Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

Das ist das A und O, weil es auch denen hilft, die schon Deutsch können, wenn alle im Unterricht mitmachen können und nicht ein paar stören, weil sie gar nicht folgen können.

Wir müssen zum Zweiten – das ist eine pädagogische Forderung – mehr Binnendifferenzierung in die Schulen bringen. Das ist eine Frage der Weiterbildung, der Bildung der Lehrer. Ich verspreche mir einiges davon, dass wir in den nächsten Jahren auch einen Generationswechsel in der Lehrerschaft bekommen. Das heißt, es rücken mehr jüngere Kolleginnen und Kollegen nach, die solches bei ihrer Ausbildung schon selbstverständlich gelernt haben.

Aber wir brauchen als Drittes – das ist mir ganz wichtig und noch kaum angesprochen worden – eine gesellschaftliche Veränderung. Wir müssen einmal überlegen, was wir eigentlich von dieser komischen Wertschätzung der Abschlüsse halten. Auch hier wurde wieder davon geredet: Jeder muss Abitur machen können. Was bringt das denn? Wenn jeder Abitur hätte, dann wäre das gar nichts Besonderes mehr.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Dann müsste man wieder nach guten und nach schlechten Abiturienten differenzieren.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Dann wäre in der Sache null erreicht.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Es geht darum, dass sie die gleichen Chancen haben!)

Mir ist es viel lieber, ich habe einen Hauptschüler, der seinem Unterricht gut folgen kann und dort auch gute Ergebnisse zeigt und ein vernünftiges und solides Selbstbewusstsein entwickeln kann,

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Es geht ums Hirn, Frau Kollegin! – Zuruf des Abg. Fischer SPD)

oder eine Realschülerin, die nicht mit Wissenschaft geknetet wird, wenn sie das nicht will und nicht braucht, sondern eine angemessene Ausbildungsart benötigt. Ich schätze alle Abschlüsse. Ich habe es schon einmal gesagt: Ich persönlich kenne viel mehr zufriedene Handwerker als zufriedene Akademiker.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Das war jetzt reine Ideologie!)

Wir brauchen nicht nur Akademiker in unserem Land. Wir brauchen genauso Facharbeiter und Arbeiter. Jeder tut an seiner Stelle etwas Wichtiges, und niemand ist deshalb besser oder schlechter.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Wenn jemand sozial nicht zufrieden ist, dann hat das doch nichts mit seinem Beruf zu tun!)

Das sollten wir in unserer Gesellschaft einmal umsetzen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Deswegen verstehe ich es überhaupt nicht, wenn die GEW in der Überschrift ihrer aktuellen Pressemitteilung schreibt, sie wolle „Gleiche Chancen für Arbeiter- und Chefarztkind“. Dazu stehe ich voll. Aber dann heißt es: „Zwei Drittel der... Realschüler... könnten... auch ein Gymnasium besuchen.“ Damit ist niemandem weitergeholfen. Übrigens: Ein Drittel der Realschüler besucht hinterher ein Gymnasium und macht das Abitur.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Es geht ums Hirn, Frau Kollegin!)

Genau darum geht es. Sie drehen sich immer in den gleichen Kreisen und denken nicht einmal an das, wovon ich gerade gesprochen habe. Deswegen kommen Sie auch nicht voran.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Abg. Kretschmann GRÜNE: Dann reden Sie doch mal mit Handwerkern, dann werden Sie feststellen, dass sie derzeit nicht zufrieden in ihrem Beruf sind! – Zuruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Ich kenne mich mit Handwerkern vermutlich ein bisschen besser aus als Sie. Es hat viel mit der rot-grünen Politik in Berlin zu tun, dass es ihnen gerade schlecht geht. Wenn Sie schon danach fragen, dann muss ich Ihnen das auch sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Das Gleiche gilt für die Umbenennung der Schulen in Regionalschulen. Das ist, als wenn Sie aus der Putzfrau eine „Raumkosmetikerin“ machen oder aus den Alten „Senioren“. Da ist in der Sache überhaupt noch nichts gewonnen. Da ist nur ein neues Etikett daraufgeklebt, das auch noch Geld kostet. Das können wir uns schenken.

Wir müssen die Braut Hauptschule richtig schön machen, damit ein Hauptschüler wirklich einen guten Erfolg am Ausbildungsmarkt hat.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Ja, und wo hat der das?)

Damit muss man im Kindergarten anfangen, und eben das macht Baden-Württemberg. Da sind wir auf gutem Wege, aber Sie müssen uns schon die Zeit dazu lassen, richtig anzukommen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Wer nimmt heute schon Hauptschüler?)

Ich kenne sehr viele, die Hauptschüler mit einem guten Abschluss viel lieber nehmen als Realschüler, die mit einem schlechten Realschulabschluss ankommen.

(Abg. Zeller SPD: Sie haben von Hauptschule kei- ne Ahnung, Frau Berroth! Keine Ahnung!)

Das wurde leider von Ihnen vorangetrieben, dass man immer meint, man müsse einen möglichst hohen Abschluss haben, und alles andere sei nichts wert. Dafür tragen gerade Sie große Verantwortung, Herr Zeller.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Wir haben einen ersten Erfolg heute schon ganz deutlich benannt und gesagt, dass unser Projekt „Förderung der Hauptschule“ erfolgreich ist. Wir haben in BadenWürttemberg die bundesweit geringste Zahl der Abgänger ohne Abschluss. Das ist für mich etwas ganz Wichtiges.

Ich füge zu dem Thema aber auch noch hinzu: Die Politik sollte ihre Möglichkeiten nicht überschätzen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Dann schmeißen Sie aber Ihre Rede gleich in den Papierkorb! – Verein- zelt Heiterkeit)

Klar ist: Wir können und müssen die Rahmenbedingungen gestalten. Dafür spreche ich mich ausdrücklich aus.

(Zuruf des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Ich habe Ihnen auch nicht dazwischengequatscht, vor allem nicht so unsachlich.

(Abg. Zeller SPD: Aber es ist fast nicht erträglich, was Sie da sagen!)

Jetzt hören Sie einmal zu, weil es um das geht, was Sie auch wollen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Wenn ich zuhöre und mal einen Zwischenruf mache, sind Sie auch nicht zufrieden! – Gegenruf des Abg. Dr. Noll FDP/ DVP)

Ich habe ja noch fünf zusätzliche Minuten, weil ich nicht begründen durfte.

Ich spreche mich ausdrücklich dafür aus, dass sich der im nächsten Jahr neu gewählte Landtag für mehr Stütz- und Förderstunden pro Klasse einsetzt. Das ist wichtig, um die Klasse immer wieder auf den gleichen Stand zu bringen. Es ist bedauerlich, dass man diese Stunden aus Finanzgründen abgeschafft hat. Dieses Instrument werden wir wieder brauchen.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Ich setze mich jetzt nach hinten, damit Sie meine Zwischenrufe nicht mehr hören!)

Aber die tatsächliche Realisierung sozialer Chancengleichheit kann nicht die Politik gestalten, sondern sie muss im Klassenzimmer stattfinden. Glücklicherweise gibt es in Baden-Württemberg viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die diese Aufgabe ernst nehmen und gut bewältigen. Darum schneiden wir auch bei PISA gut ab.

Aber bei den Übrigen würde ich mir schon manchmal wünschen, dass sie ihre Energie weniger darauf verwenden, sich immer nur darüber zu beklagen, was fehlt und was nicht geht. Ich fordere sie stattdessen auf: Tun Sie doch einfach wenigstens einmal das, was bereits geht. Dann sind wir schon ein gewaltiges Stück weiter.

Natürlich haben Eltern Verantwortung für Bildung und Erziehung. Aber wir müssen auch klar zur Kenntnis nehmen, dass es Eltern gibt, die dieses nicht können – aus welchem Grund auch immer. Deren Kinder dürfen wir nicht im Regen stehen lassen. Deswegen weiß ich nicht, wie ein Lehrer es mit seiner Berufsauffassung und seiner Verantwortung vereinbaren kann, Kinder in der Klasse zu haben, die nicht lesen können.

(Abg. Fischer SPD: Ja!)

Ich kann mir das nicht vorstellen. Wenn ich Lehrerin wäre, würde ich mich um diese Kinder kümmern, oder ich würde organisieren, dass sie lesen lernen. Das ist etwas, was ich wirklich nicht verstehe.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Berufswechsel!)

Das Gleiche gilt übrigens für das Rechnen – ich sage bewusst nicht Mathematik.

Dass wir diese Kinder nicht im Regen stehen lassen und dass wir die Begabten so fördern und fordern, dass sie sich ihrer Begabung entsprechend im Schulleben positiv entwickeln, daran müssen Politik, Eltern und Lehrerschaft arbeiten, und zwar viel intensiver. Seitdem ich im Landtag bin, führen wir immer die gleichen Strukturdebatten.