Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

(Der Redner hält eine Broschüre hoch. – Minister- präsident Oettinger: Wo ist das Problem?)

„Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ Dieses alte Motto der Grünen hat für uns auch heute nichts an Gültigkeit verloren. Es stellt klar: Die Bedürfnisse von Kindern stehen im Mittelpunkt unserer Politik. Baden-Württemberg soll kinderfreundlicher werden für alle Kinder, die hier leben. Wir machen uns stark für eine Politik, die die Zukunft unserer Kinder sichert und Kinder ernst nimmt. Kinderfreundliche Politik lässt sich aber nur im Zusammenspiel von Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Frauen- und Umweltpolitik, von Städtebau-, Wohnungs- und Verkehrspolitik verwirklichen.

(Abg. Drexler SPD: Das ist ja von euch abgeschrie- ben, die Regierungserklärung!)

Man sieht also: Auch in der Querschnittsorientierung ist die Regierung uns gefolgt, und ein altes grünes Motto hat sich heute bewährt: Eine gute Opposition regiert mit.

(Beifall bei den Grünen – Lachen bei Abgeordne- ten der CDU – Abg. Pauli CDU: Bewerbungsge- spräch! – Abg. Mappus CDU: Suchen Sie einen Job, Herr Kretschmann?)

Auf allen Gebieten, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der frühkindlichen Bildung, der Kleinkindbetreuung und insbesondere der Ganztagsschulen, musste die Regierung, wenn auch leider sehr spät, unseren Konzepten folgen, weil es Konzepte sind, die die Mehrheit unserer Bevölkerung in diesem Land Baden-Württemberg seit langem will und fordert. Das ist der wirkliche Grund für diesen Erfolg, den wir heute begrüßen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Man muss sich einmal Formulierungen vornehmen wie: „Der Ausbau und die Weiterentwicklung von Ganztagsschulen ist deshalb ein zentraler familien- und bildungspolitischer Schwerpunkt der Landesregierung.“ Wenn man sich erinnert, was die CDU-Fraktion noch vor Jahren an Zwischenrufen zu diesem Thema gemacht hat,

(Zuruf von der SPD: So ist es! – Abg. Drexler SPD: „Freiheitsberaubung“ war einer der Zwi- schenrufe! – Weitere Zurufe von der SPD und den Grünen)

dann weiß man, was hier für ein Erdbeben stattgefunden hat.

Ich bin kein Prophet, aber ich möchte doch eine Voraussage machen aufgrund dessen, was wir jetzt hier gesehen haben: Auch Sie werden den Schwenk vom dreigliedrigen Schulsystem zu einem gemeinsamen längeren Lernen und einer neunjährigen Basisschule machen.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Wir sehen es schon in Hamburg, wo die CDU fordert, die Hauptschule abzuschaffen

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Aha!)

und sie mit der Realschule zusammenzulegen.

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Aha!)

Auch diesen Weg, den wir hier schon lange vorgeben, werden Sie beschreiten.

(Abg. Mappus CDU: Nein! Ganz sicher nicht!)

Vorsichtig sein! Es holt einen alles ein, Herr Kollege Mappus.

(Abg. Alfred Haas CDU: Das gilt auch für Sie! – Abg. Blenke CDU: Das gilt umgekehrt auch!)

Endlich wird auch nicht mehr nur Selbstbeweihräucherung betrieben wie unter Teufel und Schavan, sondern auch ein kritischer Blick auf das Bildungssystem in Baden-Württemberg geworfen, denn wir haben in ihm ein massives Gerechtigkeitsproblem: Bildungschancen werden in Baden-Württemberg nach sozialer Herkunft gleichsam vererbt. Diese zentrale Gerechtigkeitslücke muss in der Tat angegangen werden, denn in der Wissensgesellschaft entscheiden eine gute Bildung und Ausbildung über soziale Teilhabe in der Gesellschaft. Chancengleichheit und Zugangsgerechtigkeit für unsere Kinder und Jugendlichen sind die grundlegenden Herausforderungen für ein gerechtes Baden-Württemberg.

Jetzt kommt die Kritik.

(Abg. Mappus CDU: Oi! Ich habe gedacht, wir ha- ben das gemacht, was Sie gefordert haben!)

Die Wende und der Kurswechsel kommen zu spät. Wir sitzen auf einem Berg von Schulden vor einem Berg von Problemen. Wir werden Sie an dem zentralen Satz Ihrer Regierungserklärung messen, und dieser Satz heißt: „Ein Land, das sich als Kinderland versteht, nimmt sich selbst in die Pflicht.“ Genau daran werde ich Sie messen. Folgen also den großen Worten, die wir gehört haben, auch große Taten? Wird dieser Bereich als Kernaufgabe des Landes betrachtet, mit durchgreifenden Konzepten? Folgen den Konzepten auch die personellen und finanziellen Ressourcen?

Ich komme zum ersten Punkt, der Kleinkindbetreuung für die Kinder unter drei Jahren. Sie reden von Vereinbarkeit von Familie und Beruf, davon, dass Paaren die Entscheidung für ein Kind erleichtert wird. Dann reden Sie davon, dass sich das Land am qualitativen und quantitativen Ausbau der U-3-Betreuung im Umfang von 10 % beteiligen möchte. Nicht ausreichend ist auf jeden Fall die Förderung für die Tagespflege und die Tagesmütter, denn die Plätze sind für Eltern zu teuer, etwa wenn sie auf dem Land leben und eine Einrichtung in ihrer Nähe benötigen. Hier stehen Sie in der Verantwortung, für die Eltern mehr zu tun. Aber dazu kommt leider nichts Konkretes. Sie reden zwar vom Ausbau, aber benennen kein Ziel für den Ausbau der Kleinkindbetreuung.

Das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf Bundesebene forderte einen bedarfsgerechten Ausbau für 20 % der Kinder unter drei Jahren. In Baden-Württemberg sind wir gegenwärtig bei 4 %, also Schlusslicht in Deutschland. Der Ausbaubedarf ist also enorm. Um 20 % der Kinder eines Jahrgangs zu fördern, sind erhebliche Finanzmittel des Landes notwendig. Sie haben kein Wort dazu gesagt, woher diese Mittel kommen sollen. Wir glauben, dass das Land aufgrund der Haushaltslage Prioritäten setzen muss, und wir können nicht die U-3-Betreuung fördern und gleichzeitig am Landeserziehungsgeld festhalten. Deswegen haben wir den Vorschlag gemacht, dieses Landeserziehungsgeld abzuschmelzen und die eingesparten Mittel in die Kleinkindbetreuung zu geben. Das würde bedeuten, dass dafür 2007 40 Millionen € zur Verfügung stünden.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Theresia Bauer GRÜNE: Das wäre mal was!)

Wir sehen also nicht, dass das, was Sie da tun, auch finanziell ausgewiesen ist, und wir können uns auch nicht vorstellen, dass Sie es auf andere Weise als durch unseren Vorschlag gegenfinanzieren können.

(Abg. Alfred Haas CDU: Da schauen wir mal!)

Ich komme zu dem zweiten Punkt, dem Kindergarten als Bildungseinrichtung, also als „Bildungsgarten“. Es ist klar, auf den Anfang kommt es an. Pädagogen, Lernforscher und die moderne Hirnforschung sind sich einig, dass im frühen Alter die Voraussetzungen für ein lebenslanges Lernen gelegt werden. Wir haben jetzt einen Orientierungsplan für den Kindergarten. Jahrelang ist von verschiedenen Seiten,

unter anderem auch von den Trägern, an der Frage gearbeitet worden: Wie lernen Kinder spielerisch und kindgemäß? Wie lernen sie Sprache, Weltverständnis und Sozialverhalten? Dieser Orientierungsplan liegt nun vor, und wir brauchen lediglich seine flächendeckende Einführung. Entscheidend dafür sind eine gute Fort- und Weiterbildung der Erzieherinnen, ihre wissenschaftliche Begleitung und gegebenenfalls auch die Hinzuziehung von Fachkräften in den Kindergärten selbst. Was tun Sie? Sie installieren eine Doppelstruktur mit Ihrem Projekt „Schulreifes Kind“, dessen Konzept überhaupt nicht vorliegt,

(Abg. Marianne Wonnay SPD: So ist es!)

uns jedenfalls nicht. In Ihrer Regierungserklärung wird es auch gar nicht erläutert. Sie bauen jetzt neben diesem Orientierungsplan eine Doppelstruktur auf. Das halten wir für falsch.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Es fällt Ihnen nie etwas anderes ein, als zu sortieren. Das ist irgendwie ein Gedanke, von dem Sie sich einfach nicht trennen können. Aber wir wissen, dass zum Beispiel gerade die Sprachförderung sehr früh beginnen muss, nämlich im Kindergarteneintrittsalter und nicht erst im letzten Jahr des Kindergartens. Kinder im letzten Kindergartenjahr wieder aus der Gruppe herauszunehmen und getrennt zu behandeln ist also genau der falsche Weg.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Für den Orientierungsplan haben wir 10 plus 10 Millionen € zur Verfügung, nämlich 10 Millionen €, die das Land gibt, und 10 Millionen € von den Kommunen. Für das Projekt „Schulreifes Kind“ sehen Sie im Endausbau 45 Millionen € vor. Das ist eine Fehlallokation von Mitteln in gigantischem Umfang.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Das ist ja nur ein Projekt, das Sie etwas vorschnell in Ihrer ersten Regierungserklärung eingeführt haben. Jetzt wollen Sie unbedingt daran festhalten, obwohl alles dagegen spricht.

Ich fordere Sie auf: Verabschieden Sie sich von diesem Projekt! Die dafür vorgesehenen Mittel müssen für den Orientierungsplan für den gesamten Kindergarten verwendet werden. Das ist der richtige Weg, um die frühkindliche Bildung für alle zu fördern.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Ich komme zum dritten Punkt, den Ganztagsschulen. Sie sagen in Ihrer Regierungserklärung, Ausbau und Weiterentwicklung von Ganztagsschulen seien eine zentrale familienpolitische und bildungspolitische Aufgabe und ein Schwerpunkt. Wir erinnern uns noch gut an die hier gemachten Zwischenrufe: „Freiheitsberaubung!“, „Verstaatlichung der Kinder!“ Als das IZBB-Programm vom Bund kam, sprach die Kultusministerin Schavan von einem „Suppenküchenprogramm“.

(Zuruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)

Da es nun aber mit viel Geld ausgestattet war, haben Sie es dann widerwillig eingeführt,

(Abg. Drexler SPD: Aber widerwillig!)

es aber in einem völlig falschen Verfahren, nämlich dem Windhundverfahren, implementiert, was zur Folge hatte, dass teilweise ausgerechnet die Schulen, die sich um seriöse Konzepte bemüht und länger gebraucht haben, den Kürzeren gezogen haben und die, die schnell zugeschlagen haben, die Mittel genehmigt bekommen haben. So viel Geld auf diese Art und Weise zu verstreuen ist völlig unsinnig. Sie haben das Programm widerwillig angenommen und es dann noch mit Ihren ideologischen Vorbehalten begleitet, mit Äußerungen wie „Freiheitsberaubung“ und Ähnlichem.

Da muss ich jetzt einmal einen kleinen Schlenker machen:

(Heiterkeit der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Wenn die Bezeichnung „Freiheitsberaubung“ für irgendetwas zutrifft, dann ist das das G 8 und die Katastrophe, die Sie mit dessen Einführung provoziert haben. Das G 8 ist natürlich genau die Art von Ganztagsschule, die wir nicht wollen, bei der das Vormittagsprogramm im Verhältnis 1 : 1 auf das Nachmittagsprogramm übertragen wurde, überhaupt nichts an den Lehrplänen gekürzt wurde und jetzt 10- bis 15-jährige Schülerinnen und Schüler eine 45-Stunden-Woche haben.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Ja!)