Protokoll der Sitzung vom 28.06.2000

Gerade weil wir jetzt am Beginn einer Entwicklung stehen, lehnen wir Grünen die derzeit geplante flächendeckende Umsetzung des neuen Modells der Oberstufe als Beispiel praxisferner Bildungspolitik ab. Es widerspricht den Grundsätzen einer verantwortungsvollen Bildungspolitik, ein Modell ohne Erprobung in der Praxis flächendeckend umzusetzen. Wir werden den Eindruck nicht los, dass das auch damit zu tun hat, dass Sie sich mit diesem Modell bundesweit profiliert haben und Sie es jetzt möglicherweise als Prestigeverlust empfinden würden, davon wieder Abstriche zu machen oder es auf die lange Bank zu schieben.

(Zuruf des Abg. Rückert CDU)

Ein Praxistest ist erforderlich, so meinen wir, weil das Modell sehr viele Schwachstellen, sehr viele Ungereimtheiten hat und Fragen offen lässt.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen)

Ich will einige davon benennen:

Erstens: Künftig müssen alle fünf verpflichtend zu belegenden vierstündigen Fächer auf Leistungskursniveau unterrichtet werden. Da sitzen dann sowohl Schüler, die dieses Fach als Grundkurs abrechnen, als auch solche, die es als Leistungskurs anrechnen lassen. Was das für die Praxis der unterschiedlichen Fächer bedeutet, ist bis heute noch nicht bekannt. Die FDP/DVP, die Frau Kollegin Berroth hat inzwischen sogar durchgesetzt, dass künftig unterschiedliche Leistungskurse in jedem der fünf vierstündigen Fächer, speziell in Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache, gebildet werden können, so genannte A- und BKurse. Werden diese Kurse dann nach der Wahl der Schüler festgelegt? Wie soll das funktionieren, wenn am Schluss alle Schüler dasselbe Abitur machen müssen? Stehen für solche äußeren Differenzierungen überhaupt Ressourcen zur Verfügung?

Der Philologenverband hat solche Überlegungen zu Recht als Unsinn abgetan. Entweder man will verbindliche Kernfächer mit einem verbindlichen Abitur für alle Schüler, oder man will die Beibehaltung von Leistungskursen. Dann muss man aber am bisherigen Kurssystem festhalten.

Zweitens: Heute ist in den Leistungskursen ein großer Teil der Schüler und Schülerinnen besonders motiviert und besonders leistungsorientiert. Wir wissen auch aus dem, was uns die Schüler und Schülerinnen immer wieder sagen, wie sehr sie die Leistungskurse als Bereicherung, als Chance und als Herausforderung empfinden.

(Abg. Christa Vossschulte CDU: Gehen Sie einmal in einen!)

Diese positive Lernsituation soll jetzt aufgehoben und der Unterricht sogar noch gekürzt werden. Sind also Leistungsabfall und Nivellierung die zwei neuen Attribute der Oberstufe nach dem neuen Modell?

Drittens: Bei einem dadurch möglicherweise erschwerten Abitur mit fünf Fächern stellt sich die Frage, ob badenwürttembergische Schüler bei der Vergabe von Studienplätzen künftig benachteiligt werden.

(Zuruf der Abg. Christa Vossschulte CDU)

Ich rede jetzt nicht von den Studienplätzen über die ZVS, da diese nach der Länderquote vergeben werden. Ich rede vielmehr von den lokalen NCs. Betroffen hiervon sind immerhin über 70 % der Studienplätze.

Das neue Modell lässt auch Innovationen nicht zu, verhindert sie sogar, indem zum Beispiel dem Fach Informatik künftig nur noch eine Randexistenz zukommen soll – ein Armutszeugnis für ein Hightechland wie Baden-Württemberg.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD)

Zum neuerdings so hochbeschworenen fächerübergreifenden Unterricht: Sie müssen mir sagen, wie dieser durch das neue Strukturmodell erleichtert werden soll.

(Abg. Christa Vossschulte CDU: Er wird über- haupt erst möglich!)

In der Praxis, Frau Vossschulte, wird es feste Lerngruppen aber nur in Deutsch und in Mathematik geben.

(Abg. Dr. Witzel Bündnis 90/Die Grünen: Sehr richtig! – Abg. Christa Vossschulte CDU: Und in der Fremdsprache!)

Sind ausgerechnet dies die Anknüpfungspunkte für einen fächerübergreifenden Unterricht? Das müssen Sie mir erst noch beantworten.

(Zuruf der Abg. Christa Vossschulte CDU)

Wir Grünen – das ist im Ergebnis unsere Position – fordern deshalb, dieses Modell derzeit nicht flächendeckend einzuführen, sondern den Schulen Freiräume zu geben, auch andere Modelle zu erproben, zum Beispiel das Modell des Landesschülerbeirats oder das Modell – es wird auch von Lehrerverbänden und von vielen Lehrkräften eingefordert – der Profiloberstufen. Gerade die Profiloberschulen in Hamburg und in Nordrhein-Westfalen haben gezeigt,

(Abg. Rückert CDU: Oje, oje! – Gegenruf der Abg. Christine Rudolf SPD: Sie wissen doch gar nicht, was das ist, Herr Rückert!)

dass dort durch die Kurskopplungen, die übrigens auch feste, stabile Lerngruppen ermöglichen, fächerübergreifender Unterricht, interdisziplinäres Lernen und neue Unterrichtsmethoden besonders gut funktionieren und besonders gut entwickelt werden. Frau Kultusministerin, Sie brauchen sich deshalb nicht die Haare zu raufen. Es ist so, es ist Fakt.

Kurzum: Wir Grünen wollen die fällige Gesamtreform des Gymnasiums in die Gänge bringen. Das Gymnasium muss ein Ort werden, an dem junge Menschen mit Herz, Kopf und Hand lernen.

(Abg. Rückert CDU: Und Verstand!)

Der Verstand sitzt normalerweise im Kopf.

(Abg. Kiefl CDU: Normalerweise!)

Ich weiß nicht, ob das bei – – Na ja, gut.

(Heiterkeit – Zurufe von der CDU)

Zur Entwicklung einer Persönlichkeit, wie sie das Gymnasium bilden und erzielen muss, gehören auch die Fähigkeit zu selbstständigem Denken, soziale Fähigkeiten, persönliche Haltungen, Werte, Tugenden, Schlüsselqualifikationen und – das ist ganz wichtig – die Bereitschaft, für sich selbst und die Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört ferner die Bereitschaft, lebenslang neugierig, offen, lernbereit und lernwillig zu sein.

Das Gymnasium muss von jungen Menschen Leistung einfordern, aber es muss so ausgestaltet werden, dass sie ihre

Leistungspotenziale auch voll entfalten können. Das Gymnasium zu einem solchen Ort zu machen, wird die Herausforderung für die Lehrer und Lehrerinnen in Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern und den Eltern vor Ort sein. Es gibt viele Lehrkräfte, die sich diesen Zielen schon heute verpflichtet fühlen. Das Gymnasium im Dialog zu entwickeln, wird eine spannende Aufgabe. Dafür lohnt sich die Auseinandersetzung. Ich betone ausdrücklich die Bereitschaft und das Interesse meiner Fraktion, zum konstruktiven Dialog über die Zukunft des Gymnasiums beizutragen. Wir müssen den Lehrkräften die dazu notwendige Unterstützung geben. Sie brauchen Freiräume, sie brauchen Unterstützung und systematische Weiterbildung.

Ich glaube, dass das den Schulen jetzt aufgedrückte Strukturmodell keinen positiven Beitrag dazu leistet. Geben Sie den Schulen die Möglichkeit, verschiedene Möglichkeiten zu erproben! Wir werden nicht viele Jahre brauchen, um Praxiserfahrung zu sammeln. Zum Schluss können wir entscheiden, was in Zukunft die beste Strukturlösung für das Gymnasium ist.

Vielen Dank.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD)

Das Wort hat Frau Abg. Vossschulte.

(Zuruf von der CDU: Jetzt kommt eine Fachfrau!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Lehrer Zeller, die Regierung hat ihre Hausaufgaben gemacht, und zwar gründlich. Das Ganze ist auch nicht wie ein warmer Regen plötzlich über uns gefallen,

(Abg. Zeller SPD: Das sagen Sie! Das bezweifeln sehr viele! – Abg. Braun SPD: Ein kalter Schauer war das! – Abg. Zeller SPD: Mich fröstelt es!)

sondern die Diskussion läuft seit 1989. Die Oberstufenreform ist tatsächlich eine unendliche und unsägliche Geschichte. Dennoch stelle ich erstaunliche Parallelen fest. Die damaligen Erfinder hatten das Bild des strebsamen, eifrigen Schülers vor Augen, der seine Bildung selbst organisiert und sie zielbewusst auf seine Neigungen und Fähigkeiten ausrichtet.

(Abg. Döpper CDU: Ah ja!)

Ich weiß nicht, ob die Damen und Herren, die das damals beschlossen haben, sich selbst im Blick hatten; das kann ich nicht sagen.

(Lachen des Abg. Döpper CDU)

Jedenfalls haben die SPD und die Grünen heute dasselbe Bild wieder im Blick.

Damals ging man des Weiteren noch von einer bildungspolitischen Ideologie aus, nämlich dass alle Schulfächer in gleicher Weise geeignet seien, die Schüler zur allgemeinen Hochschulreife zu führen. Das ist nun leider ein blanker Unsinn, wie sich sehr schnell herausgestellt hat.

(Abg. Rückert CDU: So ist es! – Abg. Bebber SPD: Also, Frau Blank, das würde ich mir nicht gefallen lassen!)

Das wissen auch alle Schüler. Sie wissen mehr oder weniger instinktiv, zumindest nach den ersten gymnasialen Jahren, bei welchen Fächern es sich um leichte und bei welchen um schwere handelt. Das sagen sie auch ganz ungeniert.

Das damalige System hatte und hat bis heute erhebliche Fehler. Ein Fehler war auch das Zulassungsverfahren der ZVS, bei dem lediglich der Notendurchschnitt berücksichtigt wurde, egal ob er im Sport, in Biologie, Philosophie oder Deutsch erreicht wurde; das spielte keine Rolle.

Damit war es eigentlich nur logisch, dass die Schüler sehr schnell zu einer cleveren Auswahl fanden, zu einer Auswahl von Fächern, die Ihnen Erfolg bei der Note garantierten und die sich überhaupt nicht mehr nach Leistung, Neigung oder Fähigkeiten richtete. Das ist klar, denen war das Hemd näher als der Frack. So wäre es bei mir auch gewesen. Das ist den Schülern auch überhaupt nicht vorzuwerfen, sondern lediglich denen, die dieses komische System erfunden haben.

Ein beträchtlicher Teil der Schüler fand nun im Zuge der generellen Umorientierung unserer Gesellschaft heraus, dass die Schule überhaupt nur eine der möglichen Betätigungen im Leben eines Schülers ist und dass deren Anforderungen auf möglichst rationelle und zeitsparende Weise erledigt werden sollten. Auch das halte ich für legitim, solange wir es zulassen.