Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

(Zuruf des Abg. Zeller SPD)

Wir haben uns ganz klar zum bedarfsgerechten Ausbau der Ganztagsschule bekannt – um dies deutlich zu sagen, damit auch bei dieser Debatte keine Legende gebildet wird. Der Ministerpräsident hat deutlich gesagt: Das qualifizierte Ehrenamt ist eine wichtige ergänzende Notwendigkeit. Aber der Ministerpräsident hat auch bei anderen Gelegenheiten immer wieder gesagt, dass wir im Zuge des Rückgangs der Schülerzahlen ab 2007 auch Ressourcen frei machen wollen, um diese auch für den Ausbau von Ganztagsschulen zu investieren.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Aber in der Re- gierungserklärung steht dazu nichts!)

Nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis. Klar ist: Eine Ganztagsschule kann nur genau auf diesen beiden Säulen funktionieren: Professionalität durch hauptamtliche Lehrkräfte und ergänzendes Ehrenamt. Das ist unser Konzept, meine Damen und Herren, und nichts anderes hat der Ministerpräsident gesagt.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: In der Regie- rungserklärung steht aber nichts davon!)

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ganz zum Schluss noch ein Zitat aus der „Stuttgarter Zeitung“ von heute – damit schließt sich der Kreis –, aus einem Artikel von Werner Birkenmaier:

Kinder wissen das nicht von sich aus. Sie sind angewiesen auf Eltern, die die Zusammenhänge erkennen.

Wenn von ihnen kein Bildungsimpuls ausgeht, nützen auch die Zugangschancen nichts. Die Familien sind der Schlüssel zur Bildung, nicht die Schulen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zurufe von der SPD und den Grünen)

Meine Damen und Herren, wenn wir erkennen, wie wichtig dies für die bildungspolitische Debatte ist, dann sind wir ein Stück weitergekommen.

Zur Qualitätsentwicklung wird anschließend Kollege Röhm noch einiges sagen.

Ich danke Ihnen für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Schmiedel: Das war ja schändlich zum Schluss! Wollen Sie die Kinder hängen lassen? – Gegenruf des Abg. Röhm CDU: Das wollen Sie gar nicht hören!)

Das Wort erhält Frau Abg. Berroth.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Nachdem wir heute Vormittag unter anderem vom schulreifen Kind gesprochen haben, geht es nun um das Projekt „Ausbildungsreife Jugendliche“. Die zur Debatte stehenden Anträge gehen ja auf fünf Anhörungen des Schulausschusses zu praktisch allen bildungspolitischen Themenfeldern vor dem Hintergrund der ersten PISA-Untersuchungen zurück, Anhörungen, die auch von der FDP/DVP-Fraktion gern mitgetragen wurden.

Baden-Württemberg hat auf diese ersten PISA-Untersuchungen rasch reagiert, unter anderem durch die Einführung von Bildungsstandards als Mindestanforderungen. Das ist übrigens etwas, was ich schon in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen hatte. Baden-Württemberg hat mit diesem Paradigmenwechsel bundesweit eine Vorreiterrolle eingenommen.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP – Abg. Röhm CDU: Sehr gut!)

Genauso haben wir, auch wenn die Opposition das jetzt völlig anders darstellt, eine Vorreiterrolle im Sprachförderprogramm

(Abg. Capezzuto SPD: Was? Wann denn?)

im Vorschulalter mit Sprachstandsdiagnose. Auch das ist übrigens ein Thema, das Justizminister Goll schon in der letzten Legislaturperiode mehrfach angemahnt hatte, was auch dazu beigetragen hat, den Sprachunterricht auf den Weg zu bringen.

Wir haben den Bildungsauftrag des Kindergartens gestärkt und verstärkt Ganztagsschulen ausgebaut – im Gegensatz zur vorher regierenden großen Koalition.

Die Weiterentwicklung im gesamten Bereich Bildung und Betreuung war soeben Gegenstand von Regierungserklärung und Aussprache. Ich möchte zur Ganztagsschule noch einen kleinen Nachtrag bringen. Wir hatten eine beachtliche

quantitative Entwicklung auch schon vor dem IZBB. Das Zukunftsprogramm gemäß Regierungserklärung zeigt eine ganz klare Hinwendung zur von uns schon lange geäußerten Zielvorstellung der FDP/DVP, für jedes Kind Ganztagsangebote in erreichbarer Nähe, und zwar in jeder Schulart, zu schaffen.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Der Einstieg dazu war übrigens die ebenfalls von uns mit vorangetriebene verbindliche Halbtagsschule. Bezüglich der Ganztagsschule müssen inhaltlich-konzeptionelle Fragen noch stark in den Mittelpunkt rücken. Unser Ziel ist eine gute Mischung zwischen gebundener und offener Ganztagsschule.

Nachdem nun die Ergebnisse von PISA 2003 vollständig vorliegen, sollen sie heute diskutiert werden. Wir sollten allerdings nicht den Eindruck erwecken wollen, dass diese Ergebnisse heute fundiert diskutiert werden könnten. Das bedarf wirklich gründlicherer Lektüre und irgendwann einmal auch der Klärung grundsätzlicher Fragen. Das fängt bei der vergleichsweise noch einfachen Frage an, wie rasch man realistischerweise überhaupt mit durch PISA induzierten Verbesserungen der Ergebnisse und der Leistungsfähigkeit von Schulen und Bildungssystemen rechnen kann.

Ein Beispiel: Die verstärkte Förderung im Kindergarten kann sich bei PISA frühestens in fünf bis zehn Jahren auswirken.

(Abg. Marianne Wonnay SPD: Deshalb sollte man heute anfangen!)

Also kann man heute noch gar nicht heulen und mit den Zähnen klappern, weil die Ergebnisse noch gar nicht klar sind.

(Zuruf der Abg. Marianne Wonnay SPD)

Wir haben angefangen; wenn Sie das aber nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dann ist das Ihre Sache. Wir tun etwas, wir reden nicht nur.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP – Abg. Capezzuto SPD: Sag einmal!)

Unstreitig ist allerdings – das ist zu Recht das Hauptthema dieser Debatte –: PISA 2003 belegt erneut den in Deutschland und auch in Baden-Württemberg leider inzwischen sehr starken Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft. Wir müssen dabei zwei Aspekte unterscheiden:

Zum Ersten die Zugangsgerechtigkeit, das heißt die Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeit des Zugangs zu Gymnasium, Abitur und Hochschule von der sozialen Herkunft. BadenWürttemberg schneidet hier bei PISA unter Wert ab, allerdings vor allem deshalb, weil der Weg zum Abitur über ein berufliches Gymnasium, das bei uns immerhin ein Drittel der Abiturienten besuchen, unberücksichtigt bleibt. Ich habe das einmal hochgerechnet: Wenn man das berücksichtigen würde, dann hätten Kinder aus der sozialen Oberschicht in Baden-Württemberg nicht eine 4,4-mal so große Chance, ein Gymnasium zu besuchen, wie Kinder aus Facharbeiterfamilien, sondern nur eine 3,3-mal so große Chance. Das

wäre dann schon besser als der Durchschnitt in Deutschland und etwa in der Mitte der Reihe der Länder.

Zum Zweiten geht es um die Frage der Fördergerechtigkeit, das heißt die Abhängigkeit der Ausschöpfung der Leistungsfähigkeit in den einzelnen Kompetenzbereichen durch Förderung im Elternhaus oder in der Schule. Das ist in der Tat ein Thema, das unser Schulsystem betrifft. Dies ist der Grund dafür, Herr Zeller, dass ich vorhin bei Ihnen ein bisschen Laut gegeben habe. Aus meiner Sicht ist unser Schulsystem, egal welche Struktur es hat, viel zu sehr davon abhängig, dass nachmittags nachgearbeitet wird. Das ist die eigentliche soziale Ungerechtigkeit, weil die einen Kinder entweder von den Eltern oder von Nachhilfeinstituten das, was morgens vielleicht noch nicht so ganz kapiert wurde, nachbearbeitet bekommen und die anderen eben niemanden haben, der sie unterstützt und den sie befragen könnten.

(Beifall des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Diese schlechte Ausschöpfung der Potenziale wird von der Opposition regelmäßig mit sattsam bekannten Rezepten bekämpft: längere Zeit gemeinsamen Lernens, Gesamtschule. Ich werde nachher noch etwas dazu sagen, für wie sinnvoll ich diesen Weg halte. Denn der Erfolg dieser Rezepte wird durch nationale und internationale PISA-Befunde gerade nicht bestätigt.

Professor Manfred Prenzel, der Leiter des deutschen PISAKonsortiums, sagt – ich zitiere wörtlich –

Nüchtern betrachtet ist die Frage der Schulstruktur ein Faktor neben vielen anderen.

Er warnt ausdrücklich davor, die Bedeutung des Schulsystems und der Dauer des gemeinsamen Lernens zu überschätzen. Das Problem sei – sagt er –, dass dieser Faktor in Deutschland mit ideologischen Positionen verbunden ist. Das haben wir in dieser Debatte gerade wieder deutlich gehört.

Er sagt noch ein Weiteres: Auch die Ausgaben für Bildung sind für ihn nur eines von vielen Kriterien. Auch das wird ja häufig angeführt. PISA hat eindeutig ergeben, dass die Erfolge eben nicht davon abhängen, wie viel Geld hineingesteckt wird, sondern dass sie von ganz anderen Dingen abhängen, nämlich von der Pädagogik und der Art, wie sie angewendet wird, und zum Beispiel auch von der Motivation der Lehrer. Wir dürfen die Finanzen natürlich nicht ganz außer Acht lassen. Auch in meiner Rede werde ich noch ein paar Sachen nennen, die ich mir wünschen würde, die wir aber sicher nicht gleich in vollem Maße umsetzen können. Aber da gilt es nun eben, diese Gratwanderung zu gehen zwischen einem verfassungsgemäßen Haushalt, der uns sehr wichtig ist, und der Frage, inwieweit wir unseren Kindern Schuldenberge hinterlassen

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Das tut ihr doch! Ihr seid doch die Schuldenmeister!)

oder inwieweit wir schauen, dass wir Dinge so effizient lösen, dass das auch mit geringerem Finanzeinsatz geht.

Es besteht Einigkeit hier im Haus, denke ich, über die Forderung: Der Schulerfolg muss von der sozialen Herkunft entkoppelt werden.

(Abg. Schmiedel SPD: Aber nicht bei Wacker! Der lehnt das ab!)

Die Frage ist nur, Kollegin Rastätter: Sie haben mehrfach von der Zugangsgerechtigkeit gesprochen und dabei immer die weiterführenden Schulen angeführt. Meiner Ansicht nach findet diese Zugangsgerechtigkeit aber nicht in den weiterführenden Schulen statt und erst recht nicht in den beruflichen Schulen, bei denen Sie das erwähnt hatten. Die Entscheidung darüber, wer die Fähigkeit hat und wer so weit entwickelt ist, findet vielmehr in der Grundschule statt. In dieser Grundschule gelingt es offensichtlich nicht, soziale Differenzen auszugleichen. Deswegen hilft es auch überhaupt nichts, wenn die Grundschule sechs Jahre statt vier Jahre dauert. Im Gegenteil, dann würde das wahrscheinlich noch schlimmer. Sie schieben da einen Popanz vor sich her, der die Sache nicht trifft.

(Zurufe der Abg. Regina Schmidt-Kühner SPD und Kretschmann GRÜNE)

Wir müssen in der ersten Stufe sicherstellen – darüber herrscht, glaube ich, Einigkeit; nur nicht in der Frage, wie man das erreicht –, dass alle, aber auch wirklich alle, die in der Schule sind, Deutsch sprechen und verstehen.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Das ist das A und O, weil es auch denen hilft, die schon Deutsch können, wenn alle im Unterricht mitmachen können und nicht ein paar stören, weil sie gar nicht folgen können.