Protokoll der Sitzung vom 09.02.2000

Die Annahmen sind falsch, und darum kann das Ergebnis nicht richtig sein. Diese Reform kann nicht funktionieren. Sie wird keinem nützen, wie sich immer deutlicher herausstellt.

Erstens – darüber sind wir uns sicher einig –: Der aufwendigere Prozess in der ersten Instanz wird länger dauern. Wir werden in der ersten Instanz längere Verfahrensdauern haben.

(Minister Dr. Ulrich Goll)

(Abg. Oelmayer Bündnis 90/Die Grünen: Das ist doch qualitativ besser! Sagen Sie doch einmal da- zu etwas! Dann wären es 98 %! – Gegenruf des Abg. Dr. Schlierer REP: Er wird nicht zwangsläu- fig besser, es wird nur quantitativ mehr!)

Wenn bisher in 93 % der Fälle so entschieden wurde, dass kein weiterer Handlungsbedarf bestand, wenn die Menschen jetzt in so hoher Zahl mit dem Amtsgerichtsprozess zufrieden sind, warum wollen Sie ihnen dann eine längere Prozessdauer zumuten?

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Sehr richtig!)

Warum wollen Sie ihnen dann längere Wege zur Berufungsinstanz zumuten?

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Richtig! – Zuruf von der SPD: Das braucht man doch nicht!)

Jetzt kommt sozusagen der Gag an der Sache: Die Länder, und zwar gerade die A-Länder, sind schwer und heftig ins Nachdenken gekommen. Ich trage einmal eine Berechnung aus unserem Hause vor; und die ist noch moderat. Eine Berechnung in unserem Haus hat ergeben, dass dann, wenn der Aufwand in der ersten Instanz nur um 4 % steigt, die Grenze erreicht ist, ab der wir für das Ganze mehr Richter brauchen. Die SPD-regierten Länder haben zum Teil schon ausgerechnet, dass es 30 % Mehraufwand in der ersten Instanz geben wird, wenn die Prozesse dort komplizierter werden. Dann wird das Ganze auch noch für die Landesjustizverwaltungen ein gigantisches Zuschussgeschäft. Da muss ich dann sagen: Verzeihung, da hört es auf! Ich bin der Letzte, der die brutalen Sparvorschläge mit der Annahmeberufung verfolgt, die da drinstecken.

(Abg. Bebber SPD: Aus dem Kaffeesatz gelesen!)

Aber dafür, dass wir nicht in der Lage sind, auch noch draufzulegen, bitte ich doch um Verständnis. Dieses neue Modell nützt weder den Parteien noch den Anwälten, noch übrigens den Richtern, noch dem Land, noch irgendjemandem sonst, sondern es funktioniert nicht.

(Abg. Bebber SPD: Bei erfolgreichen Reformen haben Sie eh keine Erfahrung!)

Die Reform zielt auf die Bürgernähe und letzten Endes auf die Amtsgerichte. Das ist so. Führen Sie sich nur einmal vor Augen und betrachten Sie einmal, wie man so schön sagt, das Vorhaben ohne Zorn und Eifer: Wenn ich den Amtsgerichtsprozess komplizierter mache – –

(Abg. Bebber SPD: Nur die Kompetenz der Rich- ter wird ausgeschöpft!)

Das ist so gedacht. Dagegen lässt sich kaum etwas sagen.

Wenn der Amtsgerichtsprozess aufwendiger wird, wenn beim Landgericht flächendeckend auf Einzelrichter umgeschaltet wird, dann kann ich doch einen Landgerichtsprozess nicht mehr von einem Amtsgerichtsprozess unterscheiden. Und das ist der Sinn der Sache. Damit haben wir prozessual die Vorstufe zum Eingangsgericht.

(Zuruf des Abg. Oelmayer Bündnis 90/Die Grü- nen)

So ist es auch gemeint. Deswegen kann man nicht hier hinstehen und sagen, es gehe gar nicht um die Amtsgerichte.

(Abg. Oelmayer Bündnis 90/Die Grünen: Sie sind nicht oft bei Gericht, Herr Minister!)

Es geht in der letzten – –

(Abg. Bebber SPD: Das ist absolut aus dem Kaf- feesatz gelesen, was Sie machen!)

„Kaffeesatzleserei“ sagen Sie. Wir sagen eher: Wir wehren den Anfängen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Wir sind aus Berlin nicht immer so zeitnah informiert worden, dass wir Vertrauen schöpfen konnten. Wir haben im Gegenteil auf Schritt und Tritt das Gefühl, dass die Dinge ohne die Länder gemacht werden. Aber ich sage Ihnen: Ihre SPD-Länder sind mittlerweile aufgewacht. Sie wissen mittlerweile, was dabei für die Beteiligten herauskommt.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Aha!)

Da sind wir gar nicht weit auseinander.

Jedenfalls: Wenn wir diesen ersten Schritt tun, der falsch ist, wird sich irgendwann einmal die Frage stellen, ob wir noch Amtsgerichte des bisherigen Zuschnitts brauchen.

(Zuruf des Abg. Bebber SPD)

Dann werden wir in der Situation sein, den größten Fehler zu machen, den ich mir vorstellen kann: Wir stellen dann nämlich die volksnahe, die ortsnahe Form des Gerichts infrage. Dieser Tag darf in diesem Land nicht kommen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Man muss sich einmal das Absurde vorstellen: Bei der Polizei würde niemand hingehen – –

(Abg. Bebber SPD: Zehn Minuten sind aber rum!)

Ich musste immer so lange warten, bis Sie zugehört haben. Das ist traurig. Mir geht es heute schon darum, Ihr Ohr zu finden, weil ich nicht glauben kann, dass Sie einer solchen Reform zustimmen können,

(Zuruf des Abg. Bebber SPD)

es sei denn – ich sage es noch einmal – aus einer falsch verstandenen Solidarität.

Schauen Sie sich doch einmal das Beispiel Polizei an. Es wäre absurd, wenn einer sagen würde: „Wir konzentrieren die Polizei in größeren Orten, dann wird es billiger.“ Jedem ist klar, dass die Polizei auch vor Ort gebraucht wird.

(Abg. Oelmayer Bündnis 90/Die Grünen: Polizei und Justiz sind doch zwei Paar Stiefel! – Zuruf des Abg. Bebber SPD)

Beide mögen nicht in allen Punkten vergleichbar sein;

(Abg. Brechtken SPD: Der Einzelrichter geht Streife!)

(Minister Dr. Ulrich Goll)

aber wollen gerade Sie, dass die Justiz weit weg ist, dass sie bürgerfern ist und dass die Menschen die Streitschlichtungsinstanz nicht mehr als bürgernahe Instanz vor sich haben? Diesen Zustand haben wir in Baden-Württemberg, und das nützt natürlich dem Rechtsfrieden, und das nützt dem Rechtsstaat. Diesen Zustand werden wir auch nicht infrage stellen.

Vorher wurde gesagt, das Vorhaben sei das größte justizpolitische Vorhaben der letzten Zeit gewesen.

(Abg. Haas CDU: Hundert Jahre, hat es geheißen!)

Der letzten hundert Jahre. – Nun ist es nicht nur das größte Vorhaben, sondern auch das falscheste Vorhaben der letzten hundert Jahre.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Darum bitte ich um Unterstützung aller Teile dieses Hauses, nicht nur derer, die die Sache längst durchschaut haben, sondern auch derer, die noch verzweifelt bemüht sind, das Vorhaben zu verteidigen. Sagen Sie offen: Das ist ein Schuss in den Ofen.

(Zuruf des Abg. Bebber SPD)

Das dient vielleicht der Profilierung, aber es dient nicht der Sache. Tragen Sie die Botschaft dieser Debatte nach Berlin weiter!

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Jawohl! – Abg. Oelmay- er Bündnis 90/Die Grünen: Dort gehört es eigent- lich auch hin!)

Denn dort ist man im Begriff, den großen Fehler zu machen, den Ländern etwas zuzumuten, was ihnen schadet.

Danke schön.