Protokoll der Sitzung vom 25.10.2000

Meine Damen und Herren, die zukünftigen Strukturen einer Europäischen Union müssen im Konsens geschaffen werden. Auf die Ängste der kleinen Staaten, nationale Besonderheiten einzubüßen und letztendlich unter der Vorherrschaft der großen zu stehen, muss Rücksicht genommen werden.

Meine Damen und Herren, ich sehe aber nicht nur Schwierigkeiten und Befindlichkeiten. In Biarritz wurden auch positive Signale ausgesandt. Dazu gehört die Billigung der Grundrechtecharta, die dann vom Gipfel in Nizza im Dezember verabschiedet werden soll. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung.

Die europäische Grundrechtecharta muss Bestandteil eines europäischen Verfassungsvertrages werden, der die Kompetenzen zwischen Union und den Mitgliedsstaaten eindeutig beschreibt und abgrenzt. Ein entsprechender Kompetenzkatalog wird von deutscher Seite seit langem gefordert. Diese Forderung stößt allerdings auch auf größte Vorbehalte bei anderen europäischen Partnern, so etwa bei dem für institutionelle Reformen zuständigen Kommissar Michel Barnier. Deshalb sind an diesem Punkt schwierige Verhandlungen vorprogrammiert.

Hinzu kommt, dass erhebliche Meinungsunterschiede darüber bestehen, zu welchem Zeitpunkt mit der Diskussion über die Abgrenzung der Kompetenzen begonnen werden sollte. Bundeskanzler Schröder hat vorgeschlagen, eine derartige Kompetenzverteilung erst im Jahr 2004 bei einer Regierungskonferenz vorzunehmen.

Meine Damen und Herren, als Landespolitikerin und engagierte Föderalistin halte ich einen derartigen Zeitpunkt für zu spät. Eine Kompetenzabgrenzung muss rechtzeitig, zumindest aber vor der Erweiterung der Union vorgenommen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die föderalen Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland noch weiter ausgehöhlt werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen eindeutig, dass Brüssel, solange keine klaren Abgrenzungen vertraglich festgeschrieben sind, nicht zimperlich ist, immer weitere Zuständigkeiten an sich zu ziehen. Nach Verabschiedung der Grundrechtecharta kann das übrigens auch sehr schnell der Fall sein.

Die Bundesländer, meine Damen und Herren, müssen jedenfalls ein Interesse daran haben, dass sobald wie möglich eine Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen Ebenen der EU erfolgt. Dabei muss auch geklärt werden, inwieweit es neben konkurrierenden Zuständigkeiten ausschließliche Zuständigkeiten für die Bundesländer geben kann. In diesem Zusammenhang wird es ebenfalls von Bedeutung sein, dass die kommunale Selbstverwaltungshoheit nicht auf dem europäischen Altar geopfert wird

(Beifall des Abg. Kluck FDP/DVP – Vereinzelt Heiterkeit)

und die kommunale Selbstbestimmung in Deutschland gesichert wird.

Meine Damen und Herren, bis zum Jahr 2005 soll die Europäische Union um zehn neue Mitglieder einschließlich Polens erweitert werden. Dies hat der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen erst kürzlich noch einmal deutlich gemacht. Er hat weiter darauf hingewiesen, dass der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen nicht zur entscheidenden Messlatte für den Einigungsprozess führen dürfe. Wenn dieses ehrgeizige Ziel bis zum Jahr 2005 erreicht werden soll, muss allerdings auch eines klar sein: Die Beitrittskriterien dürfen nicht aufgeweicht werden.

Aber es geht nicht nur um die Aufweichung von Beitrittskriterien, sondern es geht dabei auch ganz besonders um deutsche Interessen. Dazu gehört, dass hinsichtlich der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Osteuropäer und hinsichtlich des Umfangs der EU-Mittel zur Unterstützung der Landwirtschaft in den ost- und mitteleuropäischen Beitrittsländern Übergangsregelungen getroffen werden müssen.

Meine Damen und Herren, dazu gehört auch, dass wir die Sicherheitsrisiken einer Erweiterung der EU ernst nehmen. Die neuen Außengrenzen der EU dürfen kein Einfallstor für illegale Einwanderung und Drogen werden. Deshalb sind die Vorgaben des Schengener Abkommens durch die Beitrittskandidaten ohne Abstriche zu erfüllen.

Meine Damen und Herren, als Grenzland mitten in Europa ist Baden-Württemberg von jeher an guten Beziehungen zu seinen europäischen Nachbarn und an vielfältigen Kontakten zu anderen europäischen Regionen gelegen. Wie dies in der Realität aussieht, beschreibt ausführlich der vorliegende Bericht der Landesregierung zur Europapolitik.

Unser Bundesland nimmt bei den grenzüberschreitenden Kooperationen eine Vorreiterrolle ein. Insbesondere die Gemeinschaftsinitiativen INTERREG können sich sehen lassen. Grenzüberschreitende Kooperation ist praktische europäische Politik auf der untersten Ebene. Europa besteht nun einmal nicht nur von oben her, sondern Europa will von unten her aufgebaut sein: bürgernah.

In den verschiedensten politischen Bereichen werden im Land zahlreiche und unterschiedlichste Initiativen ergriffen. Dafür liefert der Bericht der Landesregierung eine Vielzahl von Beispielen. Trotzdem sollten wir uns nicht ausruhen. Insbesondere im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik müssen die bestehenden Partnerschaften und Kooperationen noch stärker ausgebaut werden. Hinzukommen muss ein verstärkter Austausch von Studenten und Schülern mit unseren europäischen Nachbarstaaten.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal meinen alten Vorschlag wiederholen und anregen, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg die Initiative zur Errichtung eines deutsch-polnischen Jugendwerks ergreift – analog zum deutsch-französischen Jugendwerk. Dies wäre ein positives Zeichen an unsere polnischen Nachbarn vor dem Hintergrund der gemeinsamen leidvollen Geschichte und dem Beitritt Polens zur EU, mit dem ein neues und, so hoffe ich, ausschließlich positives Kapitel in den deutschpolnischen Beziehungen aufgeschlagen wird.

Meine Damen und Herren, die Möglichkeiten für das Land Baden-Württemberg, in Europa Politik zu gestalten und Einfluss zu nehmen, sind vielfältig. Damit dies erfolgreich geschieht, sollten wir in Zukunft erneut Schwerpunkte setzen. Insbesondere ist es an der Zeit, die Zusammenarbeit der „Vier Motoren für Europa“ auf eine neue Basis zu stellen. Die Gründungsvereinbarung ist so zu aktualisieren, dass sie den heutigen Gegebenheiten entspricht. Ich rege dazu einen Diskussionsprozess an, in den unter anderem auch die Parlamente der betroffenen Regionen stärker einbezogen werden – mit dem Ziel, die zukünftige Zusammenarbeit konzeptionell zu gestalten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Freien Demokraten treten für ein Europa der Demokratie, der Freiheit, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ein, weil wir meinen, dass dieses Europa eine gute, eine große Chance für die Zukunft unserer jungen Generation bedeutet.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das Wort hat Herr Abg. Krisch.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Thema ist wichtig. Umso bedauernswerter ist es – zwei Vorredner haben das angeschnitten –: Zu Beginn der Debatte waren nur fünf Vertreter der CDU und ein Vertreter der FDP/DVP im Raum. Dabei ist das Thema Europapolitik bedeutend.

Doch eine Frage drängt sich auf: Was versteht eigentlich die Landesregierung unter Europapolitik? Kollege Reinhart sprach davon, dass wir jetzt 50 Jahre Frieden in Europa haben. Aber die zerbombten Donaubrücken und das zerstörte Kosovo scheinen für Sie kein Krieg zu sein. Auch das ist Europapolitik.

Meine Damen und Herren, Politik bedeutet doch, politische Entscheidungen zu treffen und daran durch Initiativen oder Abstimmungen mitzuwirken. Ist das in der EU aber wirklich noch möglich? Wo bleibt denn das tatsächliche Ergebnis der Europapolitik der Landesregierung? Immer noch ist diese EU eine weitgehend undemokratische, aber kostspielig arbeitende Organisation mit falschen Entscheidungsstrukturen, mit viel zu gegensätzlichen Interessen der Entscheidungsträger, und sie ist immer noch unfähig, mehr als den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.

Deshalb ist die Europapolitik dieser Landesregierung, aber leider auch die Europapolitik dieses hohen Hauses in der Praxis nur das Anhören dessen, was Brüssel sagt, und das zustimmende Nicken. Da sind die Forderungen meiner Vorredner, das Land mehr in die europäischen Entscheidungen einzubinden, doch nur leere Worte. Wir haben mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam unsere Souveränität verschenkt und keine Möglichkeiten mehr, mitzuwirken.

(Beifall bei den Republikanern)

Subsidiarität ist nur noch ein leeres Wort. Viel zu oft bewirkten die Entscheidungen der EU die Zerstörung vieler unserer verfassungsmäßigen Grundsätze. Das wurde schon

erwähnt. Ein konkretes Beispiel dieser Tage: Der Vorsitzende des Städtetags Baden-Württemberg, Bernd Doll, bezeichnet die Richtlinien und Planspiele der EU-Kommission zur Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen als Generalangriff der Europäischen Union auf die kommunale Selbstverwaltung.

Meine Damen und Herren, diese Entdemokratisierung und diese Zerstörung demokratischer und verfassungsrechtlicher Grundsätze waren doch von Anfang an Teil und Inhalt der Verträge von Maastricht und von Amsterdam. Wer damals für Maastricht stimmte, Herr Kollege Vetter, der musste das wissen.

Herr Doll erwähnte, bewährte und Demokratie stiftende kommunale Strukturen dürften nicht einer neoliberalen Wirtschaftsphilosophie der EU geopfert werden. Er sagte im Oktober 2000 das, was Republikaner seit 1992 in diesem Parlament sagen. Lesen Sie einmal wieder die Protokolle über die alten Debatten der Jahre 1992 bis 1996.

Kommen wir konkret zum Thema EU-Osterweiterung im Bericht der Landesregierung. Die Landesregierung und offensichtlich auch meine Vorredner betrachten dies als eine politische und wirtschaftliche Notwendigkeit und behaupten, das sei für Deutschland und besonders für BadenWürttemberg ein wirtschaftlicher Vorteil. Haben Sie denn alle die Veranstaltung Agenda 2000 vergessen, die wir hier im November 1998 mit Vertretern von Landesregierung, Landtag und Europäischem Parlament durchführten? Die EU-Osterweiterung war eines unserer Themen. Wir Republikaner hatten damals als einzige Fraktion ein eigenes Papier vorgelegt, und wir hatten im Detail auf all jene Probleme hingewiesen, die heute noch ungelöst sind; denn die EU-Osterweiterung setzt auch die Erweiterungsfähigkeit der Union und institutionelle Reformen voraus, zusätzlich zu all den Forderungen an die Beitrittsländer.

Haben Sie denn alle das Europaforum des Landtags vom Mai 1997 vergessen, bei dem die Stuttgarter Thesen vorgestellt wurden und wir die Stuttgarter Thesen der Republikaner vorstellten,

(Zuruf des Abg. Dr. Caroli SPD)

mit ganz konkreten Vorschlägen für Reformen der Europäischen Union?

Heute wurde wieder gesagt, Einwanderung dürfe kein Wahlkampfthema sein. Und was ist mit dem Migrationsdruck durch die Osterweiterung? Wie wird denn berücksichtigt, dass wegen der EU-Osterweiterung Mittel für Struktur- und Kohäsionsfonds neu zu verteilen sind, und wie wird denn berücksichtigt, dass für die über 60 Millionen zukünftigen EU-Bürger jährliche Transfersummen in Höhe von mindestens 500 Euro pro Person eingesetzt werden müssen, um diese Länder auch nur annähernd so wie Griechenland oder Portugal zu stützen? Das ist nicht finanzierbar, aber das wäre notwendig; denn das kaufkraftbereinigte Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt in den Beitrittsstaaten immer noch bei nur etwa einem Drittel des kaufkraftbereinigten Bruttosozialprodukts der EU-Mitgliedsländer.

Meine Damen und Herren, die EU wird nach der Osterweiterung eine größere wirtschaftliche Ungleichheit und eine

größere soziale Ungleichheit aufweisen als zuvor, mit allen negativen Folgen.

Nur mit einem Nebensatz erledigt die Landesregierung das Problem der grenzüberschreitenden Kriminalität an den östlichen Außengrenzen. Wie wird denn berücksichtigt, dass diese östlichen Beitrittsländer ausnahmslos Transitländer für den internationalen Drogenhandel und die Schleuserkriminalität sind? Und wie wird berücksichtigt, Herr Kollege Caroli, dass diese Beitrittsstaaten weder finanziell noch organisatorisch in der Lage sind, die neuen Außengrenzen so zu schützen, wie es für Deutschland von Interesse wäre?

Schon heute zeigen sich destabilisierende Auswirkungen durch diese Entwicklung für die EU im Ganzen. Doch kein Wort dazu von der Landesregierung. All die hier angeschnittenen Fragen lassen die inneren Probleme der neuen Beitrittsländer völlig außer Acht. Die Auswirkungen auf unseren Sozialstaat und die akuten Probleme des Euro habe ich damit noch gar nicht angesprochen.

(Beifall bei den Republikanern – Abg. Dr. Caroli SPD: Alternativen?)

Das Wort hat Herr Abg. Hauk.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines scheint festzustehen: Der europäische Wille ist zumindest bei den vier demokratischen Parteien durchaus vorhanden. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen von Rot und von Grün

(Abg. Krisch REP: Schöne Worte, Herr Kollege!)

das kann ich aufgreifen, Herr Kollege Krisch –, Sie produzieren hier schöne Worte und verdecken dabei, dass Ihre Bundesregierung mittlerweile vor einem europapolitischen Scherbenhaufen steht. Das ist die Tatsache. Das begann im letzten Jahr bei den Verhandlungen zur Agenda 2000,

(Zuruf des Abg. Dr. Hildebrandt Bündnis 90/Die Grünen)

als genau die Fragen, die uns in den nächsten Jahren beschäftigen werden, und zwar auch unser Bundesland, verzockt worden sind.

Für sieben Jahre hätte ein Finanzierungsrahmen erstellt werden sollen. Vor lauter Druck, nach dem Motto: „Wir wollen unsere Position als Nettozahlerland verbessern“, gab Schröder de facto in allen anderen Punkten gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten nach, um die Verhandlungen auf alle Fälle zu einem Erfolg zu bringen. Das führte dazu, dass die Mittel weiterhin in Länder wie Portugal und Spanien, die heute die Mittel aus dem Kohäsions- oder dem Strukturfonds in diesem Umfang gar nicht mehr brauchen, fließen und sie nicht zur Osterweiterung zur Verfügung stehen.

Das führte weiterhin dazu, dass die zweite Säule in der Agrarpolitik, nämlich Infrastrukturmittel für den ländlichen Raum, auf einen nahezu lächerlichen Betrag von 4 Milliarden Euro gedeckelt wurde. Eine Aufstockung dieses Betrags, wie von Fischler vorgeschlagen, wäre notwendig gewesen, um in den Beitrittsländern in den ländlichen Räu

men überhaupt einigermaßen Angleichungen in der Struktur zu erzielen.

(Beifall des Abg. Seimetz CDU)

Das, meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot und von Grün, haben Sie schlichtweg verzockt.

(Abg. Brechtken SPD: Das sagt er nach 16 Jahren Kohl!)