Protokoll der Sitzung vom 13.04.2000

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 86. Sitzung des 12. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Mayer-Vorfelder erteilt.

(Abg. Brechtken SPD: Der hat es schön!)

Krank gemeldet sind die Herren Abg. Heinz Goll und Hauser.

Auf Ihren Tischen liegen Vorschläge der CDU-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für Umbesetzungen in verschiedenen Ausschüssen. (Anlagen 1 und 2) – Ich stelle ohne förmliche Abstimmung die Zustimmung des Hauses zu diesen Umbesetzungen fest.

Ich darf bekannt geben, dass sich die Fraktionen darauf geeinigt haben, dass die Tagesordnungspunkte 5 und 6 der heutigen Sitzung getauscht werden. Punkt 6 wird also vor Punkt 5 aufgerufen.

Meine Damen und Herren, unter den Zuhörern hat eine Delegation aus unserer Partnerprovinz Jiangsu Platz genommen. Ich darf Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr herzlich in unserem Land Baden-Württemberg begrüßen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und interessante Eindrücke auch von unserer Landtagssitzung.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Unterrichtsdefizite an beruflichen Schulen – Drucksache 12/4880 (geänderte Fassung)

Das Präsidium hat folgende Redezeiten festgelegt: für die Begründung fünf Minuten, für die Aussprache fünf Minuten je Fraktion, wobei gestaffelte Redezeiten gelten.

Das Wort zur Begründung erteile ich Herrn Abg. Wintruff.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich spreche sicherlich in Ihrer aller Namen – auch im Namen der Frau Ministerin –, wenn ich zunächst einmal feststelle: Es muss ganz unstrittig sein, dass einer qualitativ hoch stehenden Berufsausbildung für eine Industrienation wie Deutschland und insbesondere für Baden-Württemberg eine ganz entscheidende Rolle zukommt.

(Abg. Drautz FDP/DVP: Völlig neue Erkenntnis, Herr Kollege! – Zurufe von der CDU)

Neue Entwicklungen in der Technik, insbesondere im Bereich der Informationstechnik, aber auch das Lernen der Berufsschüler in Lernfeldern sowie die Erweiterung der Kompetenz in Fremdsprachen – das sind die neuen Anforderungen, die gestellt sind. Dazu muss man den beruflichen Schulen aber auch die Möglichkeit einräumen, diese Anforderungen zu bewältigen.

Es ist völlig unstrittig, dass eine qualitativ hoch stehende Berufsausbildung – insbesondere die Leistungsfähigkeit der Berufsschule – einen ganz starken Einfluss auf die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe hat. Nur: Man muss in der Politik diesen Rahmen auch schaffen und der Schule, auch in ihrer Eigenschaft als Partner im dualen Ausbildungswesen, eine ausreichende Unterrichtsversorgung ermöglichen.

Wenn sogar vonseiten der Industrie – ich zitiere hier die Industrie- und Handelskammer Stuttgart – bereits der Vorwurf erhoben wird, Betriebe hätten seit vielen Jahren wiederholt den verstärkten Unterrichtsausfall an den beruflichen Schulen beklagt, sie hätten mit den Schulleitungen immer wieder beraten und auf die unzureichende Unterrichtsversorgung aufmerksam gemacht, dann ist das doch auch ein Beleg für Sie, meine Damen und Herren, dass die Opposition hier nicht nur etwas aus dem hohlen Bauch zaubert.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten des Bünd- nisses 90/Die Grünen)

Wir haben hier in der Tat schon oft über die Unterrichtsversorgung in den anderen Schularten beraten. Das ist nun heute nicht einfach eine Fortsetzung dieser Diskussion. Vielmehr geht es heute um die Spitze des Eisbergs, meine Damen und Herren.

(Zuruf des Abg. Rau CDU)

Um die Unterrichtsversorgung der beruflichen Schulen in Baden-Württemberg ist es schlecht bestellt. Das sollten wir alle nicht auf die leichte Schulter nehmen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will mit einer Analyse den Beweis antreten. An den beruflichen Schulen – das räumt die Stellungnahme der Landesregierung selbst ein – ist ein Unterrichtsausfall von 25 400 Wochenstunden aufgelaufen. Der erwartete Unterrichtsausfall im Pflichtbereich wurde bereits zu Beginn des

Schuljahrs in den Stundenplänen berücksichtigt. Diese Stunden können wegen mangelnder Ressourcen an Berufsschullehrern nicht erteilt werden.

Frau Ministerin, für Sie müsste es ein Alarmsignal sein, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahren verstärkt hat und dass wir gegenüber dem letzten Schuljahr 1 600 Wochenstunden an zusätzlichen Ausfällen bekommen haben.

Weil Sie alle sich unter der Zahl von 25 000 Wochenstunden wahrscheinlich nichts vorstellen können, haben wir das umgerechnet: Das entspricht 1 025 Deputaten – ebenfalls vom Ministerium belegt –, die an den beruflichen Schulen fehlen, um den Pflichtunterricht zu erteilen.

(Beifall bei der SPD – Abg. Heiler SPD: Skandal!)

Deswegen komme ich nicht umhin, Frau Ministerin, Ihnen einen entscheidenden Vorwurf zu machen: Sie waren nicht seriös, als Sie uns vorgetragen haben, wie groß die Unterrichtsausfälle an den einzelnen Schularten sind. Sie haben darüber informiert, dass in den beruflichen Schulen ein Unterrichtsausfall in Höhe von 4,1 % vorliege. Sie hätten aber zu diesen 4,1 % natürlich auch die 2,9 % noch hinzuzählen müssen, bei denen mit Aushilfsmaßnahmen reagiert wurde. Auch die 6,4 %, die den 1 025 Deputaten entsprechen, muss man hinzurechnen. Wenn Sie dies tun, dann kommen Sie auf einen Unterrichtsausfall von weit über 10 %. Das wäre die Wahrheit gewesen und die Offenbarung. Das müsste man einräumen, wenn die Tatbestände so sind.

(Beifall bei der SPD)

Da kann es aber doch keine Lösung sein, wenn der Ministerialdirektor Ihres Ministeriums die Meinung vertritt, dass der Pflichtstundenanteil im Teilzeitbereich bei uns zu hoch angesetzt sei. Ich habe Ihnen doch aufgezählt, welche Entwicklungen heute in der beruflichen Schule vonnöten sind. Man kann doch nicht, weil ein Mangel vorhanden ist, das Unterrichtssoll kürzen. Frau Ministerin, das kann nicht sein. Sagen Sie Herrn Mäck – auch wenn der ehemalige Bildungsminister Rüttgers hier grüßen lässt –: Das wird der Landtag von Baden-Württemberg auf keinen Fall akzeptieren.

(Beifall bei der SPD)

Dass wir in unserem Land Fortschritte gemacht haben, insbesondere beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, ist in erster Linie auf die Aktivitäten der Bundesregierung zurückzuführen, die mit ihrem Aktionsprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit auch in Baden-Württemberg 20 000 Jugendliche erfasst und in Maßnahmen übernommen hat. Aus diesem Programm wurden im vorigen Jahr 131 Millionen DM nach Baden-Württemberg geleitet, und das Programm wird in diesem Jahr in der gleichen Größenordnung fortgesetzt werden. Das sind Ansätze, die wir brauchen. Auch im Berufsschulbereich muss so etwas passieren.

(Beifall bei der SPD)

Da kann ich eben nicht nur auf die anderen Schularten schauen, sondern muss mich insbesondere denjenigen widmen, die am schlechtesten dran sind. Das gilt für den Teil

zeitbereich der beruflichen Schulen. Ist es denn normal, frage ich Sie, dass mehr als die Hälfte der Berufsschüler im Teilzeitbereich keine 12 Wochenstunden Unterricht haben, obwohl wir 13 anstreben? Ist es denn tragbar, dass 675 Klassen noch immer nicht den festgesetzten Minimumpflichtanteil von 10 Stunden Unterricht bekommen?

(Zuruf von der SPD)

Was sind das für Zustände im beruflichen Bereich in diesem Lande?

(Beifall bei der SPD)

Und wen trifft es? Lachen Sie nicht.

(Zuruf des Abg. Scheuermann CDU)

Herr Scheuermann, lachen Sie nicht.

(Abg. Scheuermann CDU: Ich lache, wann ich will!)

Ich werde Ihnen die „Zukunftskommission 2000“ der Landesregierung zitieren, und da werden Sie nichts mehr zu lachen haben.

(Zuruf des Abg. Hans-Michael Bender CDU)

Die Zukunftskommission ist eine von der Landesregierung eingesetzte Kommission.

(Zuruf des Abg. Scheuermann CDU)

Ich zitiere:

Von den 43 000 Jugendlichen, die 1996 in BadenWürttemberg einen Hauptschulabschluss erreicht haben, zählen fast die Hälfte, nämlich 19 000, zu der Gruppe, für die das Bildungssystem nicht genügend angemessene Ausbildungsmöglichkeiten bereithält – die also auf Dauer ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben, mit den entsprechenden Handikaps auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Leben. Diese jungen Leute laufen Gefahr, zu den Verlierern der modernen Gesellschaft zu werden.

So die Zukunftskommission. Wer wollte da noch lachen? Sehe ich hier noch jemanden? Das wäre ja unglaublich.

(Lachen bei der CDU – Abg. Seimetz CDU: Das liegt an dem Redner! – Abg. Scheuermann CDU: Da kann man nur noch lachen!)

Bei Ihnen ist ja Hopfen und Malz verloren.