Protokoll der Sitzung vom 03.02.2000

Das Wort erhält Frau Abg. Rastätter.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Kultusministerin Schavan, lassen Sie mich, bevor ich mit meinen schulpolitischen Ausführungen zu diesem Doppelhaushalt beginne, zunächst einmal ein Wort zu Ihnen persönlich sagen. Sie haben inzwischen ja eine Doppelfunktion als Kultusministerin und als stellvertretende Parteivorsitzende der CDU. Das heißt, Sie gehören der höchsten Führungsriege Ihrer Partei in der Bundesrepublik an.

(Abg. Behringer CDU: Und das ist gut so!)

Ich finde es deshalb enttäuschend, dass Sie jetzt, wo feststeht, dass Ihre Partei in starker Weise gegen Recht, gegen Gesetz und gegen die Verfassung verstoßen hat, nichts Substanzielles zu diesem Thema beizutragen haben und sich nur in moralisierenden, nichts sagenden Äußerungen ergehen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Hans-Michael Bender CDU: Oh, Frau Rastätter! Au, au! Pharisäertum! – Abg. Kleinmann FDP/ DVP: Das ist keine Rede zur Schulpolitik! So ein Krampf! – Zuruf von der CDU: Unter der Gürtelli- nie!)

Ich frage Sie, Frau Kultusministerin: Was sollen die politisch interessierten jungen Menschen, die Schüler und Schülerinnen in unserem Bundesland, was sollen die Lehrer und Lehrerinnen an den Schulen, was sollen die Eltern davon halten, wenn Sie, die Sie immer so sehr die hohe Bedeutung der Werteerziehung für die Jugend betonen, sich nun nicht an die Spitze derjenigen stellen, die auch tatsächlich grundlegende Vorschläge für eine radikale Erneuerung Ihrer Partei machen?

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Kö- nig REP: Sie hat doch keinen Koffer gekriegt! – Weitere Zurufe)

Die CDU ist gegenwärtig gefordert, Werteerziehung in eigener Sache zu betreiben, und ich glaube, dass dabei die Kultusministerin auch ein Vorbild für die Jugend in unserem Bundesland sein muss.

(Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, höchste Priorität für uns Grüne hat in diesem Doppelhaushalt die Verbesserung der Zuverlässigkeit unserer Schulen im Hinblick auf die Unterrichtsversorgung und im Hinblick auf die schulpolitischen Konzepte. Ich nenne das Stichwort „Unterrichtsversorgung“ und das Thema „Halbtagsgrundschule“.

Frau Schavan, Sie haben das Problem der mangelnden Zuverlässigkeit der Schule in unserem Bundesland zu lange geleugnet. Sie haben zu spät reagiert. Ihre Maßnahmen sind kurzfristig angelegt und reichen zur Lösung der Probleme nicht aus.

Kein schulpolitisches Thema hat die Eltern von Schulkindern in den letzten Jahren so bewegt und wütend gemacht wie die mangelnde Zuverlässigkeit der Schulen, und das meiner Meinung nach zu Recht. Denn wer wie diese Landesregierung zu Beginn der Legislaturperiode behauptet hat, die Unterrichtsversorgung sei in den nächsten fünf Jahren mit einem Maßnahmenbündel gesichert, sich in den folgenden Jahren aber geweigert hat, die damit nicht übereinstimmende Realität zur Kenntnis zu nehmen, hat Protest verdient.

Auf unsere Anträge, die ja auf einem Bündel von Elternbriefen basierten, haben Sie immer wieder gebetsmühlenhaft geantwortet, der Pflichtunterricht sei gesichert; örtlich und fachspezifisch könne es Probleme geben.

Sie haben auch immer wieder auf die Spitzenstellung des Landes Baden-Württemberg verwiesen. Aber, meine Damen und Herren, die Eltern interessieren sich nicht für Ländervergleiche. Die Eltern leiten ihre Beurteilung der Zuverlässigkeit der Schulen davon ab, ob ihre Kinder wieder morgens eine Stunde später einbestellt oder mittags früher nach Hause geschickt werden oder ob vor einer wichtigen Mathematikarbeit Mathematikstunden ausfallen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Bei diesen Sorgen und Ängsten haben sich die Eltern von der Landesregierung einfach nicht ernst genommen gefühlt.

(Zuruf der Abg. Dr. Eva Stanienda CDU)

Es ist nun, finde ich, ein starkes Stück, wenn Sie behaupten, der Befund der Erhebung, dass 7,2 % des Unterrichts nicht stattfinden und die Ausfallquote im Durchschnitt 3,6 % beträgt, sei ordentlich, zumal wir wissen, dass es sich nur um die ausfallenden Stunden nach dem Stundenplan handelt, aber nicht um die nach der Stundentafel, weil bei den Schulen – insbesondere bei den beruflichen Schulen – bereits zu Beginn des Schuljahres der Pflichtunterricht laut Stundentafel nicht in vollem Umfang erteilt wird.

(Abg. Zeller SPD: So ist es, jawohl!)

Die Mittel für Krankheitsvertretungen sind nun ordentlich etatisiert. Ich muss sagen, wir begrüßen die neue Struktur, weil sie – auch für die Opposition im Landtag – transparenter ist. Weil nun die Mittel ordentlich etatisiert sind, fordern wir die Schaffung einer festen mobilen Lehrerreserve.

Junge arbeitslose Lehrerinnen bleiben nicht ein ganzes Jahr zu Hause sitzen, drehen Däumchen und warten auf einen Anruf, sondern sie suchen sich eine anderweitige Beschäftigung. Deshalb gibt es oft unnötige Wartezeiten, wenn Krankheitsvertretungen eingestellt werden müssen. Aus diesem Grund müssen Vertretungslehrkräfte, junge Lehrer und Lehrerinnen, gleich zu Beginn des Schuljahres im Angestelltenverhältnis mit Jahresarbeitszeitkonten eingestellt werden. Das schafft Sicherheit für die Schulen, und das schafft auch Sicherheit für die jungen Lehrer und Lehrerinnen, die dann wissen, dass sie nach dieser Nebenlehrertätigkeit in ein festes Arbeitsverhältnis an der Schule kommen.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen)

Weil wir die Unterrichtsversorgung in den nächsten beiden Jahren bei immer noch stark steigenden Schüler- und Schülerinnenzahlen stabilisieren müssen – dazu gehört nun einmal auch der Ergänzungsbereich: Stützkurse, Sprachförderung usw. –, brauchen wir mehr Lehrerstellen, als Sie sie jetzt mit den zusätzlichen 800 Stellen für die nächsten zwei Jahre vorsehen. Meine Fraktion stellt den Antrag, 2 000 junge Lehrer und Lehrerinnen in den Jahren 2000 und 2001 zusätzlich einzustellen. Viele dieser jungen Lehrkräfte arbeiten in Teilzeit, das heißt, wir können dadurch wesentlich mehr junge Lehrer und Lehrerinnen an die Schulen bekommen und lösen damit gleichzeitig einen wichtigen pädagogischen Innovationsschub an unseren Schulen aus.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen)

Ich fordere Sie, Frau Kultusministerin, in diesem Zusammenhang auf, sich nun endlich im Kabinett dafür stark zu machen, dass die Altersteilzeit eingeführt wird. Es kann doch nicht sein, dass Baden-Württemberg das einzige Bundesland ohne Altersteilzeit bleibt.

(Zurufe der Abg. Dr. Salomon und Hackl Bünd- nis 90/Die Grünen)

Die Altersteilzeit ist doch eine große Chance, noch weiter für eine Verjüngung der Kollegien an den Schulen zu sorgen,

(Zuruf des Abg. Wacker CDU)

aber auch ältere Lehrkräfte zu entlasten und ihnen die Möglichkeit zu geben, für die letzten Jahre ihrer Dienstzeit pädagogisch noch einmal einen Schub zu bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen – Zurufe der Abg. Dr. Salomon Bünd- nis 90/Die Grünen und Wacker CDU)

Auffällig ist übrigens, Frau Kultusministerin, dass Sie Ihre pädagogischen Reformkonzepte nicht sehr praxistauglich und nicht sehr seriös ausgestalten. Ich möchte dazu einige Beispiele nennen.

Die auf den enormen öffentlichen Druck hin endlich geplante verlässliche Grundschule ist auch künftig nichts anderes als eine Kernzeitenbetreuung,

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: So ist es!)

bei der lediglich die Zuschüsse von ca. 30 % auf 50 % erhöht werden. Sie hinken damit hoffnungslos selbst hinter dem neuen Familienpapier der CDU hinterher,

(Abg. Zeller SPD: Da ist sie ja auch dagegen ge- wesen!)

das über die zuverlässige Halbtagsgrundschule hinaus schon längst Ganztagsgrundschulen und Ganztagsbetreuung an Grundschulen fordert.

(Zuruf des Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grü- nen)

Zur Erinnerung: Die Situation in Baden-Württemberg ist ja wirklich noch desolat. Nur für 4,2 % der Kinder ist derzeit eine Kernzeitenbetreuung eingerichtet. Es gibt genau drei Ganztagsgrundschulen in Baden-Württemberg, bei insgesamt 2 500 Grundschulen. Und Hort an der Grundschule gibt es nicht einmal für 1 % der Kinder. Das heißt, wenn Sie jetzt etwas mehr Mittel einstellen, dann kann die Kernzeitenbetreuung vielleicht auf 8 % oder 9 % der Kinder erweitert werden. Aber die meisten Familien werden auch weiterhin keine verlässliche Halbtagsbetreuung für ihre Kinder bekommen. Das ist ein Zustand, der gesellschaftspolitisch und pädagogisch einfach nicht vertretbar ist.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen)

Nun ein Wort zur Gewalt an Schulen, auch in Zusammenhang mit der verlässlichen Halbtagsgrundschule. Die Ergebnisse über die Zunahme von Gewalt und Aggression, die jetzt vorliegen, sind besorgniserregend, wobei ich Ihnen, Herr Rau, natürlich zustimme, dass wir dies näher untersuchen müssen. Aber, Frau Kultusministerin, Sie hören doch, wie hartnäckig die Grundschullehrerinnen fordern, dass die Unterrichtszeit erweitert wird, damit auch wirklich Zeit für soziales Lernen an der Grundschule bleibt und damit sie den Kindern verbesserte Möglichkeiten zur friedlichen Konfliktlösung beibringen können. Schon aus diesem Grunde brauchen wir eine Ausweitung auf fünf Zeitstunden in der vollen pädagogischen Verantwortung der Schule

und nicht ein Konzept, bei dem die Betreuung lediglich angeklebt wird.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Noch ein Wort zum Thema Gewalt. Ich erinnere daran, wie hart wir darum kämpfen müssen, dass Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg endlich finanziert wird. Aber eine Anschubfinanzierung, meine Damen und Herren, reicht nicht aus. Wir brauchen Schulsozialarbeit flächendeckend und dauerhaft, und zwar nicht nur an Hauptschulen im sozialen Brennpunkt, sondern auch an anderen Schulen, wo Bedarf besteht. Durch eine intensive Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, aber auch mit der Polizei müssen Möglichkeiten gefunden werden, wie der zunehmenden Aggression begegnet werden kann. Wir brauchen regionale und kommunale runde Tische zum Thema „Gewalt an Schulen“.

Ein zweites Beispiel zur Praxistauglichkeit von Konzepten. Gerade erweist sich, dass die Schulgesetzänderung, mit der die so genannte Bagatellgrenze von 5 DM abgeschafft und durch die ominöse Aussage „Gegenstände von geringem Wert“ ersetzt wurde, faktisch zu verfassungswidrigen Verhältnissen in Baden-Württemberg geführt hat. Die Belastung der Eltern durch Kosten für Lernmittel reicht von 5 bis 20 DM. Das heißt, Eltern werden in einer Weise belastet, dass die soziale Chancengleichheit von Kindern an unseren Schulen ernsthaft gefährdet ist. Deshalb fordern wir Sie auf: Machen Sie dieser verfassungswidrigen Praxis ein Ende, und stellen Sie die alte gesetzliche Grundlage wieder her, damit die Lernmittelfreiheit so ausgestaltet wird, wie es der Verfassung in Baden-Württemberg entspricht.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen)

Zum Thema „Fremdsprache an Grundschulen“: Zwei Jahre, nachdem die flächendeckende Einführung, die wir begrüßt haben, angekündigt wurde, gibt es noch kein Konzept. Es gibt kein pädagogisch-didaktisches Konzept, kein Konzept für die Lehrerfortbildung, kein Stundenkonzept dafür. Statt Turbo dieses Mal Regionalexpress!

Jetzt soll erst einmal stufenweise begonnen werden mit 400 Grundschulen von 2 500. Da sage ich: Das werden die Eltern von Grundschulkindern in Baden-Württemberg nicht mitmachen. Dazu hat man ihnen viel zu lange erklärt, wie wichtig Fremdsprachen als Schlüsselqualifikation sind. Deshalb, Frau Kultusministerin, sage ich: Stellen Sie endlich ein vernünftiges didaktisch-methodisches Konzept vor. Organisieren Sie flächendeckend eine gute Fortbildung. Klären Sie die Deputatsfrage. Fangen Sie bitte gleichzeitig an allen Schulen an. Dann bin ich sicher, dass Englisch bzw. Fremdsprachen an den Grundschulen zu einem großen Erfolg und zu einer Bereicherung der Grundschulen in Baden-Württemberg werden.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ganz nebenbei erwähnt – und das sage ich als Karlsruher Abgeordnete –: Beenden Sie auch die Verunsicherung am Oberrhein. Wenn dort bilinguales Lernen eine Fortsetzung haben soll, das ja mit dem guten Projekt „Lerne die Sprache deines Nachbarn“ begonnen wurde, müssen die Eltern

am Oberrhein über die Vorteile von Französisch aufgeklärt werden. Wir brauchen Französisch für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung unserer grenzüberschreitenden Region.

Ein letztes Beispiel: die Oberstufenpläne. Angesichts der mir jetzt vorliegenden Details muss ich sagen: Ich warne vor einer flächendeckenden Umsetzung an allen Gymnasien. Aber ich denke, dieses Thema wird uns künftig noch sehr intensiv beschäftigen. Deshalb erspare ich uns im Moment die Details.