkt 17 A, dringliche Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Geschäftsordnung, Antidiskriminierung vom 19. Oktober 2022, das ist die Drucksache 19/0604 zur Vorlage – zur Beschlussfassung – Drucksache 19/0404 „Gesetz zur Änderung des Berliner Richtergesetzes“, darf ich feststellen, dass einvernehmlich von der in § 33 Absatz 1 Satz 2 unserer Geschäftsordnung vorgesehenen Zweitagesfrist abgewichen wird. Unsere heutige Tagesordnung ist damit so beschlossen.

Auf die Ihnen zur Verfügung gestellte Konsensliste darf ich ebenfalls hinweisen – und stelle fest, dass dazu kein Widerspruch erfolgt. Die Konsensliste ist damit so angenommen.

Dann darf ich Ihnen noch die Entschuldigungen des Senats mitteilen: Die Regierende Bürgermeisterin nimmt an der Konferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder teil und ist daher heute abwesend.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

Berlin lässt niemanden zurück – Wohnen und Wohnungslosigkeit im Kältewinter

(auf Antrag der Fraktion Die Linke)

Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung. In der Runde der Fraktionen beginnt die Fraktion Die Linke. – Bitte sehr, Frau Abgeordnete Brunner!

Sehr geehrter Herr Präsident! Letzte Woche Freitag war der Tag der offenen Tür bei Housing First Berlin. Housing First Berlin hat einen zweiten Standort in der Samoastraße eröffnet, und ich kann Ihnen nur raten, da mal vorbeizugehen. An den Wänden hängen Briefe voller Dankbarkeit von Menschen, die zufrieden sind, die dank der Unterstützung der Berliner Stadtmission und auch der Neue Chance gGmbH nach jahrelanger Zeit der Obdachlosigkeit eine Wohnung gefunden haben. Der Ansatz von Housing First ist überzeugend: Wohnen ist ein Menschenrecht. Erst eine Wohnung, und dann kommt alles andere.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Es geht dabei nicht darum: Du musst erst wohnfähig werden, oder: Du musst erst clean werden. – Stattdessen geht es um Respekt, um Würde und um Selbstbestimmung. Im Mittelpunkt steht: Was kann ich? Was will ich? Und genau diese Unterstützung beim Mobilisieren von Selbsthilfekräften, das Anknüpfen an die Wünsche des Betroffenen, das sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren. Weitere Angebote sorgen dafür, dass sich die psychische Gesundheit der Menschen stabilisiert, dass die Menschen wieder Kontakt aufnehmen zu ihren Angehörigen oder beispielsweise ihren Krankenversicherungsschutz klären.

Der Erfolg gibt Housing First recht. Fast alle verbleiben in ihren Wohnungen. Die Wohnstabilität der Mieterinnen und Mieter beträgt fast 100 Prozent. Deswegen ist es richtig, dass Rot-Grün-Rot im Doppelhaushalt die Mittel für Housing First Berlin und Housing First für Frauen verdoppelt hat.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Dass wir das in Berlin richtig machen, zeigt doch auch die Reaktion der Bundesbauministerin. Frau Geywitz hat angekündigt, jetzt auch einen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit aufzulegen und dass Housing First ein klasse Projekt ist, um Wohnungslosigkeit zu überwinden.

Berlin ist zumindest hier ein gutes Beispiel für die Politik der Bundesregierung.

Ich freue mich besonders, dass der Sozialdienst katholischer Frauen dieses Jahr sein Angebot bei Housing First für Frauen ausbaut und nun auch Frauen mit Kindern aufnimmt. Der Sozialdienst katholischer Frauen ist in besonderer Weise für wohnungslose Frauen engagiert, und nicht zuletzt deshalb hat auch die Linksfraktion ihre Diätenerhöhung in diesem Jahr komplett an den Sozialdienst gespendet.

[Beifall bei der LINKEN]

Über viele Jahre hinweg waren Angebote nur für Frauen in der Wohnungslosenhilfe Mangelware, und es gibt immer noch zu wenig davon. Verschämt, versteckt, verdrängt – so kann man die Situation wohnungsloser Frauen in Berlin und auch in Deutschland beschreiben. Aus Angst vor dem Verlust ihrer Kinder verbleiben viele in gewaltgeprägten Beziehungen oder suchen Unterschlupf bei Angehörigen oder vermeintlichen Beschützern. Sie erfahren oft sexuelle Gewalt und Unterdrückung, und sie sind zu Recht misstrauisch, wenn man ihnen gemischtgeschlechtliche Unterkünfte anbietet. Deswegen haben die Strategiekonferenzen zur Wohnungslosenhilfe zu Recht eingefordert, dass es mehr und niedrigschwellige Angebote für wohnungslose Frauen geben muss. Die Notübernachtung „Evas Obdach“ oder auch die Tagesstätte „Evas Haltestelle“ für wohnungslose Frauen sind beispielgebend dafür, und auch das Duschmobil für wohnungslose Frauen des Sozialdienstes katholischer Frauen. All das hat Eingang gefunden in den Masterplan zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit, den wir hier in Berlin aufgelegt haben. Dafür brauchen wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen, und bei jeder dieser Maßnahmen muss das Prinzip Housing First unser Leitmotiv sein. Wenn jetzt die Heizkosten steigen, dann muss auch die AV Wohnen Schritt halten, damit sozialleistungsbeziehende Haushalte weiter in ihrer Wohnung bleiben dürfen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Um teure Unterbringung in Wohnungslosenunterkünften zu vermeiden, wird es jetzt möglich gemacht, dass wohnungslose Familien trotzdem eine Wohnung anmieten können, und zwar selbst dann, wenn die Miete höher ist als nach der AV Wohnen. Das ist richtig, denn Wohnen ist besser als Unterbringung, und im Übrigen auch billiger als Unterbringung.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Bereits in den ersten beiden Coronajahren hat Berlin sogenannte 24/7-Unterkünfte eingerichtet, darunter im Übrigen eine für Frauen. Statt nur einen Schlafplatz für die Nacht zu haben und anschließend wieder auf die Straße zu müssen, können Menschen dort tagsüber bleiben und Ruhe finden. Es gibt Wärme, es gibt Schutz, es gibt Essen und Trinken. Viele der Bewohnerinnen und

(Präsident Dennis Buchner)

Bewohner haben sich Unterstützungsangeboten geöffnet, beispielsweise einen Personalausweis oder Hartz IV beantragt. Diesen Ansatz, mehr Ganztagsplätze auszubauen, müssen wir hier in Berlin weiterverfolgen.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Sebahat Atli (SPD)]

Damit niemand krank auf der Straße bleiben muss, geht im November dank der Senatssozialverwaltung nun endlich wieder eine Quarantäneunterkunft für Obdachlose an den Start, und auch ein Tagesangebot zum Aufwärmen und zum Essen, wie letztes Jahr im Hofbräuhaus, soll es ab Dezember wieder geben.

Die Kältehilfe ist am 1. Oktober dieses Jahres gestartet. Sie bietet in der kalten Jahreszeit seit mehr als 30 Jahren wohnungslosen Menschen einen Schlafplatz für die Nacht.

Ohne das unermüdliche Engagement der Kirchen, Sozialverbände, Wohlfahrtsverbände und der vielen Ehrenamtlichen in dieser Stadt wäre das nicht möglich gewesen. Dafür gilt ihnen wirklich mein aufrichtiger Dank.