Protokoll der Sitzung vom 26.10.2000

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Ich eröffne die 97. Sitzung des 12. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Drautz erteilt.

Krank gemeldet sind die Herren Abg. Brinkmann, Herrmann und Wabro.

Dienstlich verhindert sind der Herr Ministerpräsident, Herr Innenminister Dr. Schäuble, Herr Sozialminister Dr. Repnik, Herr Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst von Trotha sowie die Herren Staatssekretäre Stächele und Rückert.

Meine Damen und Herren, heute hat unser Kollege Heinz Goll Geburtstag.

(Beifall im ganzen Haus)

Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege Goll, im Namen des ganzen Hauses herzlich und wünsche Ihnen alles Gute, vor allem Gesundheit.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Streichung des Buches „Eine Liebe in Deutschland“ von Rolf Hochhuth als Pflichtlektüre für das Abitur 2002 – beantragt von der Fraktion der SPD

Das Präsidium hat die üblichen Redezeiten festgelegt: 50 Minuten Gesamtdauer ohne Anrechnung der Redezeit der Regierung, fünf Minuten für die Eingangserklärungen und fünf Minuten für die Redner in der zweiten Runde.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Reinelt.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es gibt hier noch elf Abgeordnete, die sich, weil sie damals schon dabei waren, noch wie ich an die Plenardebatte vom 9. Juni 1978 erinnern. Von diesen sehe ich hier im Augenblick allerdings nur zwei. Einer von Ihnen ist Herr Kollege Moser. Herr Kollege Birzele war an dem genannten Tag krank.

(Abg. Rech CDU: Ach Gott! – Unruhe)

Meine Damen und Herren, in dieser Debatte ging es vor allem um den berüchtigten Filbinger-Satz: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Der SPD-Frak

tionsvorsitzende Erhard Eppler hat ihm damals dafür ein „unheilbar gutes Gewissen“ attestiert

(Zuruf des Abg. Weiser CDU)

und den damaligen Ministerpräsidenten mit dessen Gedenkrede konfrontiert, die er im Jahre 1960 auf die Männer von Brettheim im hohenlohischen Brettheim gehalten hatte. Vielleicht wissen einige von Ihnen noch, dass diese Männer am 10. April 1945 nach der Entwaffnung von Hitlerjungen nach Nazirecht gehenkt wurden und zur Abschreckung hängen bleiben mussten.

Der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Erwin Teufel hat in dieser Debatte den Ministerpräsidenten verteidigt, indem er unter anderem sagte – und das ist auch heute noch unserer Aufmerksamkeit wert –:

Die Angriffe gegen Herrn Dr. Filbinger richten sich aber nicht nur gegen ihn. Sie treffen – ob Sie das wollen oder nicht – eine ganze Generation.

Wer diese Debatte damals mitverfolgt hat – ich kann sie wegen ihrer Bedeutung und wegen des Erschreckens nicht vergessen – oder wer diese Debatte im Plenarprotokoll 7/53 nachliest, der weiß, dass nicht wenige in der CDU Herrn Hochhuth den folgenden Satz niemals verzeihen:

Am wenigsten sind die Behörden des Landes BadenWürttemberg daran interessiert, die in ihrem Bundesland lebenden und dort Pension verzehrenden Mörder dieses – und zahlloser anderer – Gefangener, die aus dem gleichen „Grund“ dilettantisch gehängt, das heißt: erwürgt wurden, dingfest zu machen. Ist doch der zurückgetretene Ministerpräsident dieses Landes, Dr. Filbinger, ein so furchtbarer Jurist gewesen, dass er noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod deutsche Matrosen mit ehemaligen Nazigesetzen verfolgt hat.

Meine Damen und Herren, Herr Filbinger ist deswegen vor Gericht gegangen,

(Zuruf des Abg. Weiser CDU)

und Herr Hochhuth hat Recht bekommen. Er durfte lediglich nicht wieder sagen, dass Filbinger seine Freiheit, wenn ich es richtig im Kopf habe, dem Schweigen anderer verdanke.

18 Jahre nach dieser Debatte gab es eine versöhnende Geste. Sie, Frau Dr. Schavan, waren damals schon Kultusministerin. Die für die Auswahl der Pflichtlektüre zum Abitur zuständige Kommission hat das Buch „Eine Liebe in

Deutschland“ für das Abitur 2002 vorgeschlagen. Das Kultusministerium hat dies akzeptiert.

Vier Jahre später – darum geht es heute –, übrigens ausgerechnet am Geburtstag von Herrn Filbinger, rief ein Ministerialrat bei der Vorsitzenden der erwähnten Kommission an und sagte, das Buch werde zurückgezogen, er habe den entsprechenden Erlass unterschreiben müssen.

Wenige Tage danach ging dieser Erlass mit Datum vom 15. September – Filbingers Geburtstag – bei den Schulen ein. Begründung: fehlende Sekundärliteratur. Da diese Begründung nachweisbar falsch ist, wurde eine andere nachgeschoben: Was vorliege, sei für den Unterricht nicht aufbereitet.

Meine Damen und Herren, wie immer es auch sei: Es handelt sich um einen einmaligen Vorgang. Die Kommission hat erklärt, die Frage der Sekundärliteratur habe bei der Auswahl nie eine Rolle gespielt. Es gibt andere Beispiele dafür.

Ich möchte noch ganz besonders herausstellen: Das Kultusministerium hat den betroffenen Lehrerinnen und Lehrern ein vernichtendes Urteil ausgestellt. Denn sie seien auch nach zwei Staatsexamina nicht in der Lage, diesen Text für ihre Schülerinnen und Schüler sowie mit ihren Schülerinnen und Schülern zu interpretieren. Was durch das Ministerium folgte, war eine feige Zuweisung der Schuld an die Adresse der Kommission.

Das alles ist dargestellt worden. Die Kommission ist inzwischen auch zurückgetreten, weil sie sich von der Ministerin desavouiert fühlt und weil sie vermutet, dass die Entscheidung keine fachliche, sondern eine parteipolitische Grundlage habe.

Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion kann zu keiner anderen Wertung kommen. Wir sehen uns in dieser Meinung durch die Aussage des Kultusministeriums bestärkt – nachzulesen in der „Stuttgarter Zeitung“ –, dass die Ministerin diese Entscheidung nicht initiiert habe. Die Ministerin sei von der zuständigen Abteilung über die Entscheidung lediglich in Kenntnis gesetzt worden. Wenn dies stimmte, so würde Frau Dr. Schavan bei der Tragweite dieser Entscheidung ihr Ministerium nicht leiten.

(Beifall bei der SPD)

Aber gerade weil auch ich ministerielle Willensbildung kenne, halte ich diese Aussage für abenteuerlich. Ich halte sie für eine unwahre Konstruktion.

Hier geht es um ein Exemplar politischer Literatur, das höchste und nachweisbare Wirkung erzielt hat. Die Wirkungsgeschichte ist auch dokumentiert. Diese Erzählung ist aus der baden-württembergischen Zeitgeschichte nicht wegzudenken. Sie beschreibt schmerzhaft, was eintritt, wenn es keine Zivilcourage mehr gibt.

Die Absetzung der Erzählung als Pflichtlektüre für das Abitur fällt in eine Zeit der Gewalt gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Gewalt gegen Synagogen und Gedenkstätten. Die Absetzung erfolgt zeitgleich mit

Appellen von ganz oben an die Bürgerinnen und Bürger: Wehrt euch, verteidigt das Grundgesetz, ihr seid jetzt gefragt,

(Zuruf von den Republikanern: Das haben wir ges- tern gemacht!)

zeigt Zivilcourage!

(Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Reinelt, ich darf Sie bitten, zum Ende zu kommen.

Ich bin mit meiner Rede gleich fertig, Herr Präsident.

Zur gleichen Zeit, meine Damen und Herren, diskutieren wir hier im Plenum über den Kampf gegen Rechtsextremismus.

Vor diesem Hintergrund wäre eine solche selbstständige Entscheidung einer Abteilung ein unglaublicher und irreparabler Vertrauensbruch der Ministerialbürokratie. Da ich an einen solchen Vertrauensbruch nicht glaube, an ein solches Die-Ministerin-ins-Messer-laufen-Lassen, an eine solche Instinktlosigkeit oder katastrophale Dummheit in einem unserer Ministerien, ist das für mich der Beweis dafür, dass man die Ministerin jetzt aus der Verantwortung nehmen will. Aber Ihre politische Verantwortung für diese Entscheidung, Frau Dr. Schavan, die Sie auch stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU und stellvertretende Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sind, können Sie nicht delegieren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten des Bünd- nisses 90/Die Grünen)

Sie tragen die politische Verantwortung für diese Verneigung nach rechts.

(Abg. Seimetz CDU: Oh! – Abg. Hauk CDU: Al- so, Herr Reinelt, diese Betroffenheitskultur, die Sie hier verbreiten wollen: Überhöhen wir doch nicht! – Weitere Zurufe – Unruhe)

Meine Damen und Herren, damit das ganz klar ist: Es geht hier nicht um Rechtsradikalismus, wie ihn Rolf Hochhuth der Ministerin leichtfertig und ungerecht unterstellt hat. Darum geht es nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Aber angesichts der Todesurteile und der Debatte von 1978 ist jeder Versuch einer Filbinger-Rehabilitierung alles andere als eine Abgrenzung nach rechts, von der Rita Süssmuth und Heiner Geißler anlässlich der Vorstellung des neuen Buches von Frau Süssmuth gesagt haben, dass die CDU diese Abgrenzung nach rechts noch nie geschafft habe. Auch Sie, Frau Dr. Schavan, haben sich nicht abgegrenzt. Vielmehr polstern Sie als Quereinsteigerin in die baden-württembergische CDU Ihren Platz im Landesverband mit anbiedernden Gesten nach rechts aus.